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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Bernd Lüdicke (* am 23. März 1954)

Die Mauer steht jetzt zehn Jahre. Bernd ist 18. Gerade mal volljährig, aber längst kein Kindskopf mehr. Unerfahren, viel zu unvorsichtig bestimmt, aber nicht ahnungslos. Er formuliert präzise, was seiner Ansicht nach falsch läuft: „Wenn die DDR sagt, sie sei ein sozialistischer Staat, dann darf sie sich nicht einmauern, sondern muss offen sein. Damit die Leute, die nicht in diesem Land leben, sehen können, wie gut es hier ist.“
Doch seine Position leise formulieren, hinter vorgehaltener Hand, wie die meisten es tun, reicht ihm nicht. Er schreibt sie auf, besorgt sich einen Kinderdruckbaukasten und vervielfältigt zwei Flugblätter: „Arbeiter, wacht auf aus dem Herrschaftstraum“ und „10 Jahre Schüsse an der Mauer - Friedenspolitik der DDR“.
Er ist nicht allein, ein paar Freunde machen mit. Der weitere Plan: die Zettel in Briefkästen werfen, an Bekannte verteilen und, als Höhepunkt, die Scholl-Geschwister imitierend, im Treppenhaus der Humboldt-Universität von hoch oben auf die Köpfe der Studenten herabfliegen lassen. Aber die Staatsmacht beobachtet ihn schon eine Weile. Und hat überall ihre Zuträger. Einer von ihnen ist Mitglied der kleinen Flugblatttruppe. Er meldet die bevorstehende Aktion.
Am 13. August 1971 die Festnahme, acht Monate später das Urteil: drei Jahre und zwei Monate Haft wegen „mehrfacher staatsfeindlicher Hetze“. Zuerst sitzt Bernd im Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Hohenschönhausen, dann wird er verlegt nach Torgau und Cottbus. Seine rebellische Haltung gibt er nicht auf. Weigert sich, die Haare schneiden zu lassen. Bringt zu Weihnachten einen selbstgebastelten Christbaum aus Silberpapier an seinem Bett an: ein „Verstoß gegen die Anstaltsordnung“. Er muss in Einzelhaft, muss auf dem Steinfußboden schlafen. Heimweh hat er sowieso.
Auch wenn sich dort, zu Hause, einer der Gründe für seine Auflehnung befindet. Sein Vater, Kriminalpolizist und SED-Mitglied, stimmt den Zielen der DDR und ihrer Umsetzung vollkommen zu. Der Sohn passt nicht in sein Weltbild. Und der Sohn kann nicht verstehen, dass der Vater das Unrecht nicht sehen will. Trotzdem ist es ja sein Vater. Die Mutter hält zu ihm. Sie versucht, ihren Sohn im Gefängnis zu besuchen, vergeblich, sie wird nicht zu ihm vorgelassen.
1973 kauft die Bundesrepublik Bernd frei. Er geht nach West-Berlin, möchte so nah wie möglich an seine einstige Welt heran. Denn das Heimweh bleibt. Er spielt sogar kurz mit dem Gedanken, einen Einbürgerungsantrag für die DDR zu stellen, was natürlich Unsinn ist, er weiß das.
Er fasst Pläne, ein ganzes Leben liegt ja noch vor ihm. In der DDR hatte er nach der zehnten Klasse eine Kochlehre im Ratskeller des Roten Rathauses gemacht. Jetzt will er sein Abitur nachholen. Findet ein Gymnasium, das Russisch als Fremdsprache anbietet, ein Anknüpfungspunkt an das noch nicht lang Zurückliegende, denkt er. Setzt sich, etwas älter schon als die anderen, in die Klasse und gerät immer wieder mit diesem einen Lehrer aneinander, der unverhohlen seinen Altnazigeist über den Schülern ausschüttet. Bernd hält es nicht aus, das zumindest, weiß er, wäre in der DDR nicht möglich. Er bricht die Schule ab. Und versucht immer wieder, ein Besuchsvisum für Ost-Berlin zu bekommen. Bis sie ihn reinlassen. Mal fährt er allein in die elterliche Wohnung in Friedrichshain, mal zusammen mit zwei West-Berliner Freunden. Seine Eltern, sein älterer Bruder, seine jüngere Schwester und die Freunde sitzen dann um den Kaffeetisch und bemühen sich um eine unverkrampfte Konversation. Nur wenn die Freunde dabei sind, ist es der Vater auch. Kommt Bernd allein, lässt er sich nicht blicken, nach der Inhaftierung des Sohnes hat man ihm nahegelegt, die Kriminalpolizei zu verlassen, er arbeitet jetzt irgendwo in der Datenverarbeitung. Dem Staat hält er weiterhin die Treue.
Ab und an, wenn Bernd rüber darf, spaziert er mit seiner jüngeren Schwester durch den Treptower Park, Hand in Hand laufen sie die Wege entlang, er erzählt aus seiner Welt, sie aus ihrer. Für seinen Bruder bringt er Platten mit, der besorgt ihm dafür Bücher von Karl Marx.
Bernd sucht sich einen Hilfsjob in der Druckerei des Ullsteinhauses. Dort versprechen sie ihm, er könne demnächst eine Lehre beginnen, aber jahrelang passiert nichts. Bis die Druckerei schließt. Er bekommt zeitweise Arbeitslosengeld, arbeitet dann hart auf dem Bau, obwohl er schmal ist wie ein Hemd, und putzt schließlich, 15 Jahre lang, die Kneipe Zum Elefanten am Heinrichplatz. Steht früh um fünf, um sechs, um sieben im Lokal und „wischt“, wie ein Freund sagt, „die Scheiße der Kreuzberger Trinker weg“. Aber das bekümmert ihn nicht, irgendjemand muss ja saubermachen, es ist eine Arbeit, wie andere auch, ohne akademisches Prestige, doch kann nicht jeder Arzt, Architekt oder Anwalt sein. Außerdem sitzen im Elefanten auch ausgesprochen angenehme Menschen.
Bernd putzt, und er liest viel. In seinem Bücherregal stehen mathematische und astronomische Werke. Er beschäftigt sich eingehend mit den beiden deutschen Diktaturen. Fährt mit Freunden ins Ghetto nach Lódz. Besucht nach der Wende die Gedenkstätte in Hohenschönhausen. Alles ist sofort wieder präsent, er, der blasse Junge in der Haft, seine Zwangsausbürgerung, die Trennung von der Familie. Er beantragt seine Stasiakte, schleppt tütenweise Akten nach Hause und stellt fest, dass sie ihn auch in West-Berlin nicht aus den Augen gelassen haben.
Noch vor der Wende ist sein Vater krankt geworden. Jeden Tag hat Bernd die 25 Mark Zwangsumtausch geleistet, jeden Tag ist er über die Grenze, jeden Tag saß er am Bett des Vaters. Sie sprachen miteinander, sie haben sich versöhnt.
„Bernd war ein nicht zu vereinnahmender, heller, anarchischer Kopf“, sagt ein Freund, „aber die biografischen Brüche haben ihn mehr geschädigt, als er dachte.“ Eine Freundin sagt: „Er war psychisch äußerst stabil, lebenslustig, kannte tausend Leute, hatte tausend Ideen.“
In den letzten Jahren ist sein Radius enger geworden. Er war lungenkrank, musste ständig an ein Sauerstoffgerät. Er sprach mit einer Freundin übers Sterben, lachte und sagte: „Auf keinen Fall will ich eine große Beerdigung. Wenn ich tot bin und einer nach mir fragt, dann grüß ihn schön von mir.“ Tatjana Wulfert