Nachruf auf Oleg Ilyapour (* am 3. März 1946)
Dass er, wenn das Wetter es zuließ, mehr auf der Straße lebte als drinnen, lag nicht daran, dass es drinnen eher eng und ungemütlich war. Draußen liefen die Leute umher. Oleg konnte sie ansprechen, ob er sie nun kannte oder nicht. Er konnte ihnen flache Witze erzählen oder tiefe Weisheiten; wer dankbar dafür war, blieb stehen, Kostverächter und Menschen ohne Zeit durften gern weiterlaufen. Auf der Akazienstraße in Schöneberg wurde der große Mann mit dem Bart und den auffälligen Klamotten gesehen und gemocht.
Es gibt noch das kleine Schaufenster, das mit einem alten Stoff verhängt ist, darüber das Namensschild, „Fichu“, dahinter eine verrammelte Wunderkammer, die Nichteingeweihte für eine einsturzgefährdete Rumpelkammer halten könnten. Zu sagen, dass das Oleg Ilyapours Reich war, wäre natürlich Quatsch, denn sein Reich war ja die Straße. Das hier war sein Schrein, sein Reservoir, dem er seinen knappen Lebensunterhalt verdankte und das Bewusstsein einer sehr speziellen, kostbaren Herkunft. Die ihm umso wichtiger erscheinen mochte, je ferner ihm seine Eltern waren.
Der Vater kam aus dem Iran, daher der Name Ilyapour, die Mutter aus Russland, deshalb Oleg. Der Vater war Händler und viel unterwegs. In Moskau in den frühen Zwanzigern lernte er die Mutter kennen, sie suchten eine neue Heimat und fanden sie in Berlin, 1928. In der Akazienstraße eröffneten sie den kleinen Laden für Stoffe und Kurzwaren. Eine Tochter kam zur Welt, Editha, und fünf Jahre darauf, ein Jahr nach dem Krieg, Oleg. Der Vater war Jude und hatte sich in den letzten Jahren der Nazizeit verstecken müssen. Traumatisiert, stand er der Familie kaum mehr zur Verfügung. Die Mutter führte die Geschäfte und den Haushalt; da blieb nicht viel Zeit und Aufmerksamkeit für Kinderdinge.
Oleg begleitete sie beim Stoffeinkauf, zum Wochenmarkt und in den Laden. Das mag interessant gewesen sein und auch prägend. Aber was schert ein Kind sich schon um Prägungen, die sich erst Jahrzehnte später als solche erweisen werden? Das Kind rannte davon, immer wieder, weg von der Mutter, fort aus der Schule. Seine große Schwester musste es dann immer wieder einfangen.
Die staatlichen Stellen griffen ein. Für ein halbes Jahr kam Oleg in das Don-Bosco-Heim in Wannsee, von dem man später erfuhr, wie übel es dort zuging. Allerdings nicht von ihm. Er beschwieg diese Erfahrung und sprach lieber von anderen. Den einen erzählte er von einem teuren Internat, anderen, dass man ihn statt in den Jugendknast in ein buddhistisches Kloster in England geschickt habe, wo er erst mal sein Besteck selbst schnitzen musste. Olegs Schwester kann sich erinnern, dass er 14 Tage in einer Neuköllner Besserungsanstalt zubrachte, weil er Gaslaternen kaputtgeschossen hatte, und dass die Mutter ihn für ein paar Monate in ein englisches Kinderheim geschickt hat. Buddhistisch war da nichts.
Es kam die 68er Revolte, die als Aufstand der Studenten gelten mochte. Der schulabschlussfreie Oleg spielte dennoch mit. In der Revolutionstheorie waren andere sattelfester; er war der Mann fürs Spontane, Antiautoritäre. Bei Demonstrationen rannte er vorneweg, er ließ sich festnehmen, er beeindruckte durch Aussehen und Auftritt. Sein Schwager, ein Iraner, der in Berlin studierte und ebenfalls mitten in den Kämpfen steckte, erinnert sich: Oleg erschien bei den iranischen Studenten, hatte ja wegen seines Vaters selbst einen persischen Pass. Sonst aber hatte er mit dem Iran nichts zu tun. Die Studenten waren irritiert. Was war das für ein sonderbarer Kerl? Sehr groß, sehr auffällig in seinem knöchellangen Mantel, stark berlinernd, starke Thesen. Da sie sich als gewagter erwiesen als fundiert, kam es nicht zum revolutionären Schulterschluss.
Oleg führte ein Hippieleben. Er besetzte Häuser, er trommelte und er tanzte - keine Paartänze, eher Derwischtänze, afrikanische Tänze. Er fuhr mit dem Fahrrad nach Paris und mit dem Kleinbus nach Spanien. Er lebte von Jobs auf dem Bau und fand irgendwann eine geregelte Tätigkeit als Erzieher in einer antiautoritären Einrichtung in Neukölln.
Verheiratet war er fünf Jahre lang, dann gab es hier eine Frau, dort jene, und wenn man heute Frauen von ihm reden hört, dann - abgesehen vielleicht von seiner eher sachlichen Schwester - nur in den höchsten Tönen.
Eine Nachbarin betont seine Lust zu tanzen, auch mal nackt, „nicht erotisch, sondern biografisch!“ Da konnte er Gefühle zeigen wie kein anderer. Eine Frau, mit der er einige Jahre zusammen war, erinnert sich an seine Klugheit und seinen Witz. Als sie Urlaub auf der Insel Spiekeroog machten, hielt man ihn wegen seiner weißen Anzüge und dem Bart für einen weisen Guru. Er bestätigte das gern. Klang doch noch besser als Tuchhändler aus Schöneberg!
Und es gibt die Kundin des Tuchhändlers, die ihm vor zwei Jahren begegnete. Hatte von seinem Laden gehört, „Fichu“, da musst du hin! Sie ist Modedesignerin und entdeckte nach ein paar Anfangsschwierigkeiten eine Wunderwelt. Sie musste den Händler anrufen, damit er seinen Laden öffnete, er hatte über die Jahre ein wenig die Lust verloren. Sie durfte auf keinen Fall die Stoffe einfach anfassen, viel zu wertvoll! Überhaupt bezweifelte er, dass sie sich so was Besonderes überhaupt würde leisten können. Sie hatte nicht das Gefühl, dass dieser Verkäufer etwas verkaufen wollte.
Dafür kam sie mit ihm ins Gespräch und lernte, dass er das Geschäft 1986 übernommen hatte, nachdem seine Mutter gestorben war. Vorher ließ die ihn nicht ran. Vielleicht weil sie ihn für einen Luftikus hielt, vielleicht weil sie um die Besonderheit ihres Bestandes fürchtete. Sie verkaufte ausschließlich Stoffe, die aus der Mode gekommen waren. Wie konnte sie sicher sein, dass ihr Sohn die Unvernunft fortsetzen würde?
Tat er aber, ob aus Unvernunft oder Vernunft, oder weil er ein treuer Erbe seiner harschen, aber stets verehrten Mutter sein wollte. Synthetisches Zeug kam nicht ins Geschäft, dafür die abenteuerlichsten Muster. Die Stoffe stapelten sich bis unter die Decke, dazwischen nur ein schmaler Gang, allein er verstand die Ordnung. Kunden behandelte er streng, es sei denn, sie waren vom Fach; die Preise hielt er hoch. Die Ware war sein Schatz. Der Beleg dafür, dass er es in seiner zweiten Lebenshälfte zu etwas gebracht hatte, auf das seine Mutter stolz sein würde. Das gab er doch nicht einfach fort. Und wenn er auf der Straße mit jemandem ins Gespräch kam, war das sowieso wichtiger als die Wünsche irgendwelcher Käufer.
Jetzt liegt er in der Grube und trägt einen äußerst bunten Anzug aus einem Stoff, den ihm die Mutter hinterlassen hatte, in dem er auf der Akazienstraße zu Schöneberg etliche Passanten schwer beeindruckt hat. David Ensikat
Es gibt noch das kleine Schaufenster, das mit einem alten Stoff verhängt ist, darüber das Namensschild, „Fichu“, dahinter eine verrammelte Wunderkammer, die Nichteingeweihte für eine einsturzgefährdete Rumpelkammer halten könnten. Zu sagen, dass das Oleg Ilyapours Reich war, wäre natürlich Quatsch, denn sein Reich war ja die Straße. Das hier war sein Schrein, sein Reservoir, dem er seinen knappen Lebensunterhalt verdankte und das Bewusstsein einer sehr speziellen, kostbaren Herkunft. Die ihm umso wichtiger erscheinen mochte, je ferner ihm seine Eltern waren.
Der Vater kam aus dem Iran, daher der Name Ilyapour, die Mutter aus Russland, deshalb Oleg. Der Vater war Händler und viel unterwegs. In Moskau in den frühen Zwanzigern lernte er die Mutter kennen, sie suchten eine neue Heimat und fanden sie in Berlin, 1928. In der Akazienstraße eröffneten sie den kleinen Laden für Stoffe und Kurzwaren. Eine Tochter kam zur Welt, Editha, und fünf Jahre darauf, ein Jahr nach dem Krieg, Oleg. Der Vater war Jude und hatte sich in den letzten Jahren der Nazizeit verstecken müssen. Traumatisiert, stand er der Familie kaum mehr zur Verfügung. Die Mutter führte die Geschäfte und den Haushalt; da blieb nicht viel Zeit und Aufmerksamkeit für Kinderdinge.
Oleg begleitete sie beim Stoffeinkauf, zum Wochenmarkt und in den Laden. Das mag interessant gewesen sein und auch prägend. Aber was schert ein Kind sich schon um Prägungen, die sich erst Jahrzehnte später als solche erweisen werden? Das Kind rannte davon, immer wieder, weg von der Mutter, fort aus der Schule. Seine große Schwester musste es dann immer wieder einfangen.
Die staatlichen Stellen griffen ein. Für ein halbes Jahr kam Oleg in das Don-Bosco-Heim in Wannsee, von dem man später erfuhr, wie übel es dort zuging. Allerdings nicht von ihm. Er beschwieg diese Erfahrung und sprach lieber von anderen. Den einen erzählte er von einem teuren Internat, anderen, dass man ihn statt in den Jugendknast in ein buddhistisches Kloster in England geschickt habe, wo er erst mal sein Besteck selbst schnitzen musste. Olegs Schwester kann sich erinnern, dass er 14 Tage in einer Neuköllner Besserungsanstalt zubrachte, weil er Gaslaternen kaputtgeschossen hatte, und dass die Mutter ihn für ein paar Monate in ein englisches Kinderheim geschickt hat. Buddhistisch war da nichts.
Es kam die 68er Revolte, die als Aufstand der Studenten gelten mochte. Der schulabschlussfreie Oleg spielte dennoch mit. In der Revolutionstheorie waren andere sattelfester; er war der Mann fürs Spontane, Antiautoritäre. Bei Demonstrationen rannte er vorneweg, er ließ sich festnehmen, er beeindruckte durch Aussehen und Auftritt. Sein Schwager, ein Iraner, der in Berlin studierte und ebenfalls mitten in den Kämpfen steckte, erinnert sich: Oleg erschien bei den iranischen Studenten, hatte ja wegen seines Vaters selbst einen persischen Pass. Sonst aber hatte er mit dem Iran nichts zu tun. Die Studenten waren irritiert. Was war das für ein sonderbarer Kerl? Sehr groß, sehr auffällig in seinem knöchellangen Mantel, stark berlinernd, starke Thesen. Da sie sich als gewagter erwiesen als fundiert, kam es nicht zum revolutionären Schulterschluss.
Oleg führte ein Hippieleben. Er besetzte Häuser, er trommelte und er tanzte - keine Paartänze, eher Derwischtänze, afrikanische Tänze. Er fuhr mit dem Fahrrad nach Paris und mit dem Kleinbus nach Spanien. Er lebte von Jobs auf dem Bau und fand irgendwann eine geregelte Tätigkeit als Erzieher in einer antiautoritären Einrichtung in Neukölln.
Verheiratet war er fünf Jahre lang, dann gab es hier eine Frau, dort jene, und wenn man heute Frauen von ihm reden hört, dann - abgesehen vielleicht von seiner eher sachlichen Schwester - nur in den höchsten Tönen.
Eine Nachbarin betont seine Lust zu tanzen, auch mal nackt, „nicht erotisch, sondern biografisch!“ Da konnte er Gefühle zeigen wie kein anderer. Eine Frau, mit der er einige Jahre zusammen war, erinnert sich an seine Klugheit und seinen Witz. Als sie Urlaub auf der Insel Spiekeroog machten, hielt man ihn wegen seiner weißen Anzüge und dem Bart für einen weisen Guru. Er bestätigte das gern. Klang doch noch besser als Tuchhändler aus Schöneberg!
Und es gibt die Kundin des Tuchhändlers, die ihm vor zwei Jahren begegnete. Hatte von seinem Laden gehört, „Fichu“, da musst du hin! Sie ist Modedesignerin und entdeckte nach ein paar Anfangsschwierigkeiten eine Wunderwelt. Sie musste den Händler anrufen, damit er seinen Laden öffnete, er hatte über die Jahre ein wenig die Lust verloren. Sie durfte auf keinen Fall die Stoffe einfach anfassen, viel zu wertvoll! Überhaupt bezweifelte er, dass sie sich so was Besonderes überhaupt würde leisten können. Sie hatte nicht das Gefühl, dass dieser Verkäufer etwas verkaufen wollte.
Dafür kam sie mit ihm ins Gespräch und lernte, dass er das Geschäft 1986 übernommen hatte, nachdem seine Mutter gestorben war. Vorher ließ die ihn nicht ran. Vielleicht weil sie ihn für einen Luftikus hielt, vielleicht weil sie um die Besonderheit ihres Bestandes fürchtete. Sie verkaufte ausschließlich Stoffe, die aus der Mode gekommen waren. Wie konnte sie sicher sein, dass ihr Sohn die Unvernunft fortsetzen würde?
Tat er aber, ob aus Unvernunft oder Vernunft, oder weil er ein treuer Erbe seiner harschen, aber stets verehrten Mutter sein wollte. Synthetisches Zeug kam nicht ins Geschäft, dafür die abenteuerlichsten Muster. Die Stoffe stapelten sich bis unter die Decke, dazwischen nur ein schmaler Gang, allein er verstand die Ordnung. Kunden behandelte er streng, es sei denn, sie waren vom Fach; die Preise hielt er hoch. Die Ware war sein Schatz. Der Beleg dafür, dass er es in seiner zweiten Lebenshälfte zu etwas gebracht hatte, auf das seine Mutter stolz sein würde. Das gab er doch nicht einfach fort. Und wenn er auf der Straße mit jemandem ins Gespräch kam, war das sowieso wichtiger als die Wünsche irgendwelcher Käufer.
Jetzt liegt er in der Grube und trägt einen äußerst bunten Anzug aus einem Stoff, den ihm die Mutter hinterlassen hatte, in dem er auf der Akazienstraße zu Schöneberg etliche Passanten schwer beeindruckt hat. David Ensikat