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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Wolfgang Kahl (* am 6. März 1961)

Wenn die Tage schön sind, sieht man sie auf den Plätzen und unter den Platanen mit geschmeidigen Bewegungen große metallene Kugeln in Richtung einer kleinen weißen werfen, vielleicht, auf der Bank neben ihnen, ein Glas Pastis. Une partie de pétanque, singt Georges Brassens, ça fait plaisir, eine Partie Boule, das macht Vergnügen. La boule part et se planque, die Kugel rollt los und versteckt sich, comme à loisir, je nach Belieben.
Die Franzosen sagen, bei einer Temperatur unter 14 Grad würden sie niemals Boule spielen. Wolfgang ist sogar raus in den Schnee. Was natürlich nur ein Jux war. Der seriöse Pétanque-Sport fand auf präparierten Pisten statt. Und, beiläufig bemerkt: Einen Magnetheber, um sich beim Aufsammeln der Kugeln nicht bücken zu müssen, hat er nie benutzt. Einmal hat Wolfgang am größten Pétanque-Tournier der Welt, der Marseillaise, teilgenommen. Überstand dort aber nur die erste Runde. Was keineswegs heißt, dass er ein lausiger Spieler war. 2005 gewann er den wichtigsten Berliner Wettkampf.
Das Spiel war ein Freizeitvergnügen für ihn, im Sommer am Paul- Lincke-Ufer oder auf dem Platz seines Vereins „Boule devant Berlin“ in Charlottenburg.
Seine eigentlichen Disziplinen waren Hockey und Floorball, eine Art Hallenhockey. Wobei Sport im Allgemeinen von Kindheit an den Mittelpunkt seines Lebens gebildet hatte, am Anfang die Leichtathletik, dann Hockey und das Skilaufen, speziell Riesenslalom. Seine Eltern waren mit ihm in den Ferien in die Berge gefahren, und ein Skilehrer hatte entdeckt, dass der Junge Talent besaß. So viel Talent, dass er in der hessischen Jugendauswahl fuhr und immerzu in den Bergen unterwegs war. Weshalb er später im Urlaub nur noch ans Meer wollte. „Berge hatte ich genug“, sagte er zu Andrea, seiner Freundin, die ihm 2009 beim Boule begegnet war, während eines Turniers in Travemünde, wo sie gegen ihn gespielt hatte, er zwölf zu eins in Führung lag, eine Runde geht bis 13, und schließlich doch verlor.
Nach dem Abitur entschied sich Wolfgang ein wenig halbherzig, BWL zu studieren. Geologie hätte ihn mehr interessiert, Steine hatte er schon immer gesammelt. Aber vielleicht klang Geologie zu sehr nach brotloser Wissenschaft, BWL hingegen nach Sicherheit. Die Entscheidung erwies sich als die falsche, freudlos hangelte er sich durch die Seminare. Doch gab es ja noch den Sport.
Über das Hockey hatte er Kontakte zum TSV Zehlendorf, zog 1984 nach Berlin, um dort einen Trainerjob anzunehmen. Er studierte weiter, er mochte die Stadt, den Verein, seine Arbeit - und blieb. Brach das Studium ab, wurde Kinder- und Jugendtrainer und schließlich Vereinsjugendwart.
Spazierte Wolfgang durch Zehlendorf, grüßte ihn ständig jemand. Auch Erwachsene, die als Kind bei ihm trainiert hatten und sich erinnerten, wie schön das war. Wie sich Wolfgang hingekniet hatte, alle Kinder in einem Kreis um sich, um zu erklären, wie man den Schläger hält, wie man den Ball präzise schießt. Nie hieß es: „Ihr müsst“, nie beschämte er ein Kind, weil es einen Fehler machte. Natürlich aber sollten seine Mannschaften nicht auf dem Feld herumtrotten, natürlich ging es auch ums Gewinnen. Ein wenig Strenge war da auch vonnöten. Denn setzte er diesen Blick auf, den Kopf leicht geneigt, von unten heraufschauend, mit einem blitzenden Ausdruck in den Augen, in dem auch immer Funken von Humor, von Ironie aufleuchteten.
In den Osterferien, im Sommer und im Herbst veranstaltete Wolfgang Kahl die sogenannten Allroundcamps auf dem Vereinsgelände. Gemischte Gruppen, Kinder wohlhabender Diplomaten, Kinder aus prekären Verhältnissen, die anderswo als „schwierig“ galten. Zusammen frühstückten sie, trieben Sport und sprangen nachmittags in die Krumme Lanke.
In seinen Ferien fuhr er mit Andrea nach Gomera, Kreta, an die Ostsee. Packte in den Rucksack nur das Allernötigste, flog nach Porto und lief von dort den Jakobsweg. Sammelte Steine, sammelte Samen von Palmen, die er zu Hause in die Erde steckte. Als er bei Andrea einzog, gab es dort eine einzige Zimmerpflanze; einige Jahre darauf hatte sich die Wohnung in ein exotisches Paradies verwandelt.
Eins beunruhigte ihn mehr und mehr: Er arbeitete im Verein als Honorarkraft, was hieß, dass er keinen Rentenanspruch besaß. Geld war ihm nie sonderlich wichtig gewesen, kein dickes Auto, kein Haus. Dafür hatte er Generationen von Kindern und Jugendlichen froh gemacht. Und trotzdem stellte er irgendwann fest: „Ich habe nichts erreicht.“ Vielleicht stellte er sich nur vor, was die anderen, die es wohin auch immer gebracht hatten, denken würden. Vielleicht war es die Erinnerung ans abgebrochene Studium. Vielleicht war es der Blick auf den Zehlendorfer Wohlstand. Er entschied sich, ein Informatik-Fernstudium zu beginnen.
Und dann tauchte dieser dunkle Fleck an seinem Hals auf. „Geh mal zum Arzt“, sagte Andrea. Und er: „Ach, das ist nichts“ oder: „Ja, mache ich, demnächst.“ Machte er aber nicht. Bis er immer schlapper, lustloser wurde. Und dann doch zum Arzt ging.
Bis dahin schien das Heute noch viele Morgen zu bergen. Und nun nur noch Unglück und Tod. Schwarzer Hautkrebs, Metastasen überall. „Sie haben noch drei Monate, höchstens ein Jahr.“
Es blieben ihm acht Wochen.
Wenige Tage nach seinem Tod, es war Juni, auf den Plätzen und unter den Platanen sah man die Boulespieler, traf ein Freund von Wolfgang einen jungen Mann, der bei ihm trainiert hatte. Als er von Wolfgangs Tod erfuhr, weinte er, mitten auf der Straße, bitterlich. Tatjana Wulfert