Nachruf auf Gertrud Frank (* am 4. Juni 1937)
Sie hatte ein Kästchen aus Holz, ihre Geheimschachtel. Sie versteckte sie, niemand durfte hineinschauen. Natürlich waren alle ihre Geschwister neugierig und löcherten sie wieder und wieder. Hatte sie Schätze darin oder gar Süßigkeiten? Gertrud, sag doch mal. Doch Gertrud schwieg. Bis eines Tages zwei ihrer Brüder in einem unbeobachteten Moment die Schachtel öffneten. Es lag ein Radiergummi darin, sonst nichts. Die beiden machten die Schachtel wieder zu, stellten sie weg und sagten niemanden etwas davon. Vielleicht spürten sie, dass man bei insgesamt elf Geschwistern das Recht auf ein Geheimnis haben sollte. Etwas, das nur einem selber gehörte, das nicht geteilt und nicht kommentiert werden soll. Gertrud war Kind Nummer sechs, ein Kind in der Mitte.
Sonntags saßen die sechs Mädchen und fünf Jungs, der Vater und die Mutter der Reihe nach in der Kirchenbank, sangen und beteten, und alles war so, wie es sein sollte. Der Vater war ein Strenger, der auch mal zuschlug, wenn ihm alles über den Kopf wuchs. Dann machte Gertrud sich ganz steif, zog die Schultern nach oben, nahm ihre Schutzstellung ein. Erst 40 Jahre später, als sie mühsam und diszipliniert Yoga lernte, dafür sogar nach Indien ging, schaffte sie es, ihren Körper weicher und entspannter werden zu lassen.
Was muss das für ein Lärm und Durcheinander in diesem kleinen Haus in Stuttgart gewesen sein, und was für eine Konkurrenz um Kartoffeln, Aufmerksamkeit und Liebe. Als Gertrud 16 war, als sie sich bis aufs Gymnasium vorgekämpft hatte, wurde ihre geliebte Mutter plötzlich sehr krank. Die beiden hatten eine besondere Verbindung, zumindest sah Gertrud das so. Einmal nahm der Vater sie mit ins Krankenhaus, da lag die Mutter, ganz schwach schon, es war das letzte Mal, dass Gertrud sie sah.
Der Vater beorderte die Mädchen, die schon groß genug waren, von der Schulbank in den Haushalt. Putzen, kochen, waschen, sich um die kleinen Geschwister kümmern. Auch Gertrud tat das, zwei, drei Jahre lang, bis sie eine Ausbildung begann. Wie schwer es damals auch gewesen war, die Familie hielt weiter zusammen. Als die Geschwister längst eigene Familien hatten, trafen sie sich noch mindestens einmal im Jahr. Oft war es Gertrud, die die Feste organisierte. Sie vermittelte zwischen den Geschwistern, wenn es Unstimmigkeiten gab. Saßen sie dann alle an der Tafel, sollte jeder sagen, wie es ihm geht, und was in letzter Zeit passiert war, aber schnell, bitte, damit jeder drankam. Am besten verstand Gertrud sich mit ihrem Bruder Reinhold. Als der gestorben war, erschien er ihr im Traum, beruhigte und tröstete sie und sagte ihr, dass er hier oben auf sie warten würde.
Berlin war die Freiheit, die Gertrud brauchte, damals, 1975, als sie einen guten Teil ihres Lebens bereits gelebt hatte. Erzieherin war sie geworden, hatte eine Kita mit aufgebaut, Sozialpädagogik studiert, Ausbildungen zur Gesprächstherapeutin und Supervisorin gemacht. Überhaupt machte sie ständig Fortbildungen. In Berlin arbeitete sie nun für das Bezirksamt Spandau und beriet Kita-Leiterinnen und Erzieherinnen, die mit einer Situation nicht weiterkamen, oder die sich weiterentwickeln sollten.
Einen Mann an ihrer Seite hatte sie in all den Jahren nicht. Es gab zwar mal einen, den sie liebte, der sie liebte, fast hätten sie geheiratet, es war schon alles geplant. Doch kurz davor ging Gertrud noch einmal in sich: Wollte sie wirklich Hausfrau werde? Wollte sie sich auf Kinder konzentrieren, auf die Wäsche, den Abwasch? So wie sie das in ihrem Elternhaus hatte tun müssen? „Ich hasse abwaschen, ich habe in meinem Leben schon genug abgewaschen“, sagte sie. Zurück blieb ein enttäuschter Verlobter, der die Welt nicht mehr verstand.
Seither konzentrierte sie sich in Liebesdingen auf Männer, die keine Gefahr für sie waren. Das ergab dann schöne Affären, die sie nach einer gewissen Zeit beenden konnte. Dass ihr insgesamt etwas fehlte, den Eindruck hatte niemand. Wenn sie Sehnsucht nach Kindern hatte, gab es die Nichten und Neffen, mit denen sie toben und in den Urlaub fahren konnte.
Gertrud bezog eine große Wohnung in Charlottenburg, die sie mit schönen Kleidern und Schmuck füllte und überhaupt mit ihrem Leben, in dem immer etwas los zu sein schien. Viele Freunde und Freundinnen vertrauten sich Gertrud an. Sie hörte zu und kam nicht sofort mit einem Ratschlag um die Ecke. Brauchte jemand Hilfe, war sie da, ganz praktisch, Essen kochen, einkaufen, auf die Kinder aufpassen, zuhören. Als eine Freundin in eine psychische Krise geriet, half sie ein Jahr lang aus und war vor allem für die Kinder eine Stütze. Erkrankte der Mann einer anderen Freundin an Krebs, war Gertrud da, tröstete, verpflegte und begleitete. Von sich selbst berichtete sie kaum. Man musste sie schon explizit danach fragen.
Mit Yoga hatte sie mit 52 angefangen. Auf alltäglichen Fotos sieht man sie immer mit einem Lachen im Gesicht. Auf Fotos, auf denen sie Yoga macht, ist da eine große Konzentration und Ernsthaftigkeit. Um sechs stand sie auf, um noch vor der Arbeit diese Steifheit aus ihrer Kindheit aus dem Körper zu jagen. Zweimal flog sie für jeweils vier Wochen nach Indien, mietete sich eine Wohnung und eine Vespa und düste jeden Tag quer durch Pune zu ihrem strengen Yoga-Lehrer. Gertrud quälte sich und wurde dadurch weicher und weicher, bis sie sich ganz fallenlassen konnte. Einmal fragte der Lehrer sie, wer sie denn wirklich sein möchte. Da sagte sie: „Die wilde Gertrud“.
Zwei Jahrzehnte später, nach unzähligen Seminaren und Workshops, wurde Gertrud selbst Yogalehrerin. Mit Anfang 70 unterrichtete sie Menschen ab 55. In einem Moment war sie streng und fordernd, im nächsten deckte sie die Leute liebevoll mit Decken zu, wenn diese sich in die Entspannungsphase begeben sollten. Gab es in ihrem Yoga-Zentrum Streit, war selbstverständlich Gertrud die Schlichterin.
Unabhängig, körperlich, geistig und finanziell, blieb sie fast bis zum Schluss. Noch sechs Tage vor ihrem Tod fuhr sie zum Familienfest, so optimistisch und lebenskräftig wie immer. Die allerletzten Tage waren es ihre Freundinnen und ihre Familie, die sich um sie kümmerten, bei ihr schliefen, ihre Hand hielten, bis sie starb. Karl Grünberg
Sonntags saßen die sechs Mädchen und fünf Jungs, der Vater und die Mutter der Reihe nach in der Kirchenbank, sangen und beteten, und alles war so, wie es sein sollte. Der Vater war ein Strenger, der auch mal zuschlug, wenn ihm alles über den Kopf wuchs. Dann machte Gertrud sich ganz steif, zog die Schultern nach oben, nahm ihre Schutzstellung ein. Erst 40 Jahre später, als sie mühsam und diszipliniert Yoga lernte, dafür sogar nach Indien ging, schaffte sie es, ihren Körper weicher und entspannter werden zu lassen.
Was muss das für ein Lärm und Durcheinander in diesem kleinen Haus in Stuttgart gewesen sein, und was für eine Konkurrenz um Kartoffeln, Aufmerksamkeit und Liebe. Als Gertrud 16 war, als sie sich bis aufs Gymnasium vorgekämpft hatte, wurde ihre geliebte Mutter plötzlich sehr krank. Die beiden hatten eine besondere Verbindung, zumindest sah Gertrud das so. Einmal nahm der Vater sie mit ins Krankenhaus, da lag die Mutter, ganz schwach schon, es war das letzte Mal, dass Gertrud sie sah.
Der Vater beorderte die Mädchen, die schon groß genug waren, von der Schulbank in den Haushalt. Putzen, kochen, waschen, sich um die kleinen Geschwister kümmern. Auch Gertrud tat das, zwei, drei Jahre lang, bis sie eine Ausbildung begann. Wie schwer es damals auch gewesen war, die Familie hielt weiter zusammen. Als die Geschwister längst eigene Familien hatten, trafen sie sich noch mindestens einmal im Jahr. Oft war es Gertrud, die die Feste organisierte. Sie vermittelte zwischen den Geschwistern, wenn es Unstimmigkeiten gab. Saßen sie dann alle an der Tafel, sollte jeder sagen, wie es ihm geht, und was in letzter Zeit passiert war, aber schnell, bitte, damit jeder drankam. Am besten verstand Gertrud sich mit ihrem Bruder Reinhold. Als der gestorben war, erschien er ihr im Traum, beruhigte und tröstete sie und sagte ihr, dass er hier oben auf sie warten würde.
Berlin war die Freiheit, die Gertrud brauchte, damals, 1975, als sie einen guten Teil ihres Lebens bereits gelebt hatte. Erzieherin war sie geworden, hatte eine Kita mit aufgebaut, Sozialpädagogik studiert, Ausbildungen zur Gesprächstherapeutin und Supervisorin gemacht. Überhaupt machte sie ständig Fortbildungen. In Berlin arbeitete sie nun für das Bezirksamt Spandau und beriet Kita-Leiterinnen und Erzieherinnen, die mit einer Situation nicht weiterkamen, oder die sich weiterentwickeln sollten.
Einen Mann an ihrer Seite hatte sie in all den Jahren nicht. Es gab zwar mal einen, den sie liebte, der sie liebte, fast hätten sie geheiratet, es war schon alles geplant. Doch kurz davor ging Gertrud noch einmal in sich: Wollte sie wirklich Hausfrau werde? Wollte sie sich auf Kinder konzentrieren, auf die Wäsche, den Abwasch? So wie sie das in ihrem Elternhaus hatte tun müssen? „Ich hasse abwaschen, ich habe in meinem Leben schon genug abgewaschen“, sagte sie. Zurück blieb ein enttäuschter Verlobter, der die Welt nicht mehr verstand.
Seither konzentrierte sie sich in Liebesdingen auf Männer, die keine Gefahr für sie waren. Das ergab dann schöne Affären, die sie nach einer gewissen Zeit beenden konnte. Dass ihr insgesamt etwas fehlte, den Eindruck hatte niemand. Wenn sie Sehnsucht nach Kindern hatte, gab es die Nichten und Neffen, mit denen sie toben und in den Urlaub fahren konnte.
Gertrud bezog eine große Wohnung in Charlottenburg, die sie mit schönen Kleidern und Schmuck füllte und überhaupt mit ihrem Leben, in dem immer etwas los zu sein schien. Viele Freunde und Freundinnen vertrauten sich Gertrud an. Sie hörte zu und kam nicht sofort mit einem Ratschlag um die Ecke. Brauchte jemand Hilfe, war sie da, ganz praktisch, Essen kochen, einkaufen, auf die Kinder aufpassen, zuhören. Als eine Freundin in eine psychische Krise geriet, half sie ein Jahr lang aus und war vor allem für die Kinder eine Stütze. Erkrankte der Mann einer anderen Freundin an Krebs, war Gertrud da, tröstete, verpflegte und begleitete. Von sich selbst berichtete sie kaum. Man musste sie schon explizit danach fragen.
Mit Yoga hatte sie mit 52 angefangen. Auf alltäglichen Fotos sieht man sie immer mit einem Lachen im Gesicht. Auf Fotos, auf denen sie Yoga macht, ist da eine große Konzentration und Ernsthaftigkeit. Um sechs stand sie auf, um noch vor der Arbeit diese Steifheit aus ihrer Kindheit aus dem Körper zu jagen. Zweimal flog sie für jeweils vier Wochen nach Indien, mietete sich eine Wohnung und eine Vespa und düste jeden Tag quer durch Pune zu ihrem strengen Yoga-Lehrer. Gertrud quälte sich und wurde dadurch weicher und weicher, bis sie sich ganz fallenlassen konnte. Einmal fragte der Lehrer sie, wer sie denn wirklich sein möchte. Da sagte sie: „Die wilde Gertrud“.
Zwei Jahrzehnte später, nach unzähligen Seminaren und Workshops, wurde Gertrud selbst Yogalehrerin. Mit Anfang 70 unterrichtete sie Menschen ab 55. In einem Moment war sie streng und fordernd, im nächsten deckte sie die Leute liebevoll mit Decken zu, wenn diese sich in die Entspannungsphase begeben sollten. Gab es in ihrem Yoga-Zentrum Streit, war selbstverständlich Gertrud die Schlichterin.
Unabhängig, körperlich, geistig und finanziell, blieb sie fast bis zum Schluss. Noch sechs Tage vor ihrem Tod fuhr sie zum Familienfest, so optimistisch und lebenskräftig wie immer. Die allerletzten Tage waren es ihre Freundinnen und ihre Familie, die sich um sie kümmerten, bei ihr schliefen, ihre Hand hielten, bis sie starb. Karl Grünberg