Nachruf auf Erich Karl (* am 25. September 1913)
Erich wurde älter und älter. Als er die 100 voll hatte, 2013 war das, begann die Fragerei. Wie er das nur angestellt hatte? Ob er eine Zauberformel hätte? Eine Lebensweisheit? Einen Ernährungstipp? Er zuckte mit den Schultern. Vielleicht lag es daran, dass er jeden Morgen um sechs aufstand, jeden Tag seine Runde mit dem Rollator durch den Wald drehte und dabei immer alle freundlich grüßte. Vielleicht auch, weil er immer den Eintopf aufaß, vielleicht, weil seine Frau Hildegard und er irgendwann feststellten, dass es gut war, wie es war.
Oder es lag an seiner Selbstständigkeit. Er wohnte nicht in einem Altersheim, sondern in einer Seniorenresidenz, der Unterschied war ihm wichtig. Er ließ sich auch nicht betreuen, sondern war ein normaler Mieter. Die einzige Hilfe, die er in Anspruch nahm, war eine Reinigungskraft, die einmal in der Woche kam. Ansonsten schaffte er alles allein. Er surfte durchs Internet und bediente Digitalkamera und Fotoprogramme am Computer.
1978 war Erich in Rente gegangen, 1953 waren seine Eltern gestorben, 1941 hatte er geheiratet. Wenn man mit ihm zurück in die Vergangenheit reisen würde, käme man an Helmut Kohl vorbei und Willy Brandt, an der Landung auf dem Mond, Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, der Erfindung des Tonfilms, der Novemberrevolution. Ein Jahr nach dem Untergang der „Titanic“ kam er in Weimar auf die Welt.
Sie waren fünf Geschwister, er genau in der Mitte. Platz gab es nur wenig in der kleinen Wohnung direkt am Bahnhof, das Haus steht immer noch. Die Kinder teilten sich das Bett, das Leben fand in der Küche statt. Am Tisch machten sie die Hausaufgaben, in der Ecke stand die Zinkwanne. Der Vater war Chemigraf, er stellte Druckvorlagen her. Wenn das Geld knapp war, ging die Mutter mit Waschbrett und Waschzuber zu bessergestellten Familien. Dort bekam sie auch etwas zu essen für die Kinder. In der Schule teilten Quäkerinnen aus England Schokoladensuppe mit Reis und Kondensmilch aus, die Erich in seinen Blechnapf bekam. Er stromerte mit seinen Kumpels im nahen Wald und an der Ilm umher.
Erich war von der Technik fasziniert, besonders der Elektrotechnik, mit der man Signale um die Welt schicken konnte. 1927 ergatterte er einen Ausbildungsplatz als Feinmechaniker bei einer Telefon- und Telegrafenfabrik in Berlin-Kreuzberg, Schlesische Straße. Dann bekam er nur noch Aushilfsjobs; elendig war das. Hitler versprach Arbeit, und Erich war begeistert. Dass diese der Kriegsvorbereitung diente, „daran dachten wir überhaupt nicht.“ Mit Politik hatte er noch nie zu tun gehabt.
Die Arbeit kam tatsächlich. Für Siemens reparierte er Kino-Projektoren. Die kamen aus der ganzen Welt. Er nahm sie komplett auseinander, prüfte jedes Teil, tauschte die defekten aus. Eine Mark bekam er die Stunde, ein ordentlicher Lohn für einen Facharbeiter. Die Vorbereitungen für den Krieg liefen an, Erich wurde in die Produktion von Hellschreibern versetzt, Schreibmaschinen mit Batteriebetrieb, die an der Front als mobile Fernschreiber verwendet wurden. Später baute Erich Kameras für die Flugüberwachung über Feindesland.
Hildegard montierte bei Siemens elektrische Uhren. Die beiden gingen mittagessen, fuhren mit der Bahn zusammen nach Hause. Es war keine stürmische Liebe, eher ein Zusammenwachsen in stürmischen Zeiten. Alles andere hätte auch nicht zu Erich gepasst, dem Ausgeglichenen, der Streit nie mochte. 1940 heirateten sie. Kinder sollten sie nie bekommen; erst war da der Krieg, und danach musste es auch nicht sein.
Erich kam an die Ostfront. Er war für eine mobile Vermittlungsstelle zuständig, die in ein Auto eingebaut war. Damit verband er die Kommandostellen mit den Feld-Telefonen der Kompanien. So fuhr er quasi dem Kampfgeschehen hinterher. Auf dem Rückzug erlebte er „schweres Elend“, wie er in einem Zeitzeugenbericht für das Buch „100 Jahre Berlin - Generation Kaiserzeit erzählt“ berichtete. „Ich hab' zum Beispiel gesehen, wie ein Fahrzeug mehreren Menschen über'n Kopf fährt.“ Zwei seiner Brüder starben. Nach all diesen Erlebnissen wuchs in ihm die Überzeugung: „Nie wieder Krieg.“ Er trat in die SED ein. Er war sich sicher, dass die DDR der Staat sein würde, der so etwas wie den Hunger der Weimarer Republik und die Verbrechen der Nazizeit nicht zulassen würde. „Nie wieder die gleichen Verhältnisse, die du schon einmal mitgemacht hast!“
Hildegard und er zogen in eine Zweizimmer-Wohnung in Hohenschönhausen, fuhren einmal im Jahr in den Urlaub, kauften sich einen Motorroller, dann einen Trabant. Ansonsten war Erich ein Arbeitstier. Er baute Elektromotoren, machte seine Meisterprüfung. Die Urkunde rahmte er ein und hängte sie an die Wand. Als Lehrmeister arbeitete er im Funkwerk Köpenick, danach war er Hauptmechaniker und Berufsausbilder bei Stern-Radio in Weissensee. Als die Rente kam, pachtete er mit Hildegard einen Schrebergarten und baute einen Rasenmäher, den die ganze Kolonie benutzen durfte.
Als Hildegard krank wurde, kümmerte er sich um sie. Als sie starb, war er 92. Er brauchte jetzt Ablenkung und reiste mit dem Auto hoch an die Nordsee, nach Sylt, dann nach Tirol. Die weiteste Reise seines Lebens. Eine Kamera hatte er sich dafür gekauft, viele Stunden verbrachte er damit, die Landschaft zu fotografieren. Wie damals im Beruf sollte auch im Hobby alles ganz exakt sein. Als an seinem Herz etwas gemacht werden musste, ließ er sich nur örtlich betäuben und verfolgte die Operation auf dem Bildschirm. So was muss man mal gesehen haben, diese Genauigkeit, mit der hier gearbeitet wird!
Die Abende verbrachte er vor dem Fernseher, politische Sendungen interessierten ihn. Er las Bücher von Sarah Wagenknecht. Als ein Container-Dorf für Geflüchtete vor die Seniorenresidenz gebaut werden sollte und die Anwohner Angst hatten, sagte er auf der Versammlung: „Lasst sie doch erst mal kommen. Es sind Menschen in Not.“
Einsam fühlte er sich nicht. Er war ja gerne mit sich. Angst vor dem Tod hatte er auch nicht, der gehört schließlich dazu. Das berichtete er der Organisation Save the Children, die ihn fürs Buch „Wie Kinder Kriege überstehen“ porträtierten. Darin fällt Erich Karl doch noch ein, warum er so alt geworden ist: „Ich bin zufrieden.“ Karl Grünberg
Oder es lag an seiner Selbstständigkeit. Er wohnte nicht in einem Altersheim, sondern in einer Seniorenresidenz, der Unterschied war ihm wichtig. Er ließ sich auch nicht betreuen, sondern war ein normaler Mieter. Die einzige Hilfe, die er in Anspruch nahm, war eine Reinigungskraft, die einmal in der Woche kam. Ansonsten schaffte er alles allein. Er surfte durchs Internet und bediente Digitalkamera und Fotoprogramme am Computer.
1978 war Erich in Rente gegangen, 1953 waren seine Eltern gestorben, 1941 hatte er geheiratet. Wenn man mit ihm zurück in die Vergangenheit reisen würde, käme man an Helmut Kohl vorbei und Willy Brandt, an der Landung auf dem Mond, Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, der Erfindung des Tonfilms, der Novemberrevolution. Ein Jahr nach dem Untergang der „Titanic“ kam er in Weimar auf die Welt.
Sie waren fünf Geschwister, er genau in der Mitte. Platz gab es nur wenig in der kleinen Wohnung direkt am Bahnhof, das Haus steht immer noch. Die Kinder teilten sich das Bett, das Leben fand in der Küche statt. Am Tisch machten sie die Hausaufgaben, in der Ecke stand die Zinkwanne. Der Vater war Chemigraf, er stellte Druckvorlagen her. Wenn das Geld knapp war, ging die Mutter mit Waschbrett und Waschzuber zu bessergestellten Familien. Dort bekam sie auch etwas zu essen für die Kinder. In der Schule teilten Quäkerinnen aus England Schokoladensuppe mit Reis und Kondensmilch aus, die Erich in seinen Blechnapf bekam. Er stromerte mit seinen Kumpels im nahen Wald und an der Ilm umher.
Erich war von der Technik fasziniert, besonders der Elektrotechnik, mit der man Signale um die Welt schicken konnte. 1927 ergatterte er einen Ausbildungsplatz als Feinmechaniker bei einer Telefon- und Telegrafenfabrik in Berlin-Kreuzberg, Schlesische Straße. Dann bekam er nur noch Aushilfsjobs; elendig war das. Hitler versprach Arbeit, und Erich war begeistert. Dass diese der Kriegsvorbereitung diente, „daran dachten wir überhaupt nicht.“ Mit Politik hatte er noch nie zu tun gehabt.
Die Arbeit kam tatsächlich. Für Siemens reparierte er Kino-Projektoren. Die kamen aus der ganzen Welt. Er nahm sie komplett auseinander, prüfte jedes Teil, tauschte die defekten aus. Eine Mark bekam er die Stunde, ein ordentlicher Lohn für einen Facharbeiter. Die Vorbereitungen für den Krieg liefen an, Erich wurde in die Produktion von Hellschreibern versetzt, Schreibmaschinen mit Batteriebetrieb, die an der Front als mobile Fernschreiber verwendet wurden. Später baute Erich Kameras für die Flugüberwachung über Feindesland.
Hildegard montierte bei Siemens elektrische Uhren. Die beiden gingen mittagessen, fuhren mit der Bahn zusammen nach Hause. Es war keine stürmische Liebe, eher ein Zusammenwachsen in stürmischen Zeiten. Alles andere hätte auch nicht zu Erich gepasst, dem Ausgeglichenen, der Streit nie mochte. 1940 heirateten sie. Kinder sollten sie nie bekommen; erst war da der Krieg, und danach musste es auch nicht sein.
Erich kam an die Ostfront. Er war für eine mobile Vermittlungsstelle zuständig, die in ein Auto eingebaut war. Damit verband er die Kommandostellen mit den Feld-Telefonen der Kompanien. So fuhr er quasi dem Kampfgeschehen hinterher. Auf dem Rückzug erlebte er „schweres Elend“, wie er in einem Zeitzeugenbericht für das Buch „100 Jahre Berlin - Generation Kaiserzeit erzählt“ berichtete. „Ich hab' zum Beispiel gesehen, wie ein Fahrzeug mehreren Menschen über'n Kopf fährt.“ Zwei seiner Brüder starben. Nach all diesen Erlebnissen wuchs in ihm die Überzeugung: „Nie wieder Krieg.“ Er trat in die SED ein. Er war sich sicher, dass die DDR der Staat sein würde, der so etwas wie den Hunger der Weimarer Republik und die Verbrechen der Nazizeit nicht zulassen würde. „Nie wieder die gleichen Verhältnisse, die du schon einmal mitgemacht hast!“
Hildegard und er zogen in eine Zweizimmer-Wohnung in Hohenschönhausen, fuhren einmal im Jahr in den Urlaub, kauften sich einen Motorroller, dann einen Trabant. Ansonsten war Erich ein Arbeitstier. Er baute Elektromotoren, machte seine Meisterprüfung. Die Urkunde rahmte er ein und hängte sie an die Wand. Als Lehrmeister arbeitete er im Funkwerk Köpenick, danach war er Hauptmechaniker und Berufsausbilder bei Stern-Radio in Weissensee. Als die Rente kam, pachtete er mit Hildegard einen Schrebergarten und baute einen Rasenmäher, den die ganze Kolonie benutzen durfte.
Als Hildegard krank wurde, kümmerte er sich um sie. Als sie starb, war er 92. Er brauchte jetzt Ablenkung und reiste mit dem Auto hoch an die Nordsee, nach Sylt, dann nach Tirol. Die weiteste Reise seines Lebens. Eine Kamera hatte er sich dafür gekauft, viele Stunden verbrachte er damit, die Landschaft zu fotografieren. Wie damals im Beruf sollte auch im Hobby alles ganz exakt sein. Als an seinem Herz etwas gemacht werden musste, ließ er sich nur örtlich betäuben und verfolgte die Operation auf dem Bildschirm. So was muss man mal gesehen haben, diese Genauigkeit, mit der hier gearbeitet wird!
Die Abende verbrachte er vor dem Fernseher, politische Sendungen interessierten ihn. Er las Bücher von Sarah Wagenknecht. Als ein Container-Dorf für Geflüchtete vor die Seniorenresidenz gebaut werden sollte und die Anwohner Angst hatten, sagte er auf der Versammlung: „Lasst sie doch erst mal kommen. Es sind Menschen in Not.“
Einsam fühlte er sich nicht. Er war ja gerne mit sich. Angst vor dem Tod hatte er auch nicht, der gehört schließlich dazu. Das berichtete er der Organisation Save the Children, die ihn fürs Buch „Wie Kinder Kriege überstehen“ porträtierten. Darin fällt Erich Karl doch noch ein, warum er so alt geworden ist: „Ich bin zufrieden.“ Karl Grünberg