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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Stephanie Meyer (* am 8. Juli 1997)

Stephanie hat ein Gespür dafür, wer ihr in diesem Moment guttut und wer nicht. Ist zum Beispiel schon eine Oma da, braucht sie die zweite nicht mehr. Dann nimmt sie diese an die Hand und führt sie vor die Tür und schließt sie. Man darf das nicht persönlich nehmen. Stephanie ist halt so. Mag sie jemanden, riecht sie an dessen Hand oder an den Haaren. Mag sie jemanden noch mehr, küsst sie die Hand, und ganz selten gibt sie jemanden einen Kuss auf die Wange. Eine Ehre.
Man muss Stephanie nehmen, wie sie ist. Man darf auf keinen Fall versuchen, sie zu verbiegen. Wenn sie was nicht mag, dann fährt sie aus der Haut. Sie beißt sich, schlägt um sich, schmeißt Stühle oder zerlegt ihr Zimmer. Zwar entschuldigt sie sich danach, will unbedingt, dass alles wieder gut ist. Doch es führt dazu, dass die Lehrkräfte in der Schule Angst vor ihr haben. Das wiederum spürt Stephanie mit ihren feinen Antennen
Stephanies Gehirn arbeitet nicht ganz so, wie es soll. Als Baby, neun Wochen alt, hatte sie eine Hirnblutung. Das war der Beginn einer „grausigen Reise durch die Welt der Medizin“, wie ihre Eltern es beschreiben. Das sind Thomas und Sabrina. Damals waren sie Anfang 30 und wohnten in Pankow. Sie wissen noch exakt, welcher Arzt was gesagt und gemacht hat, welches Medikament aufs andere folgte. Stephanies linke Gehirnhälfte machte nicht mehr mit, die Rechte konnte nicht alles ausgleichen. Sie entwickelte einen frühkindlichen Autismus und bekam epileptische Anfälle, mal leichtere, mal schlimmere, dann verkrampften sich alle ihre Muskeln. Sabrina und Thomas mussten aufpassen, dass ihr nichts Schlimmes dabei passierte. Danach war der kleine Körper immer ganz erschöpft, und das Kind schlief ein.
Die Medikamente hatten starke Nebenwirkungen. Stephanie wurde übel, sie war schlecht gelaunt, aggressiv. Wenn sie neu eingestellt wurde, musste sie für ein paar Tage ins Krankenhaus. Die Stationsärztin dort nannte sie den „Sonnenschein“. Sie durfte mit ins Ärztezimmer und bei den Besprechungen zuhören.
Sprechen kann Stephanie nicht, nicht so wie die anderen. Sie versucht, Silben und Vokale aneinanderzureihen, lässt sich immer alles erklären. Bonbon ist Bobo. Sie, Stephanie, ist Mimimi. Dann gibt es Mama und Papa. Überhaupt ist es wichtig, dass jeder nur einen Namen hat, einen Vornamen. Wenn man sie später mit „Frau Meyer“ ansprach, konnte sie damit nichts anfangen. Einmal, als sie besonders aggressiv war, mit ihrem Ellbogen eine Glasscheibe zertrümmerte, wurde sie in der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses untergebracht. Dort war ein junger Mann, heroinabhängig, der mochte und verstand sie und schaffte es, sich auf seine Art mit ihr zu verständigen. „Ihr habt ihre Sprache verlernt“, sagt er den Eltern, als sie Stephanie abholen.
Stephanie ist eine Herausforderung für alle. Und eine Bereicherung. Diese Neugierde: Wenn sie etwas interessiert, zieht sie einen hin. Das kann ein Buchstabe an der Wand sein, eine knisternde Tüte oder das Laub auf dem Boden, das so schön raschelt. Am besten ist es, wenn man mit ihr im Wald sitzt oder am Strand, wo sie sich von einer spannenden Sache zur nächsten vorarbeiten kann. Wenn sie lacht, einen dabei anschaut, einen auf das Sofa zieht, damit man ihr vorliest. Wenn man mit ihr die Pizza belegt und dann aufisst. Überhaupt liebt sie es zu essen. Als Kind Pflaumenmus mit Nutella, später Räucherfisch mit Spinat. Einmal, als sie wie jeden Freitag ihre Einzelfallhelferin besucht, riecht sie schon in der Tür den Schokokuchen. Sie ist sechs, rennt ins Wohnzimmer, schnappt sich den ganzen Kuchen und beißt direkt hinein.
Dann wieder schimpft sie, gerät außer sich, dass man sie festhalten muss, weil der Bus zu spät kommt, der Sportunterricht ausfällt, weil die Feuerwehrsirene so laut ist - dass etwas nicht so ist wie immer. Aufpassen muss man auch, dass sie sich nicht davonmacht, zur nächsten spannenden Sache, egal ob da die Straße ist oder das Gleis. Stephanie ist pur. Kein Filter, keine Zurückhaltung, das Jetzt zählt, alles andere spielt keine Rolle.
Stephanie ist 14, da müssen ihre Eltern eine Entscheidung treffen: zu Hause behalten oder Betreutes Wohnen? Stephanie soll selbstständiger werden, sich auf andere Menschen einstellen. Je später die Abnabelung, umso schwieriger würde sie werden, sagen die Experten. Sie suchen lange; auch Stephanie muss es gefallen. Wenn ihr etwas nicht passt, geht sie gar nicht erst rein. Sie kommt in eine Gruppe mit fünf Jungs, mit denen sie sich gut versteht. Sie hat ihr eigenes Zimmer, ihre eigene Dusche, ihre Lieblingsbetreuer. Tagsüber arbeitet sie in einer Werkstatt. Wenn sie es im Gruppenraum nicht aushält, flieht sie auf den Gang, beschwert sich lautstark. Das hört die Leiterin, unterbricht alles, holt Stephanie zu sich ins Büro, gibt ihr einen Keks und was zu trinken. Auch sie mag Stephanie.
Mit 20 muss sie in eine Wohngruppe für Erwachsene wechseln. Es gibt nur ein Problem. Stephanie liebt es noch immer, sich auf die Socken zu machen, einfach so. Ob nachmittags, abends oder nachts, ob im Sommer oder Winter oder nur mit einem Schlafanzug bekleidet, sie will raus, will die Welt erkunden, von jetzt auf gleich. In dem neuen Heim schaffen sie es nicht, rund um die Uhr auf sie aufzupassen. Doch jeder unbeaufsichtigte Moment kann lebensgefährlich sein. Es sind immer wieder Augenblicke des Grauens für die Eltern, wenn sie erfahren, dass Stephanie vermisst wird, bis sie endlich wieder da ist, von der Polizei oder der Feuerwehr aufgegriffen.
Bis das Schreckliche passiert. Es ist kalt und dunkel, Stephanie trägt nur ihre Sandalen und ihren lila Lieblingspullover mit der Kapuze. Kilometerweit läuft sie durch die Stadt, gelangt an Bahngleise, klettert über einen Zaun, läuft die Gleise entlang, bis eine S-Bahn kommt
Thomas und Sabrina beerdigen ihre Mimimi in einem lila Sarg. Auf ihrem Grabstein steht nur Stephanie, ohne Nachname, mit dem konnte sie ja nichts anfangen. Im Garten richten sie eine Gedenk-Ecke ein an dem Platz, an dem sie immer saß. Mit Blick auf die Rosen, an denen sie so gerne roch. Karl Grünberg