Nachruf auf Manfred Banse (* am 21. Mai 1939)
Nun sitzt er hier allein. Raucht seine Zigaretten, eine nach der anderen. Erst reißt er den Filter ab, bevor er sie anzündet. Manfred hat auch geraucht, aber mit Filter. Manfred sagte immer zu ihm, er solle die Filter nicht abreißen. Ich rauche doch schon 40 Jahre ohne Filter, antwortete er dann. „Das einzige Vergnügen, was man noch so hat.“
Manfred fehlt ihm jeden Tag, das Loch, das er vor einem knappen Jahr hinterlassen hat, scheint eher größer als kleiner zu werden. Manfred Banse, B-a-n-s-e, er buchstabiert den Namen zur Sicherheit noch mal, „mein bester Freund“. Hier, in einer psychiatrischen Einrichtung im grünen Südwesten Berlins, haben sie sich ein Zimmer geteilt. Er selbst war mal obdachlos. Und Manfred? „Der hatte psychische Probleme. Eine psychische Störung. Aber für mich war er nicht gestört.“
Viel Zeit verbrachten sie hier draußen unter den Schirmen, an den schwarzen Tischen vorm Haupteingang der Einrichtung. Nun ist der Stuhl neben ihm leer, und wenn die Zigarette runterbrennt, merkt er es kaum, die Haut an Zeige- und Mittelfinger ist sichtbar an Glut und Asche gewöhnt. Die Asche fällt ihm auf die Schlafanzughose, es stört ihn nicht. Um den Hals trägt er eine grüne Perlenkette.
Kennengelernt haben sie sich in einem anderen Heim, in Lichterfelde, vor zehn Jahren. Ob er ein wenig über Manfreds Leben erzählen kann? Pause. „Er war mein bester Freund.“ Ein bisschen kriegt er zusammen. Manfred kam aus Heinrichswalde. In Mecklenburg-Vorpommern? Nein, bei Königsberg, Ostpreußen. 1939 geboren, wenn seine Rechnung stimmt. Denn „Manfred hatte immer am 21. Mai Geburtstag“, und er ist 81 Jahre alt geworden. Auf einem Bauernhof verbrachte er die ersten Jahre, dann der Krieg, Manfred kam mit den Eltern nach Berlin. Moabit wurde seine Heimat.
Auf einem ihrer Ausflüge zeigte Manfred dem Freund das Haus in der Levetzowstraße, in dem er als Kind gewohnt hatte. Sie unternahmen viel zusammen, immer nach dem Mittagessen fuhren sie mit dem Bus irgendwohin. Die letzten Jahre schob Manfred den Freund im Rollstuhl. Oft gingen sie in ein französisches Café in Lankwitz oder in ein Kirchencafé in Tempelhof. „Wir waren immer sehr arm. Hatten ja nur unser Taschengeld.“ Fünf Euro die Woche, später immerhin 20. Für Kaffee und Zigaretten hat's gereicht.
Jeden Sonntag gingen sie zusammen in die Baptistenkirche in Wannsee. Ob er selbst auch gläubig ist? „Ja, ich glaube an Gott. Und an Jesus.“ Am Nebentisch nickt ein Mitbewohner anerkennend: „Bravo!“ Dass Manfred „friedlich“ war, das mochte er besonders an ihm. In zehn Jahren haben sie nicht einmal gestritten. Und sie hatten sich immer etwas zu erzählen. Manfred erzählte von seiner Heimat, seinen Kindern, seinen Jobs. Er hatte verschiedene, als Stapelfahrer etwa. Vor allem aber arbeitete er als Lastwagenfahrer, fuhr Frischfleisch durch die Gegend.
Ein abgegriffenes Fotoalbum liegt zwischen Aschenbecher und Kippenpackung auf dem Tisch, der Freund zeigt Bilder. Manfred und er im Heim vor Tannenzweig und Thermoskanne, in irgendeinem Advent. Manfred und er auf irgendeiner Straße, schon ein paar Jahre her. Gut sehen sie da aus. Zwei Männer, so wirken sie, die schon einiges durchhaben und die sich gegenseitig vertrauen. Manfred mit kurzem weißem Haar, Brille auf der Nasenspitze, zwei Kulis in der Brusttasche des schwarzen Jacketts, darunter ein Pullunder. Immer legt der Freund seinen Arm um Manfred. „Mein bester Freund“, sagt er wieder, mehr zu sich selbst. „Den muss man festhalten.“
Wieder kommt einer in den Garten, setzt sich, um eine zu rauchen, schweigend neben die anderen. Gemeinsam einsam. „Hier, guck ma“, er hält ihm ein Bild von sich und Manfred vors Gesicht. „Ja ja, schön, ja.“ - „Manfred Banse!“ - „Ick weiß, ja.“ - „Mein bester Freund.“ Der andere guckt weg, raucht weiter. Ein anderer kommt am Tisch vorbei. „Morgen Olaf, haste 'n Kaffe für mich?“ - „Haste denn 'ne Tasse?“ - „Ja hier, nimm die. Kannste auskippen, der is' kalt. Is' nich' von mir jewesen. Tasse kannste sonst ooch behalten, du hast doch nie 'ne Tasse.“
Auf einem anderen Bild tanzt Manfred etwas verkniffen mit einer ebenfalls etwas verkniffenen Mitbewohnerin. Nahtanz in der Heimdisko, sie gucken so weit weg voneinander wie möglich. Manfreds imaginäre Traumfrau sah auch ganz anders aus, weiß der Freund: Blonde Locken, das war wichtig. So wie seine Exfrau, von der er seit Jahrzehnten geschieden war und zu der er keinen Kontakt hatte. Ebenso wenig wie zu seinen drei Kindern.
Zwischen die Albumfotos hat jemand viele Glückwunschkarten in die Plastelaschen geschoben. Er holt sie alle einzeln raus. Blumenbuketts, auch mal ein Tierbaby, goldene Schriftzüge, zittrige Handschriften. „Lieber Herr Banse, ich wünsche Ihnen zu Ihrem Geburtstag alles Gute und vor allem immer beste Gesundheit. Verbringen Sie einen schönen Tag, viele Grüße“, Absender nicht entzifferbar.
Auch seine eigene, letzte Geburtstagskarte an Manfred ist dabei: „Lieber Manfred, alles Gute zum Geburtstag. Ich wünsche dir viel Glück und vor allem Gesundheit für das kommende Jahr. Ich drücke dir die Daumen, eine super Frau kennenzulernen, hoffentlich gläubig, vielleicht in der Kirche. Ich helfe dir, deinen Führerschein zu bekommen, dann kannst du bestimmt einmal mit Giselas Auto fahren.“
„Gisela ist meine Freundin“, sagt er. „Die hat ein Auto und ein Haus und ist Sängerin.“ Manfred hatte auch mal eine, im vorigen Heim. Von der er dann aber doch nicht so begeistert war. Seinen Führerschein hatte Manfred verloren oder verlegt, jedenfalls war er nicht mehr zu finden. Aber er wollte unbedingt wieder Auto fahren. Davon sprach er ständig. Es hat nur nicht mehr geklappt.
Er kann gar nicht fassen, dass Manfred tot ist. Er ertappt sich oft dabei, wie er mit ihm redet. Der neue Zimmernachbar redet nicht mit ihm. „Kann irgendwie nicht.“
Zwei Wochen lag Manfred im vergangenen Winter im Krankenhaus, hatte Corona, kam kurz vor Weihnachten wieder, aber er behielt einen starken Husten. „An dem Husten ist er erstickt“, sagt er, er war dabei. „Es war furchtbar, ich habe einen Weinkrampf gekriegt.“ Er reißt den Filter von der nächsten Zigarette. „Er war doch mein bester Freund.“ Constanze Nauhaus
Manfred fehlt ihm jeden Tag, das Loch, das er vor einem knappen Jahr hinterlassen hat, scheint eher größer als kleiner zu werden. Manfred Banse, B-a-n-s-e, er buchstabiert den Namen zur Sicherheit noch mal, „mein bester Freund“. Hier, in einer psychiatrischen Einrichtung im grünen Südwesten Berlins, haben sie sich ein Zimmer geteilt. Er selbst war mal obdachlos. Und Manfred? „Der hatte psychische Probleme. Eine psychische Störung. Aber für mich war er nicht gestört.“
Viel Zeit verbrachten sie hier draußen unter den Schirmen, an den schwarzen Tischen vorm Haupteingang der Einrichtung. Nun ist der Stuhl neben ihm leer, und wenn die Zigarette runterbrennt, merkt er es kaum, die Haut an Zeige- und Mittelfinger ist sichtbar an Glut und Asche gewöhnt. Die Asche fällt ihm auf die Schlafanzughose, es stört ihn nicht. Um den Hals trägt er eine grüne Perlenkette.
Kennengelernt haben sie sich in einem anderen Heim, in Lichterfelde, vor zehn Jahren. Ob er ein wenig über Manfreds Leben erzählen kann? Pause. „Er war mein bester Freund.“ Ein bisschen kriegt er zusammen. Manfred kam aus Heinrichswalde. In Mecklenburg-Vorpommern? Nein, bei Königsberg, Ostpreußen. 1939 geboren, wenn seine Rechnung stimmt. Denn „Manfred hatte immer am 21. Mai Geburtstag“, und er ist 81 Jahre alt geworden. Auf einem Bauernhof verbrachte er die ersten Jahre, dann der Krieg, Manfred kam mit den Eltern nach Berlin. Moabit wurde seine Heimat.
Auf einem ihrer Ausflüge zeigte Manfred dem Freund das Haus in der Levetzowstraße, in dem er als Kind gewohnt hatte. Sie unternahmen viel zusammen, immer nach dem Mittagessen fuhren sie mit dem Bus irgendwohin. Die letzten Jahre schob Manfred den Freund im Rollstuhl. Oft gingen sie in ein französisches Café in Lankwitz oder in ein Kirchencafé in Tempelhof. „Wir waren immer sehr arm. Hatten ja nur unser Taschengeld.“ Fünf Euro die Woche, später immerhin 20. Für Kaffee und Zigaretten hat's gereicht.
Jeden Sonntag gingen sie zusammen in die Baptistenkirche in Wannsee. Ob er selbst auch gläubig ist? „Ja, ich glaube an Gott. Und an Jesus.“ Am Nebentisch nickt ein Mitbewohner anerkennend: „Bravo!“ Dass Manfred „friedlich“ war, das mochte er besonders an ihm. In zehn Jahren haben sie nicht einmal gestritten. Und sie hatten sich immer etwas zu erzählen. Manfred erzählte von seiner Heimat, seinen Kindern, seinen Jobs. Er hatte verschiedene, als Stapelfahrer etwa. Vor allem aber arbeitete er als Lastwagenfahrer, fuhr Frischfleisch durch die Gegend.
Ein abgegriffenes Fotoalbum liegt zwischen Aschenbecher und Kippenpackung auf dem Tisch, der Freund zeigt Bilder. Manfred und er im Heim vor Tannenzweig und Thermoskanne, in irgendeinem Advent. Manfred und er auf irgendeiner Straße, schon ein paar Jahre her. Gut sehen sie da aus. Zwei Männer, so wirken sie, die schon einiges durchhaben und die sich gegenseitig vertrauen. Manfred mit kurzem weißem Haar, Brille auf der Nasenspitze, zwei Kulis in der Brusttasche des schwarzen Jacketts, darunter ein Pullunder. Immer legt der Freund seinen Arm um Manfred. „Mein bester Freund“, sagt er wieder, mehr zu sich selbst. „Den muss man festhalten.“
Wieder kommt einer in den Garten, setzt sich, um eine zu rauchen, schweigend neben die anderen. Gemeinsam einsam. „Hier, guck ma“, er hält ihm ein Bild von sich und Manfred vors Gesicht. „Ja ja, schön, ja.“ - „Manfred Banse!“ - „Ick weiß, ja.“ - „Mein bester Freund.“ Der andere guckt weg, raucht weiter. Ein anderer kommt am Tisch vorbei. „Morgen Olaf, haste 'n Kaffe für mich?“ - „Haste denn 'ne Tasse?“ - „Ja hier, nimm die. Kannste auskippen, der is' kalt. Is' nich' von mir jewesen. Tasse kannste sonst ooch behalten, du hast doch nie 'ne Tasse.“
Auf einem anderen Bild tanzt Manfred etwas verkniffen mit einer ebenfalls etwas verkniffenen Mitbewohnerin. Nahtanz in der Heimdisko, sie gucken so weit weg voneinander wie möglich. Manfreds imaginäre Traumfrau sah auch ganz anders aus, weiß der Freund: Blonde Locken, das war wichtig. So wie seine Exfrau, von der er seit Jahrzehnten geschieden war und zu der er keinen Kontakt hatte. Ebenso wenig wie zu seinen drei Kindern.
Zwischen die Albumfotos hat jemand viele Glückwunschkarten in die Plastelaschen geschoben. Er holt sie alle einzeln raus. Blumenbuketts, auch mal ein Tierbaby, goldene Schriftzüge, zittrige Handschriften. „Lieber Herr Banse, ich wünsche Ihnen zu Ihrem Geburtstag alles Gute und vor allem immer beste Gesundheit. Verbringen Sie einen schönen Tag, viele Grüße“, Absender nicht entzifferbar.
Auch seine eigene, letzte Geburtstagskarte an Manfred ist dabei: „Lieber Manfred, alles Gute zum Geburtstag. Ich wünsche dir viel Glück und vor allem Gesundheit für das kommende Jahr. Ich drücke dir die Daumen, eine super Frau kennenzulernen, hoffentlich gläubig, vielleicht in der Kirche. Ich helfe dir, deinen Führerschein zu bekommen, dann kannst du bestimmt einmal mit Giselas Auto fahren.“
„Gisela ist meine Freundin“, sagt er. „Die hat ein Auto und ein Haus und ist Sängerin.“ Manfred hatte auch mal eine, im vorigen Heim. Von der er dann aber doch nicht so begeistert war. Seinen Führerschein hatte Manfred verloren oder verlegt, jedenfalls war er nicht mehr zu finden. Aber er wollte unbedingt wieder Auto fahren. Davon sprach er ständig. Es hat nur nicht mehr geklappt.
Er kann gar nicht fassen, dass Manfred tot ist. Er ertappt sich oft dabei, wie er mit ihm redet. Der neue Zimmernachbar redet nicht mit ihm. „Kann irgendwie nicht.“
Zwei Wochen lag Manfred im vergangenen Winter im Krankenhaus, hatte Corona, kam kurz vor Weihnachten wieder, aber er behielt einen starken Husten. „An dem Husten ist er erstickt“, sagt er, er war dabei. „Es war furchtbar, ich habe einen Weinkrampf gekriegt.“ Er reißt den Filter von der nächsten Zigarette. „Er war doch mein bester Freund.“ Constanze Nauhaus