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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Wolfgang Lange (* am 1. November 1939)

Mal sitzt Wolfgang in der ersten Reihe, mal in der zehnten ganz links, manchmal auch in einer Loge. In der Loge, könnte man meinen, säße er viel zu weit entfernt vom Geschehen. Aber wenn man es richtig bedenkt, ist dies der ideale Platz. Denn von dort oben sieht und hört er alles. Nicht nur die Sänger auf der Bühne, sondern auch das Orchester unter ihnen, das in die Luft pieksende Stäbchen des Dirigenten, den Widerschein des Lichts auf den Posaunen, die über das Griffbrett tanzenden Finger des ersten Geigers, die Trompeter, die während einer Atempause ihre Instrumente umdrehen, damit die angesammelte Flüssigkeit hinaus fließen kann.
Er sitzt dort und schreibt alles, was er sieht und hört, in einen zierlichen Notizblock, um später einen Text daraus zu formen. Denn er ist Opernkritiker.
Was Wolfgang Lange von keinem Platz aus sieht und hört, ist die Erregung hinter der Bühne, die zuckenden Nerven, das Fürchten, das Hoffen. Er wird es sehen und hören, später, nach drei Jahrzehnten Tätigkeit als Musikkritiker, und es wird ein Bruch sein, der ihn begeistert. Doch der Reihe nach.
Der Vater war Redakteur bei Zeitung und Rundfunk, schrieb auch Lyrik und Prosa. Er wurde zu Beginn des Krieges eingezogen und starb 1944. Wolfgangs Mutter spielte mehrere Instrumente, absolvierte ein Gesangsstudium und arbeitete als Lehrerin. Sie starb 1961.
Wolfgang wurde als zweites Kind in Falkenberg / Mark geboren. Er war keiner von denen, die später erzählen konnten, sie hätten schon von frühster Kindheit an die größte Musikbegeisterung verspürt. Er spielte eher Fußball und schwamm, so gut, dass man ihm vorschlug, in den Leistungssport zu gehen. Aber dann kam eben doch die Musik. Seine erste Klavierlehrerin hieß Erna-Maria. Sie war klein, trug einen breitkrempigen Sommerhut und kritzelte unablässig Interpretationsanweisungen in die Noten ihrer Schüler. Und sie fand, ihre Pianistenhände seien zu kostbar, um sie in Abwaschwasser zu tauchen oder mit ihnen einen Besenstiel zu umfassen. Das musste der Klavierschüler übernehmen. Erst ein bisschen Schuhmann, dann ein bisschen Schrubben. Im Sommer 1956 kam es zur Krise. Er saß bei Erna-Maria und wartete auf sie. Es war heiß, die Fenster standen weit offen, Wolfgang begann, sich die Zeit zu vertreiben. Aber nicht mit Schumann, sondern einem hingehämmerten Boogie-Woogie. In seinem Rausch hörte er Erna-Maria nicht eintreten. Dann stand sie da und litt Qualen. Doch die Zeit verstrich, ihr Schmerz verblasste. Zudem wollte sie diesen Schüler doch nicht verlieren, denn wer sollte dann ihre Wohnung putzen?
Wolfgang jedenfalls hatte eine Entscheidung getroffen. Er begann, Musikerziehung an der Humboldt-Universität zu studieren und wechselte nach zwei Jahren ans Musikwissenschaftliche Institut. Er spielte Bratsche im Studentenorchester, Trompete in einer Blasformation, leitete eine Volksinstrumentengruppe, erhielt, noch als Student, einen Lehrauftrag für Gehörbildung und lief unentwegt in die Oper und in Konzerte.
Kurz nach seinem Studium, 1963, wurde er Redakteur bei „Melodie & Rhythmus“, einer Fachzeitschrift für Tanz- und Unterhaltungsmusik, absolute Bückware an den Kiosken der DDR. 1969 wechselte er zu „Theater der Zeit“.
Seine Opernrezensionen bewiesen, wie gut er sehen und hören konnte. Er verfasste konzentrierte, genaue Studien der Stücke. Alle Einzelheiten unvergesslicher Aufführungen, und auch jener, die man ohne großen Verlust rasch wieder aus dem Gedächtnis löschen konnte. Denn seine Besprechungen fielen nicht nur sanft aus. Bereits in einer Studienbeurteilung hieß es: „In Diskussionen zeigte er eine kritische und aufrechte Haltung, die er oft spontan zum Ausdruck brachte.“ Bedeutende Namen hinderten ihn nicht, zu schreiben, wenn etwas misslungen war. Kein Walter Felsenstein, kein Götz Friedrich schüchterten ihn ein. Was gesagt werden musste, wurde gesagt. Und jede Meinung wurde gut begründet.
Er fuhr in die Opernhäuser des Landes, und manchmal sogar über seine Grenze hinweg, nach Bayreuth, nach Moskau. Aber in die Theaterkantinen, zu den Gelagen nach den Vorstellungen, ging er nicht. „Ich kann doch schwerlich mit den Leuten sitzen und trinken und dann über sie schreiben.“
Obgleich er gegen Geselligkeit nichts einzuwenden hatte, speziell nicht gegen das Beisammensein mit Frauen. Eine Freundin drückt es so aus: „Er hat sich vielen Blumen zugewandt.“ Scherzhaft nannten ihn manche „Femmelange“, er benutzte den Namen auch in seiner E-Mail-Adresse, was auf einen Aussprachefehler seinerseits zurückging, als er, des Französischen kaum mächtig, von einer „Femme“ schwärmte statt von einer „Famm“. Er war auch eine tolle Erscheinung, wie die femmes fanden, mit seinem „wunderbaren Blick, bohrend und gleichzeitig zurückhaltend“, in seinen schwarzen Rollkragenpullovern, dem englischen Wolljackett, mit seiner Stimme, „die ins Herz floss“. Er hatte fünf Kinder aus drei Beziehungen.
Anfang der Neunziger dann kam der Bruch. Aber eben nicht in einem bestürzenden Sinn, sondern einem beglückenden. Wolfgang wechselte die Perspektive. Verließ den bequemen Platz vor der Bühne, um hinter sie zu gehen. Man hatte ihm die Stelle des Chefdramaturgen am Anhaltischen Theater Dessau angeboten. Er war gar nicht darauf vorbereitet gewesen, wie sehr ihn die neue, gänzlich andere Beschäftigung mit Theater, Oper und Musik elektrisieren würde. Was hatte er alles nicht gesehen, nicht gehört, gemütlich im Plüsch des Zuschauerraums versinkend: Die Fiebrigkeit vor einer Premiere, das Bangen, die Erwartung. Diese große Lust am künstlerischen Schaffen.
Doch dann, 2002, verschwand der Zauber mit einem Mal. Sein Herz machte nicht mehr mit. Er war ernstlich krank. Überstand zwar die Operationen, aber die Ärzte verboten ihm nachdrücklich, weiter zu arbeiten. Er litt.
Immerhin gab es noch das Klavier und seine Band, die „Mulde-Jazz-Buben“. Und natürlich konnte er zurück in den Zuschauerraum, in die erste oder zehnte Reihe ganz links oder weiter oben in die Loge.
Am 22. Mai starb Wolfgang Lange an den Folgen einer Diabeteserkrankung. Tatjana Wulfert