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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Karlheinz Kindermann (* am 5. August 1928)

Als er schon alles vergessen hatte, eins vergaß er nie, seinen Geburtstag. Das war ein schöner Tag, denn Onkel Kalle, wie ihn alle riefen, war unverzichtbar hier auf Erden. Und er war lange da, obwohl er nie gesund gelebt hatte, ganz anders als seine Helene, gerufen Lenchen, die nie getrunken hatte und nie geraucht, und die jeden Sonntag in die Kirche ging, wohin es ihn so gar nicht zog.
Ihn zog es von früh an zur Reichsbahn. Die brachte ihn von Pommern weg, wo der Vater Stellmacher gewesen war, und die Mutter fünf Kinder zur Welt gebracht hatte. Glücklich war er als Kind, nur in die Schule ging er nicht gern, weil er dort immer verprügelt wurde, vom Lehrer, nicht von den Schülern. Also suchte er sich früh eine richtige Arbeit, eine respektable bei der Reichsbahn, bei der er blieb, genau 49 Jahre und ein halbes. Ein weiteres halbes Jahr länger, und es hätte eine Uhr aus Ruhla gegeben, aber die war ihm nicht wichtig. Wichtig war, dass die Arbeit ihn froh machte und stolz, und dass er sie gewissenhaft tat, denn ein Fahrdienstleiter im Stellwerk, dort, wo die Züge auf die richtige Spur gesetzt werden, trägt große Verantwortung.
Klingelte das Telefon und der Zug wurde gemeldet, dann stellte er per Hand an Hebeln die Weichen. Drei-Schicht-Betrieb, sein ganzes Arbeitsleben lang. Normal wie andere konnte er irgendwann gar nicht mehr schlafen, aber den Herzinfarkt bekam er erst nach der Pensionierung. Auf Arbeit hat er nie gefehlt. Und nie einen über den Durst getrunken, Dienst ist Dienst. Das war ihm auch anzusehen. Er trug immer straff Uniformjacke und Mütze auf der Arbeit, darin wollte er auch beerdigt werden, und so kam es dann auch, aber bis dahin verging viel Zeit.
Zeit, die er am liebsten mit der Familie verbrachte, die war ihm das Wichtigste auf der Welt. Er war der Onkel, der immer da war, auf jeder Feier. Er selbst hatte ja keine Kinder, also hat er die Kinder der anderen umsorgt. Onkel Kalle und Tante Lenchen wohnten in Tegel-Süd, Waldidyll, damals Arme-Leute-Siedlung, wo jeder jeden kannte. Fünf Minuten in den Wald, zehn Minuten zum See. Dort blieb er, bis er ins Heim musste. Dort um die Ecke war seine Lieblingskneipe, wo er jeden Sonntag zum Frühschoppen erschien. Wenn er nicht rechtzeitig zum Mittagessen zurück war, wurde sein Lenchen böse, was regelmäßig geschah. Denn mit einem „flotten Dreier“ konnte man ihn immer rumkriegen: Kaffee, Bier und Schnaps. Dann hieß es, Onkel Kalle ist wieder blau. Was nicht weiter schlimm war, weil, er war ja daran gewöhnt und alle anderen auch. Und auf jeden Kater folgte unweigerlich ein neuer Feiertag, irgendwas lag immer an, jede Woche war Familienfest, ob mit oder ohne feierlichen Anlass.
Da wurde dann gesungen, was er gar nicht konnte, aber er summte, innig, „Auf einem Seemannsgrab, da blühen keine Rosen“, was auch falsch gesummt zu Herzen geht. Die Tante hatte ein Theaterabonnement und Onkel Kalle ein „Grundig TK 64“- Tonbandgerät, denn die Spannbreite seiner musikalischen Empfindungsfähigkeit war weit und schloss vom Seemannslied bis zum Largo von Händel vieles ein. Mitreißende Melodien allesamt, die dann in ordentlicher Lautstärke auf den Familienfeiern abgespielt wurden, denn die Beinchen schwingen leichter beim Schlager und beim Schnaps.
Und dann war da wieder der Frühschoppen am Sonntag, wo er sich immer feste vornahm, es seiner Helene recht zu machen, und pünktlich zum Mittagessen zu kommen, denn sie war ja eine Heilige. Und pingelig war sie, da war kein Stäubchen, da waren Deckchen überall, weil sie es gern schön hatte, und die Hausbar war in der Schrankwand versteckt. Denn Tante Helene war fromm und stets nüchtern. Wenn Onkel Kalle in die Kneipe ging, ist sie in die Kirche, und wenn er Wein trank, trank sie Wasser und mit 70 fiel sie tot um. „Der liebe Gott holt sie, weil sie so lieb ist“, bemerkte Onkel Kalle traurig und ahnte damals schon, dass sie ihn da oben nicht ganz so schnell bei sich haben wollten.
Aber ihm blieb ja seine Laube, und sein Garten war sein Paradies auf Erden in der Nähe von Lübars am Roggenfeld gelegen, da gab es sogar einen kleinen Badezuberpool für die Kinder nach dem Kirschenpflücken zum Abkühlen und Untertauchen. Seine Dahlien waren berühmt, und die Riesenkürbisse, die er auf dem Kompost zog, wurden allgemein bestaunt, und die kleine Gästekammer, die er für die Nichten und Neffen eingerichtet hatte, stand selten leer, denn regelmäßig hieß es: „Komm, wir fahren zu Onkel Kalle!“
Aber nach dem Tod von Lenchen war es doch irgendwie anders. Mit der Einsamkeit konnte er nicht so recht umgehen. Er hat sich dann eine ältere Dame gesucht für die Zweisamkeit, aber das war nicht ganz so verbindlich, nach seinem Empfinden. Und es war ja auch nicht einfach, mit ihm umzugehen, nur Lenchen hatte immer gewusst wie.
Mitte 2005 zog er ins Heim, wo er bald wieder rausflog, wegen unerlaubten Rauchens. Er hatte ja einen Infarkt hinter sich. Ab 2009 wohnte er dann im Seniorenheim am Kienhorst Park, da mochten sie ihn, und er fühlte sich wie zuhause. In den hellen Momenten las er die Zeitung und erinnerte seine Altersgenossen daran, dass er immer SPD gewählt hatte, und das auch weiterhin tun würde, ob mit oder ohne Betreuer. Im nächsten Moment hat er dann schon wieder ein wenig wirr geredet und sich gedanklich nicht mehr einsammeln können. Musiksendungen sah er weiterhin sehr gern, und auf der Terrasse hat er hin und wieder noch eine geraucht. „Gehen wir eine quarzen“, flüsterte er dann verschwörerisch der Nichte zu. Er ließ sich gern baden und kraulen, „snoozeln“, wie das auf neumodisch heißt, aber noch lieber wäre es ihm gewesen, wenn er sein Lenchen endlich wiedergesehen hätte. Immer wenn er sie auf dem Friedhof besuchte, murmelte er: „Lasst mich doch gleich hier, ich will sterben, ich will sterben.“ Aber er hat sich gequält damit, das Leben wollte nicht so schnell weichen, nicht von Onkel Kalle, vielleicht, weil es welche wie ihn nicht mehr so viele gibt. Gregor Eisenhauer