Nachruf auf Helga Schlüter (* am 15. Dezember 1924)
Wenn ihr Mann Günther etwas wollte, einen Kaffee zum Beispiel, sagte er zu ihr: „Helgachen, machste mal?“ Und Helgachen machte. Waschen, einkaufen, immer frisch kochen, putzen, die Eule mit Mäusen füttern. Helgachen war zur Stelle, hatte alles im Blick, plante im Voraus für ihren Mann, für die zwei Jungs und dann für sich. Sie hörte zu, wenn ihr Mann das Wort führte und die Themen aufbrachte. Sie nahm es hin, dass es um seine Hobbys und seine Leidenschaften ging, wenn er bestimmte, wo sie im Urlaub hinfuhren. Er war halt so, die Zeit war halt so, damals in den 50er und 60er Jahren. Wenn Helga mal ihre Ruhe brauchte, zog sie sich in die winzige Küche zurück.
Und war Helga deswegen niedergeschlagen? Manchmal sicherlich. Aber anzumerken war ihr das nie. Stattdessen hatte sie sich eine Unerschütterlichkeit zugelegt und eine Fröhlichkeit. Für jede Gelegenheit hatte sie einen Spruch parat, ob Ringelnatz, Busch oder Zille, sie kannte sie alle. Wenn einer etwas Unsinniges machte: „Jeder spinnt auf seine Weise, der eine laut, der andere leise.“ Wenn ihr die Söhne wegen der Raucherei ins Gewissen redeten: „Räucherware hält länger.“ Für die Söhne brachte sie alle Liebe der Welt auf. Sie wurden groß und stark und gingen selbstbewusst in die Welt hinaus.
Manchmal aber, wenn es wirklich wichtig war, dann widersetzte sie sich. Als das Geld knapp wurde zum Beispiel. Das lag nicht daran, dass Günther zu wenig verdiente. Als Statiker hatte er genug zu tun. Er bemaß das Haushaltsgeld nur äußerst knapp. Lieber kaufte er alte Münzen oder Bücher über die griechische Antike. Da entschied Helga, dass es Zeit war, selbst wieder arbeiten zu gehen. Er war natürlich dagegen. Wer weiß, was für andere Männer sie dort kennenlernen würde. Schließlich war sie mit ihren blonden Haaren und ihrer Fröhlichkeit sehr attraktiv! Sie stellte ihn vor die Wahl: Entweder du rückst mehr Geld raus, oder ich muss dazuverdienen
Sie fing in einem Reisebüro an, dann in der West-Berliner Außenstelle des „Internationalen Buchversands“. Über den verkaufte die DDR ihre Bücher in die Bundesrepublik. Politisch war Helga eher auf SPD-Linie, für die kleinen Leute auf jeden Fall und gegen Ungerechtigkeit. Ihr Vater war in der Weimarer Republik Redakteur einer sozialistischen Arbeiterzeitung gewesen. Nach dem Krieg hatte er gemeinsam mit Helga eine Buchhandlung aufgemacht, direkt am Rathaus Neukölln. Er organisierte im Hintergrund, sie war die gute Seele des Geschäfts.
Da hatte sie auch Günther kennengelernt. Verletzt war er aus dem Krieg zurückgekehrt und verdingte sich als fliegender Bücherverkäufer. Er sammelte auf den Straßen von Berlin alles Lesbare zusammen, was er finden konnte und verkaufte es an die Buchhandlungen. In Helga verliebte er sich sofort. Auf dem Hochzeitsfoto sieht sie glücklich aus. Nur ihre Mutter fehlte bei der Zeremonie, sie war gegen die Verbindung.
Günther engte Helga ein, und gleichzeitig nahm er sie mit in die weite Welt. 1956 kauften sie sich einen nagelneuen Käfer, den mit der ovalen Heckscheibe, Kennzeichen: B-EW 136. Da stopften sie alles rein, Kinder und Koffer und fuhren in den Süden: Frankreich, Italien, Jugoslawien, Griechenland, Türkei. Später flogen sie in den Libanon und nach Ägypten. Einmal eskalierte es an der DDR-Grenze. Günther wurde wütend, der Wachtposten richtete sein Gewehr auf ihn. Helga entschärfte die Situation. Von da an übernahm sie die Kommunikation mit den Grenzern.
In Athen, am antiken Turm der Winde, bekam einer der Jungs von einem Jäger eine kleine Eule geschenkt, einen lebendigen Steinkauz, der am Flügel verletzt war. Den nehmen wir mit, bestimmte der Vater. Die restlichen Urlaubswochen trug Helga das Tier in ihrer braunen Umhängetasche durch die Gegend. Zurück in Berlin, kam es in einen Papageienkäfig, wurde von Helga mit Mäusen gefüttert und erfüllte die Neuköllner Wohnung mit seinen Schreien. Später kamen noch ein Turmfalke und ein syrischer Igel dazu. Der Vater entwickelte eine tierische Sammelleidenschaft, Elstern, Dompfaffe, später Katzen. Helga fütterte sie und machte den Dreck weg.
Als ihr Mann krank wurde, ein Hirntumor, pflegte sie ihn monatelang. Er schrie vor Schmerzen und konnte nicht mehr damit aufhören. Als er schließlich ins Krankenhaus musste, ging sie mit, war an seiner Seite, hielt seine Hand, bis er starb. Ende der 80er war das.
Für Helga begann ein neues Leben. Sie musste lernen, sie selbst zu sein. Sie musste herausbekommen, was es genau war, das sie wollte. Statt antiker Münzen sammelte sie kleine, lustige Figuren, die sich bewegten, wenn man sie aufzog oder anstupste, einen Papageien zum Beispiel, der an einer Spirale rauf und runter turnte. Statt in ein Land mit antiken Tempeln zu fahren, besuchte sie ihren großen Sohn in Tansania oder reiste mit ihm nach Kuba.
Und sie hatte Freunde. Als sie noch arbeitete und der jüngere Sohn sie ab und an vom Büro abholte, fiel ihm auf, dass dort, wo Helga war, immer alle lachten, dass alle um Helga kreisten. Ihm gefiel das. Und jetzt hatte sie einen Kreis älterer Herrschaften, mit denen sie ehrenamtlich den Museumsladen des Ägyptischen Museums organisierte, jahrzehntelang. Mit ihnen ging sie ins Theater und in Ausstellungen. Doch eines fiel einer alten Freundin auf: Man konnte sich wunderbar von ihr unterhalten lassen, das hatte sie von ihrem Mann übernommen, aber in ihre Seele ließ sie niemanden blicken. Da war eine Schranke, die sich nie öffnete. Später, als sie sich mal das Bein gebrochen hatte und eine Zeit lang kaum bewegen konnte, hatte sie feste Telefontermine. An dem einen Tag telefonierte sie mit dem einsamen schwulen Witwer. Am anderen mit der Witwe des Münzhändlers ihres Mannes.
Zu ihrem Sohn nach Bayern wollte sie nicht. Sie wollte in ihrer Wohnung bleiben, in Charlottenburg, in der sie seit 1963 wohnte. Die Wohnung war mehr und mehr zu einem Museum geworden, mit all den Büchern, den Münzen, den Bildern und Figuren. Hier wurde sie älter und älter. Einen Tag vor ihrem Tod trank sie noch ein Glas Rotwein. Eine Stunde vor ihrem Tod zog sie das letzte Mal an einer Zigarette. Kurz bevor sie starb, sagte sie, frei nach Wilhelm Busch: „Nun hat die liebe Seele ihre Ruh / Ratsch, man zieht den Vorhang zu.“ Karl Grünberg
Und war Helga deswegen niedergeschlagen? Manchmal sicherlich. Aber anzumerken war ihr das nie. Stattdessen hatte sie sich eine Unerschütterlichkeit zugelegt und eine Fröhlichkeit. Für jede Gelegenheit hatte sie einen Spruch parat, ob Ringelnatz, Busch oder Zille, sie kannte sie alle. Wenn einer etwas Unsinniges machte: „Jeder spinnt auf seine Weise, der eine laut, der andere leise.“ Wenn ihr die Söhne wegen der Raucherei ins Gewissen redeten: „Räucherware hält länger.“ Für die Söhne brachte sie alle Liebe der Welt auf. Sie wurden groß und stark und gingen selbstbewusst in die Welt hinaus.
Manchmal aber, wenn es wirklich wichtig war, dann widersetzte sie sich. Als das Geld knapp wurde zum Beispiel. Das lag nicht daran, dass Günther zu wenig verdiente. Als Statiker hatte er genug zu tun. Er bemaß das Haushaltsgeld nur äußerst knapp. Lieber kaufte er alte Münzen oder Bücher über die griechische Antike. Da entschied Helga, dass es Zeit war, selbst wieder arbeiten zu gehen. Er war natürlich dagegen. Wer weiß, was für andere Männer sie dort kennenlernen würde. Schließlich war sie mit ihren blonden Haaren und ihrer Fröhlichkeit sehr attraktiv! Sie stellte ihn vor die Wahl: Entweder du rückst mehr Geld raus, oder ich muss dazuverdienen
Sie fing in einem Reisebüro an, dann in der West-Berliner Außenstelle des „Internationalen Buchversands“. Über den verkaufte die DDR ihre Bücher in die Bundesrepublik. Politisch war Helga eher auf SPD-Linie, für die kleinen Leute auf jeden Fall und gegen Ungerechtigkeit. Ihr Vater war in der Weimarer Republik Redakteur einer sozialistischen Arbeiterzeitung gewesen. Nach dem Krieg hatte er gemeinsam mit Helga eine Buchhandlung aufgemacht, direkt am Rathaus Neukölln. Er organisierte im Hintergrund, sie war die gute Seele des Geschäfts.
Da hatte sie auch Günther kennengelernt. Verletzt war er aus dem Krieg zurückgekehrt und verdingte sich als fliegender Bücherverkäufer. Er sammelte auf den Straßen von Berlin alles Lesbare zusammen, was er finden konnte und verkaufte es an die Buchhandlungen. In Helga verliebte er sich sofort. Auf dem Hochzeitsfoto sieht sie glücklich aus. Nur ihre Mutter fehlte bei der Zeremonie, sie war gegen die Verbindung.
Günther engte Helga ein, und gleichzeitig nahm er sie mit in die weite Welt. 1956 kauften sie sich einen nagelneuen Käfer, den mit der ovalen Heckscheibe, Kennzeichen: B-EW 136. Da stopften sie alles rein, Kinder und Koffer und fuhren in den Süden: Frankreich, Italien, Jugoslawien, Griechenland, Türkei. Später flogen sie in den Libanon und nach Ägypten. Einmal eskalierte es an der DDR-Grenze. Günther wurde wütend, der Wachtposten richtete sein Gewehr auf ihn. Helga entschärfte die Situation. Von da an übernahm sie die Kommunikation mit den Grenzern.
In Athen, am antiken Turm der Winde, bekam einer der Jungs von einem Jäger eine kleine Eule geschenkt, einen lebendigen Steinkauz, der am Flügel verletzt war. Den nehmen wir mit, bestimmte der Vater. Die restlichen Urlaubswochen trug Helga das Tier in ihrer braunen Umhängetasche durch die Gegend. Zurück in Berlin, kam es in einen Papageienkäfig, wurde von Helga mit Mäusen gefüttert und erfüllte die Neuköllner Wohnung mit seinen Schreien. Später kamen noch ein Turmfalke und ein syrischer Igel dazu. Der Vater entwickelte eine tierische Sammelleidenschaft, Elstern, Dompfaffe, später Katzen. Helga fütterte sie und machte den Dreck weg.
Als ihr Mann krank wurde, ein Hirntumor, pflegte sie ihn monatelang. Er schrie vor Schmerzen und konnte nicht mehr damit aufhören. Als er schließlich ins Krankenhaus musste, ging sie mit, war an seiner Seite, hielt seine Hand, bis er starb. Ende der 80er war das.
Für Helga begann ein neues Leben. Sie musste lernen, sie selbst zu sein. Sie musste herausbekommen, was es genau war, das sie wollte. Statt antiker Münzen sammelte sie kleine, lustige Figuren, die sich bewegten, wenn man sie aufzog oder anstupste, einen Papageien zum Beispiel, der an einer Spirale rauf und runter turnte. Statt in ein Land mit antiken Tempeln zu fahren, besuchte sie ihren großen Sohn in Tansania oder reiste mit ihm nach Kuba.
Und sie hatte Freunde. Als sie noch arbeitete und der jüngere Sohn sie ab und an vom Büro abholte, fiel ihm auf, dass dort, wo Helga war, immer alle lachten, dass alle um Helga kreisten. Ihm gefiel das. Und jetzt hatte sie einen Kreis älterer Herrschaften, mit denen sie ehrenamtlich den Museumsladen des Ägyptischen Museums organisierte, jahrzehntelang. Mit ihnen ging sie ins Theater und in Ausstellungen. Doch eines fiel einer alten Freundin auf: Man konnte sich wunderbar von ihr unterhalten lassen, das hatte sie von ihrem Mann übernommen, aber in ihre Seele ließ sie niemanden blicken. Da war eine Schranke, die sich nie öffnete. Später, als sie sich mal das Bein gebrochen hatte und eine Zeit lang kaum bewegen konnte, hatte sie feste Telefontermine. An dem einen Tag telefonierte sie mit dem einsamen schwulen Witwer. Am anderen mit der Witwe des Münzhändlers ihres Mannes.
Zu ihrem Sohn nach Bayern wollte sie nicht. Sie wollte in ihrer Wohnung bleiben, in Charlottenburg, in der sie seit 1963 wohnte. Die Wohnung war mehr und mehr zu einem Museum geworden, mit all den Büchern, den Münzen, den Bildern und Figuren. Hier wurde sie älter und älter. Einen Tag vor ihrem Tod trank sie noch ein Glas Rotwein. Eine Stunde vor ihrem Tod zog sie das letzte Mal an einer Zigarette. Kurz bevor sie starb, sagte sie, frei nach Wilhelm Busch: „Nun hat die liebe Seele ihre Ruh / Ratsch, man zieht den Vorhang zu.“ Karl Grünberg