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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Walter Kaufmann (* am 19. Januar 1924)

Auf dieser Seite schreiben wir über Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Die Texte der vergangenen Wochen finden Sie unter tagesspiegel.de/nachrufe.
Anregungen und Vorschläge für die Redaktion: per E-mail an nachrufe@tagesspiegel.de oder telefonisch 030 / 29021-14712 DER HIMMEL ÜBER BERLIN-PRENZLAUER BERG
AM 4. MAI UM 19:48 Zurück in der Heimatstadt, Duisburg. Das Elternhaus, unversehrt. Er klingelte. Ein Dienstmädchen öffnete, meldete ihn der Herrin des Hauses. Eine ältere Dame nahte, zog die Tür nur einen Spalt weit auf, als plagte sie die Angst vor Hausierern. Eine Szene, die er immer wieder in seinen Erinnerungen wachrief.
„Sie müssen doch wissen, wer ich bin?“ Die alte Dame zeigte sich zögerlich. „Meinen Vater werden Sie doch gekannt haben“, beharrte er. Sie gab nach, ein klein wenig. „Ihre Mutter, ja, die kannte ich. Flüchtig. Sie kam ja hierher, ehe sie auf die große Reise ging, und sagte: Wie soll ich denn so weit gehen ohne feste Schuhe.“ „Keine Schuhe?“, fragte er. „Schuhe schon, aber keine festen“, hörte er die Alte sagen. „Und da gaben wir Ihrer Mutter noch ein paar feste Schuhe.“ Das Haus hatten sie für ein Spottgeld erworben, und die Schuhe gab es barmherzigerweise geschenkt. Die „große Reise“, von der die neue Besitzerin des Hauses sprach, hatte die Eltern nach Theresienstadt geführt, und dann weiter nach Auschwitz. Walter blickte zu dem Fenster hoch, das einst sein Zimmerfenster war, sah, dass da noch die Antenne hing, die er als Junge ausgelegt hatte.
In jenem Jahr der Rückkehr, 1955, sprach er auch in der Kanzlei des Anwalts vor, der damals die Praxis seines Vaters übernommen hatte, und er hörte ihn sagen: „Sie meinen also, Ihr Vater sei ein Deutscher wie wir alle gewesen - da bin ich anderer Meinung, denn es war ja nicht nur eine religiöse, sondern auch eine Rassenfrage.“
Er besuchte seinen alten Lehrer, der ihm ängstlich anvertraute, dass er wie schon vor dem Krieg von einem Nazikollegen bedroht worden war. „Hüten Sie sich“, waren dessen Worte gewesen, „es kommt wieder anders, und dann geht's auch Ihnen an den Kragen.“ Er traf die ehemalige Sekretärin, die ihm, nicht ohne Hinweis auf den großen persönlichen Mut, den ihr Tun erfordert hatte, aushändigte, was der Vater ihr vor der Verschleppung zur Aufbewahrung hinterlassen hatte - eine Reiseschreibmaschine, Manschettenknöpfe, eine Krawattennadel. Und diese eine Aktenmappe, in der Walter seine Adoptionsurkunde fand. Denn er war nicht der leibliche Sohn seiner Eltern.
Walter Kaufmann wurde in Berlin geboren als Sally Jizchak Schmeidler, unehelicher Sohn einer 17 Jahre jungen jüdischen Polin mit Namen Rachela Schmeidler, Verkäuferin im Warenhaus Tietz am Alexanderplatz. Die ersten drei Jahre lebte er in einer ärmlichen Kellerwohnung im Scheunenviertel. Das Auf und Ab der Passanten, die vor dem Fenster entlangliefen, und der Geruch der Armut, das war ihm in Erinnerung geblieben. Von seinem leiblichen Vater blieb ihm kein Bild, kein Geruch. Im Spätherbst des Jahres 1955 ging Walter eine Woche in der Mulackstraße von Haus zu Haus, um etwas über seine Mutter zu erfahren, aber niemand wusste, was aus ihr geworden war.
Walters Adoptivvater praktizierte als angesehener Rechtsanwalt und Notar in Duisburg, ein Patriot, Offizier im Ersten Weltkrieg, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz, dem es das Herz brach, als sich die ehemaligen Regimentskameraden seine Anwesenheit bei der Enthüllung eines Ehrenmals für die Gefallenen aus Rassegründen verbaten.
Walters Kindheit war glücklich, der Duisburger Hafen das Tor zur Welt, und das erste Fahrrad machte aus dem Knirps einen Forschungsreisenden. Die zunehmenden Drangsalierungen durch die Mitschüler und die Lehrer quälten ihn weniger als andere, denn wann immer er wollte, entkam er in die Welt der Träume. Er begriff den Hass nicht, der ihm als Juden entgegengebracht wurde, er fühlte ihn nicht. Bis zu dem Tag der Pogrome, als ein Sturmtrupp alles kurz und klein schlug im Haus, und der Vater nach Dachau verschleppt wurde und Wochen später als ein anderer, ein gebrochener Mann wiederkehrte, der eisern schwieg über das, was er hatte erleiden müssen. Dennoch wollten die Eltern Deutschland nicht verlassen. Aber ihren Sohn, den wollten sie in Sicherheit wissen.
Gleis 13 des Duisburger Hauptbahnhofes. Walter bestieg den Zug, der ihn und etliche Hundert weitere Flüchtlingskinder nach Holland bringen sollte, von wo wir hofften, nach England zu gelangen. „Mutter“, sagte ich, sagte es aus einer Ahnung heraus, die mir durch eine unbedachte Bemerkung unserer einstigen Hausangestellten gekommen war, „sei nicht traurig. Ich bin doch gar nicht dein Kind. Drum sei nicht traurig, bitte, Mutti!“ Sie wurde blass, sie verstummte, sie erstarrte Ich hab es gut gemeint und wollte meine Mutter trösten. Und ich kann mich bis heute nicht trösten, dass ich das gemacht habe.
Erst nach dem Krieg erlangte Walter Gewissheit über das Schicksal der Eltern. Lange hatte er an ein Wunder geglaubt. Ich hatte ja von meinen Eltern durch eine Rotkreuz-Nachricht erfahren, dass sie nach Theresienstadt verschleppt worden waren. „Wir reisen heute nach Theresienstadt ab. Hoffen auf ein Wiedersehen.“
Theresienstadt klang nicht ganz so schlimm. Aber von Theresienstadt ging es weiter nach Auschwitz.
An seinem 15. Geburtstag kam Walter in London an. Doch sein reicher Onkel war nicht vor Ort und ich saß alleine auf der Liverpool Street Station, bis schließlich sich jemand meiner annahm und versuchte, Telefonkontakt mit meinem Onkel aufzunehmen. Da antwortet niemand. Und dann landete ich in einem Asyl, in einem Obdachlosenasyl im Osten von London. Am nächsten Tag erschien der Onkel, gab deutlich zu verstehen, dass Walter ihm nur eine Last war, und ließ ihn umgehend in ein Internat bringen.
Ein großes Glück war diese Schule, denn sie war von Emigranten gegründet worden, und jeder wusste um das Heimweh des anderen, und alle hielten zusammen. Eine heile Welt bis zu dem Tag, als er ins Zimmer der Direktorin gerufen wurde und erfuhr, dass er, der 16-Jährige, aufgrund eines Regierungsdekrets nunmehr als „feindlicher Ausländer“ galt, es sei denn, sein Onkel bürgte für ihn. Was der Onkel nicht tat, und so gelangte Walter mit 2000 anderen Exilierten an Bord der „Dunera“, Fahrziel unbekannt, die Hoffnung aller war Amerika oder Kanada. In jenen Wochen wurden von deutschen U-Booten Dutzende Schiffe versenkt, auch die Dunera geriet unter Beschuss, aber die Torpedos streiften das Schiff nur und explodierten unter dem Rumpf, ohne großen Schaden anzurichten.
Als Walter von Bord ging, war ihm nur geblieben, was er am Leib trug: ein Paar Hosen, die mit einem Bindfaden festgehalten waren, Sandalen, die aus Reifen geschnitten waren, und ein Flanellhemd ohne Kragen und ein Schal, der meiner Mutter gehörte. Ein Wollschal, den ich als Andenken behalten hatte, den hatte ich, hab ich bis zum heutigen Tage. So etwas behält man. Und so kam ich in Australien an.
Die Reise führte geradewegs in ein Internierungslager, wo er mehr als ein Jahr in der Einöde des australischen Hinterlandes verbringen musste. Wie kam es, dass er nicht verrückt wurde vor Kummer? Er wusste, dass irgendwo das Glück auf ihn wartete. Er hat es später beschrieben, diesen unbändigen Glauben an sich selbst, in einer kurzen Geschichte, die von einem kleinen Jungen handelt, der ein wenig verloren auf der Straße stand und ein Mädchen mit einer großen Bonbontüte sah. Das Mädchen kam auf ihn zu und drückte ihm die Tüte in die Hand. „Wahrscheinlich hielt sie dich für einen dahergelaufenen Betteljungen“, mutmaßte die erstaunte Mutter. „Nein“, sagte er mit Bestimmtheit. „Ich bin der Prinz.“
Das Leben im Lager war erträglich. Die Wachposten wussten, dass in der Einöde keiner fliehen konnte, es gab ausreichend zu essen, die älteren Internierten kümmerten sich um die jüngeren, organisierten Unterricht: Wir kamen klüger aus dem Lager heraus, als wir hineingegangen waren.
Im Februar 1942 wurde er entlassen und bald darauf als Flüchtling anerkannt. Er bekam einen australischen Pass und meldete sich freiwillig zur Armee, wo er als Eingebürgerter nur in Arbeitsbataillonen eingesetzt werden durfte - das bewahrte ihn vor der Front.
Nach dem Krieg arbeitete er als Transportarbeiter, als Fotograf und heuerte schließlich als Seemann an, weil ihm an Bord viel Zeit zum Zuhören und Schauen blieb: SEH Mann, Sehmann. Ich habe nie vorgegeben bei den wirklichen Seeleuten ein Seemann zu sein, sondern einer, der Bücher schreibt und zur See geht, um weiter Bücher schreiben zu können.
Seine erste Geschichte erschien auf Englisch, „Die einfachen Dinge“, die von der Freundschaft eines jüdischen Jungen mit einem Arbeiterjungen in Duisburg handelt. Die Erzählung erhielt einen bedeutenden australischen Literaturpreis. Fortan war er ein Schriftsteller, aber einer, der sich sein Publikum selbst suchte. Wenn er vor Hafenarbeitern und Seeleuten in der Mittagspause seine Geschichten vorlas, dann blieb ihm eine Viertelstunde, keine Epen bitte, das Wesentliche wollten sie wissen, für mehr war keine Zeit. So prägte sich sein Stil aus, kein Wort zu viel. Geschichten auf den Punkt bringen. Liebe, Freundschaft, das, was zählt im Leben.
Die Kollegen hörten ihm gern zu, vertrauten ihm, sammelten Geld und schickten ihn zu den Weltjugendspielen in Warschau 1955. Der Auftrag: Schreib darüber und erzähl darüber, wie es in der Welt zugeht. Genau das hab' ich gemacht. In Warschau wurde er in die Sowjetunion eingeladen und dann in die DDR, auf einen Schriftstellerkongress, wo er die Autoren des Exils traf, die er so sehr bewunderte, allen voran Anna Seghers.
Wo war die Heimat fortan? Australien - war Zufluchtsort gewesen. Ein Zurück nach Duisburg - undenkbar nach dem Besuch dort. Er blieb in Ost-Berlin und wurde ein bekannter Schriftsteller in der DDR, einer, der Geschichten aus aller Welt erzählte. Er konnte ja reisen, wohin er wollte, denn auf Zuraten der Funktionäre hatte er seinen alten Pass behalten. Und so sandten sie ihn als Olympiaattaché nach Melbourne und vier Jahre später als Reporter zu den Winterspielen nach Squaw Valley. Noch häufiger war er in Amerika, berichtete über den Prozess gegen die Bürgerrechtlerin Angela Davis, war Zeuge, als sich amerikanische Fliegeroffiziere zu den Kriegsverbrechen in Vietnam bekannten, wurde von Ku-Klux-Klan-Männern verfolgt und konnte mit knapper Not entkommen, weil er sich eine Nacht lang in der Halle eines Bestattungsinstituts zwischen den aufgebahrten Leichen versteckte. Er berichtete aus Kuba, wohin er kurz nach der missglückten Invasion der Amerikaner in der Schweinebucht als Decksmann auf dem Frachtschiff „Karl-Marx-Stadt“ gelangt war. Er reiste nach Irland, erzählte von den Menschen, den Kämpfen dort, entging selbst nur knapp einem Bombenanschlag. In Israel war er wieder und wieder, wollte sich ein eigenes Bild machen von dem zerstörerischen Hass und überlebte ihn nur, weil er aus Neugier den palästinensischen Bus nahm und nicht den israelischen, der kurz nach der Abfahrt in Flammen aufging.
Die Lust an der Unrast. Immer gab es irgendwo diese eine Geschichte, die es wert war, erzählt zu werden. Und wo immer er hinkam, fand er diese Geschichte, denn er konnte zuhören. Als er 1959 seine rumänische Übersetzerin Elena Lupescu in Bukarest traf, begrüßte sie ihn ein wenig spöttisch mit den Worten: „Ein Abenteurer in der Welt und in der Welt der Frauen, und sollte das Letztere zu relativieren sein, dann jedenfalls einer, der die Frauen mit einem Männerblick sieht.“ Was stimmte und doch ein wenig zu kurz griff, denn wenn er auch selten den Frauen treu blieb, so doch stets der Liebe.
Er bat die Übersetzerin, von sich zu erzählen, von ihren Gefühlen, denn er sah das Bild eines russischen Offiziers auf dem Kaminsims stehen. Die große Liebe ihres Lebens, gestand sie nach kurzem Zögern. Drei Monate hatte sie gewährt. Dann war er ihretwegen strafversetzt worden. Nie mehr hat sie von ihm gehört. Jahre später war sie nach Moskau gereist, fand seine Adresse heraus, klingelte an seiner Tür. Die Ehefrau des Verbannten öffnete, sah sie, sprach: „Sie sind das Unglück meines Lebens.“ Und schloss die Tür. Es braucht nicht immer fünf Akte, um eine Tragödie zu vergegenwärtigen.
Walter Kaufmann hat viele solcher Geschichten aufgeschrieben. Und doch, rückblickend erscheint mir die Zeit begrenzt, die mir zum Staunen blieb - nur wenige Jahre wollen da zusammenkommen. Und nur beim Schreiben wird es mir gelingen, die Zeit auszudehnen.
Er hätte sie gern noch viel länger ausgedehnt, noch viel länger zuhören wollen, aber er konnte nicht mehr auf die Menschen zugehen, trotz seines wachen Geistes und seiner Neugier, er war zuletzt zu schwach auf den Beinen. Kein Gehstock, den verbat er sich, lieber stürzte er. Er konnte sehr, sehr bockig sein. Anders hätte er seine Reise um die Welt in 97 Jahren auch nie so glücklich beenden können. Gregor Eisenhauer
Foto: Walter Sommer