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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Nina Mühe (* am 14. November 1972)

Um zu einem Glauben zu finden, muss man auf der Suche sein. Nina war das, immer schon. Es muss doch mehr geben als den Alltag, aufstehen, arbeiten, essen, schlafen und dann alles wieder von vorn. In den letzten Wochen vor Ninas Tod, in dieser Phase zwischen Angst und Hoffnung, kam sie ihrem Gott und damit auch dem Sinn ihres Lebens näher. Ihr Gott hieß Allah. Nina war Muslima.
Ganz anders als die Eltern. Die Mutter stand von morgens bis abends in ihrer Apotheke in einer kleinen Stadt im Fichtelgebirge. Sie verdiente das Geld und hielt die Familie zusammen. Der Vater war eine Art Künstler, vor allem aber ein Sonderling und durchaus unberechenbar. Angst hatten sie vor ihm, Nina und ihre jüngere Schwester. Nina löste das Problem, indem sie einfach nicht zu Hause war, sondern unter Leuten. Sie spielte im Schultheater, sie sang im Chor, sie ging zur evangelischen Jugendgruppe. Da war diese Neugierde in ihr, auf die Menschen, auf die Welt, auf das Spirituelle. Diskussionen liebte sie. Sie redete und redete, bis sie glaubte, gewonnen zu haben. Die guten Noten in der Schule flogen ihr zu.
Ende der 90er verbrachte Nina ein Jahr in Guinea in Westafrika, um für ihre Ethnologie-Diplomarbeit zu forschen. Sie wohnte bei einer Familie, deren Oberhaupt eine religiöse Größe im Ort war. Zu ihm kamen die Leute, wenn es um größere Fragen ging, um den Islam, aber auch um Streitereien. Irgendwann begann Nina mitzubeten. Aus Neugierde. Als der Fastenmonat kam, fastete sie mit, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Als sie von Guinea Abschied nahm, war da eine Sehnsucht in ihr nach dieser Religion, aber auch nach diesem Gemeinschaftsgefühl.
Nina wählte die schönsten und buntesten Kopftücher. Und dennoch: Ohne Kopftuch war sie die blonde junge Frau, die mit ihren bunten Sachen vielleicht etwas flippig gekleidet war; mit Kopftuch war sie die Fremde, die andere, mal nur angestarrt, mal beleidigt, mal angegriffen. War sie denn nicht dieselbe?
Nina war eine Freundin, mit der man lachte und froh war, der man sein Herz ausschütten konnte, die auch von ihren Sorgen und Problemen redete, von der schwierigen Beziehung, von dem Kinderwunsch, der unerfüllt bleibt.
Sie hatte das Glaubensbekenntnis gesprochen und nahm ihre Beziehung zu ihrem Gott sehr ernst. Ihm offenbarte sie ihr Herz, bei ihm fühlte sie sich geborgen, so beschreibt es eine Freundin. Die Regeln gaben ihr Halt: kein Alkohol, nicht mal eine Weißweinsauce, die Gebetszeiten waren fest. Da rollte sie ihren Teppich aus, kniete nieder, presste die Stirn auf den Boden, richtete sich auf. Dafür stieg sie auch aus dem Zug und nahm danach den nächsten. Ins Wasser ging sie nur mit Ganzkörperbekleidung. Für sie war all das selbstverständlich, für ihre Familie nicht.
Streiten und diskutieren konnte sie ja schon immer, also stritt sie von nun gegen die Diskriminierung von Muslimen wie auch gegen Antisemitismus. Sie hielt Vorträge in Berliner Schulen, in Forschungsprojekten befasste sie sich mit Heimatgefühlen von Muslimen in Berlin und mit der Benachteiligung von Schülerinnen mit Kopftuch. Für Behörden hielt sie Seminare über religiöse Vielfalt und Diversität. Zeitungen und Blogs berichteten über sie. Wenn sie mit Islamisten in Verbindung gesetzt wurde, traf sie das. Sie gründete Organisationen, entwarf Allianzen, wurde vom Berliner Senat und von Bundesinnenministerium als Moderatorin für Konferenzen berufen.
Je wichtiger ihr diese Arbeit war, desto dünnhäutiger wurde sie. Sie sprach kaum noch über anderes - nur wenn sie mit Kindern spielte, mit denen ihrer Schwester oder von Freundinnen, vergaß sie alles andere.
„Wir haben alle erst einmal den Kopf geschüttelt“, erinnert sich eine Freundin. Nina hatte Ibrahim übers Internet kennengelernt. Ein Apotheker aus Syrien, der in Saudi-Arabien lebte. „Ein ganzes Jahr schrieben und skypten wir“, erzählt Ibrahim. Ihm gefiel, dass sie schön war, stark und klug. Nach einem Jahr trafen sie sich in Istanbul. Ibrahim holte sie vom Flughafen ab. „Ich war so aufgeregt“, sagt er. Doch als er sie sah und sie ihn, war alles gut. Gemeinsam erkundeten sie die Stadt, im Hotel wohnten sie in getrennten Zimmern. „Ibrahim hat ihr gut- getan“, sagen ihre Freundinnen. Nina und Ibrahim wollten heiraten, gleich hier in Istanbul. Doch einen Imam zu finden, der die Deutsche und den Syrer trauen würde, war schwer. Die Papiere zu organisieren, seine teilweise im Kriegsland, ihre nur auf Deutsch, war noch schwerer. Aber es gelang, wenn auch die Hochzeitszeremonie äußerst bescheiden ausfiel.
Dann flog sie nach Deutschland und er kam nach. Diesmal holte sie ihn vom Flughafen ab. Diesmal war sie furchtbar aufgeregt. Würde er sich in Berlin zurechtfinden, in Deutschland? Sie wohnten in Grünau, der Wald lag vor der Tür, eigentlich ein Paradies. Doch schon sein Nachname wirkte fremd zwischen den Müllers und den Neumanns. „Ich bin ein sehr freundlicher Mensch und mir macht es nichts, wenn Menschen böse schauen“, sagt Ibrahim. Aber Nina hat es belastet, wenn Aufkleber rechter Parteien auf ihrem Briefkasten landeten und wenn sie angegangen wurde. Vor einem Mann konnte sie sich im letzten Moment in den Gitterverschlag für die Mülltonnen retten, bis ein Nachbar zu Hilfe kam. Sie zogen nach Kreuzberg. Eine Befreiung.
Wenn Ibrahim darüber spricht, wie der Krebs bei Nina diagnostiziert wurde, wie sie die Chemo durchstand, dann spricht er immer in der Wir-Form. Was wir durchgemacht haben. Der Weg, den wir gegangen sind. Er war an ihrer Seite, immer und zu jedem Moment ihrer Krankheit. Diese Therapie und jene, diese Operation und jene. Freundinnen besuchten sie im Krankenhaus, täglich, lachten und weinten mit ihr. Und Allah war auch noch da: Sie lernte, Koranverse zu rezitieren. Sie sprach mit ihrem Gott, bis sie zu dem Schluss kam, dass ihr Leben gut war.
Der Imam sagte, dass es die schönste Beerdigung war, die er leiten durfte. So viele Menschen, Muslime, Christen, Nicht-Gläubige, ganz alte, ganz junge. Von überallher waren sie gekommen, um Nina zu verabschieden. Karl Grünberg