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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Martina Baier-Hartwig (27. Dezember 1956)

Was sie fühlte und was sie bewegte, darüber redete sie kaum. Sie sprach über den Film, den Urlaub, das Buch, das Essen, wie ihr etwas gefallen, was sie gemacht oder wie es geschmeckt hatte. Tiefer in ihr Inneres ließ sie selten jemanden schauen. Wer sie gut kannte, konnte manchmal ihren Gemütszustand an den Augen erkennen, die strahlten oder traurig waren. Ihr Sohn wusste, dass seine Mutter eigentlich wütend oder besorgt war, wenn sie sehr still wurde. Ihre Schwester mochte hin und wieder spüren, was in Martina vor sich ging.
Andersherum kamen Leute zu Martina, wenn sie ihr Herz ausschütten wollten. Martina hörte zu, gab ab und an einen leisen Ratschlag und behielt das Gesagte für sich. Überhaupt war sie für alle da, für ihre Geschwister, für ihre Kinder, ihren Mann, ihre Freunde und auch für die Frauen aus der evangelischen Frauengruppe, für den Freundinnenkreis aus der Schule, für die Kinder aus dem Turnverein Martina war so etwas wie ein Bindeglied, ein Scharnier, denn sie war immer damit beschäftigt, alle und alles zusammenzuhalten. „Dass sie unsere Familie verbunden hat, verstehe ich erst jetzt so richtig“, sagt ihr Sohn.
Ina, so wurde sie genannt, war ein Sandwichkind. Der ältere Bruder und die jüngere Schwester waren lauter und fordernder als sie. Martina, blond und blauäugig und zart, war die Stille und Brave, las ein Buch nach dem anderen und half der Mutter im Schrebergarten. In Reinickendorf lebten sie. Taschengelderhöhungen forderte die jüngere Schwester für sie ein. Als Martina zehn war, meldete die Mutter die beiden im Turnverein an. Während die Kleinere irgendwann genug hatte, wurde Martina Vorturnerin für die jüngeren Kinder.
14 war Martina, als sie auf die Schulparty ging, 16 war Dieter, als er sie dort sah. Er fragte, ob er mit ihr tanzen dürfe. Eigentlich mochte sie das gar nicht, vor anderen tanzen und damit so im Mittelpunkt stehen. Aber für Dieter sagte sie ja. Sie tanzten dann den ganzen Abend, bis Martina nach Hause musste, pünktlich um 22 Uhr. Dieter holte sie samstags von der Schule ab. Dann führte er sie in eine Disco aus und sie wurden ein Paar. Den Eltern von Martina gefiel das nicht. Er war ihnen zu alt und sie zu jung.
Dieter aber zeigte ihr die Welt. Als sie 18 war, fuhren sie in seinem Käfer nach Schweden, nach Amsterdam, nach Griechenland. Sie schliefen im Auto oder unterm Sternenhimmel.
Grundschullehrerin wollte Martina werden. Für Kinder da sein, das konnte sie sich gut vorstellen. Als die Abschlussprüfungen anstanden, kam allerdings einiges zusammen: Ihr Vater starb, eine Woche bevor sie und Dieter heiraten wollten. Kurz darauf kam ihre Tochter auf die Welt. Und Martina war für alle da. Fürs Baby, für ihre trauernden Geschwister, für ihre Mutter, die nun alleine war. An Martina duften sich alle anlehnen. Und sie - fiel zweimal bei einer Prüfung durch. Ein Professor empfahl, dass sie doch besser zu Hause bei ihrem Baby bleiben solle. Da gab sie das Lehrerstudium auf und wechselte zur Bibliothekswissenschaft. Das schloss sie auch ab, doch erhielt sie Absagen auf ihre Bewerbung. So blieb sie Hausfrau. Dieter arbeitete als Ingenieur bei Siemens.
Ihr Sohn kam auf die Welt, da war Martina 30 Jahre alt. Sie genoss es, sich um beide Kinder kümmern zu können. Sie kochte für sie, malte und bastelte, ging mit ihnen ins Gripstheater. Als sie dann von der Wohnung in ein Reihenhaus zogen mit großem Garten, schien die Idylle perfekt.
Nur dass die Idylle nicht perfekt war. Da war Dieter, der das Geld verdiente und dafür sein Leben lang in einem Job feststeckte, der ihn nicht erfüllte. Seine Unzufriedenheit ließ er die ganze Familie spüren. Martinas Geschwister verbrachten viel Zeit bei ihr und beäugten Dieter mit Argwohn. Sie versuchte weiter, alle Fäden zusammenzuhalten, über die Mühen sprechen konnte sie aber nicht. Waren ja ihre und nicht die der anderen. Als die Kinder älter wurden, brauchten sie erst einmal Abstand und meldeten sich kaum noch. Was Martina sehr bekümmerte.
Für ihren alten Sportverein baute sie das umfangreiche Fitnesskursprogramm auf und turnte selber mit Kitakindern. Im Familienzentrum gab sie Kochkurse für Kleine. Sie überzeugte alle, dass selbst Sellerie und Hirse-Bolognese gar nichts Schlimmes sind. Sie baute einen vegetarischen Cateringservice auf, mit dem sie Feste und Feiern belieferte. Schließlich half sie ihrer Schwester in deren Weincafé, sie organisierte das Kirchencafé, sang im Chor und hatte ihre wöchentliche Frauengruppe. Vielen Menschen bedeutete sie etwas. Und zu allen Zusammenkünften brachte sie Blumen aus ihrem Garten mit.
Im Garten war sie bei sich. Sie genoss, wie er blühte und duftete, wie er Kürbisse, Erdbeeren und Kartoffeln hervorbrachte, die sie gesät hatte. Ihre Tage begann sie um 6.45 Uhr mit einer Joggingrunde und beendete sie mit einem Buch. Wenn ihr ein Gedanke gefiel, notierte sie ihn in eins ihrer Hefte. Sie war eine Prosa-Sammlerin.
Es vergingen die Jahre und langsam, langsam begann sich die Familienkonstellation einzurenken. Mit Dieter unternahm sie viele Reisen. Sie fuhren nach New York, nach Italien. Dafür suchte sie immer schon vorher die Restaurants heraus, die sie besuchen wollten. Das war eine schöne Zeit, die sie nur für sich hatten. Als er nicht mehr arbeiten musste und in Rente war, gingen sie morgens gemeinsam joggen. Ihr Sohn, Musiker, lud sie endlich zu einem seiner Konzerte ein. Auch wenn es nicht ihre Musik war, war sie in dem Moment unendlich stolz. Als er dann das erste Mal mit seiner Ziehtochter in ihrem Garten stand, durfte sie Oma sein. Worte, die sie nie gefunden hatte, waren jetzt gar nicht mehr nötig. Dann bekam auch ihre Tochter einen Sohn und stand irgendwann mit ihm in Martinas Garten. „Ich bin sehr froh, dass es die Erlebnisse zwischen uns noch gab“, sagt ihr Sohn.
Im Spätsommer bekam Martina furchtbare Rückenschmerzen. Im Krankenhaus diagnostizieren sie Bauchspeicheldrüsenkrebs. Von Woche zu Woche ging es ihr schlechter. Ein Schlaganfall kam dazu. Alles passierte so schnell. Als sie starb, waren alle noch einmal bei ihr, ein jeder mit seinen eigenen Gedanken, Gefühlen und Widersprüchlichkeiten. Karl Grünberg