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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Alfred Christmann (* am 31. Januar 1944)

Im November 2003 gibt Klaus Wowereit der Zeitschrift „Focus Money“ ein Interview und sagt den Satz: „Berlin ist arm, aber sexy.“ Im Jahr darauf streicht der Senat die finanzielle Unterstützung für die „Berliner Symphoniker“. Das Orchester muss Insolvenz anmelden, spielt jedoch noch ein Abschiedskonzert im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Bevor es losgeht, tritt Alfred Christmann, Vorsitzender des Trägervereins „Berolina-Orchester e.V.“, auf die Bühne und verkündet: „Wann die Berliner Symphoniker aufhören, bestimmen wir. Das ist nicht das letzte Konzert.“
Er behält Recht, es ist nicht Schluss, es wird weitergehen. 17 Jahre nach diesem Konzert schreibt der ehemalige Präsident des Abgeordnetenhauses in einem Kondolenzbrief: „Dass das Orchester heute noch besteht, ist allein Alfred zu verdanken.“
Berlin ist arm, aber sexy. Ein vergnügter Satz, ein griffiger Slogan, um die fröhliche Tanz- und Feierstadt zu bewerben: An Geld mangelt es zwar an allen Ecken, doch das macht ja nichts, es gibt ja genug zu erleben. Zum Beispiel, dass man von einem Tag auf den anderen ohne Arbeit dasteht. Die Künstler haben doch immerhin ihre Kunst, mögen sich die Verantwortlichen beim Senat gedacht zu haben. Miete, Lebensmittel, sonstige Kleinigkeiten? Halb so wild.
„So geht es nicht“, sagte Alfred Christmann und begann mit der Rettungsaktion: 2005, ein Jahr nach der Insolvenz, erfolgte der Neustart. Die 60 entlassenen Musiker wurden freiberuflich vom Trägerverein für einzelne Konzerte engagiert, zur Finanzierung der Abonnementskonzerte in der Philharmonie und am Gendarmenmarkt - die Häuser müssen jeweils angemietet werden - tourte das Orchester im Ausland, die Lottostiftung und andere beteiligten sich an der Unterstützung. Krisenmanagement wurde zur Daueraufgabe.
Alfred Christmann selbst war kein Künstler. Er hörte Musik, hatte sich immer schon von ihr hin- und mitreißen lassen, als Kind, zu Hause, wo die Wohnung vom Klavierspiel der Mutter erfüllt gewesen war. Er fuhr in die Wiener Staatsoper und zu den Wiener Philharmonikern. Er mochte vor allem Chopin, Rachmaninow und Brahms. Und wahrscheinlich wäre er ein zwar enthusiastischer aber letztlich doch herkömmlicher Musikhörer und Konzertbesucher geblieben, hätte er nicht auch die soziale Bedeutung der Kultur gesehen. Kunst darf nicht allein den Wohlhabenden zugänglich sein, die sich die Konzertkarten leisten können. Er hatte es ja in der eigenen Familie gesehen: Sein Vater, ein Schraubenfabrikant aus Friedenau, starb, als Alfred zwölf war. Mit dem Wohlstand hatte es ein Ende, die Mutter musste jetzt für alles allein aufkommen. Sie verkaufte ihr Klavier, wurde traurig und einsam. Alfred versuchte, sie aufzuheitern, holte sie von der Arbeit ab, ging mit ihr spazieren, hörte ihr zu. Und lernte, Verantwortung zu übernehmen. Amtliche Briefe schrieb er, Behördengänge absolvierte er. Mit der staatlichen Unterstützung studierte er Technische Betriebswirtschaftslehre und elektronische Datenverarbeitung an der TU Berlin. Er gehörte zu den Gründern des Fachbereichs Informatik, schloss sein Studium im Oktober 1970 als Jahrgangsbester ab, wofür es eine Medaille gab. Er sagte, er wolle kein „Knecht der kapitalistischen Großunternehmen“ und entschied sich für den öffentlichen Dienst.
Die „Berliner Symphoniker“ waren nicht allein unter musikalischen Aspekten ein hervorragendes Orchester, sie waren auch das erste, das preisreduzierte „Konzerte für die ganze Familie“ und „Klassik für Jugendliche“ einführte. Die Musiker besuchten Schulen und stellten dort ihre Instrumente vor. Während einer Südamerika-Tournee unterstützten sie die Gründung eines Orchesters mit venezolanischen Straßenkindern. Nach der Wiedervereinigung integrierten sie arbeitslos gewordene Musiker aus dem „Großen Rundfunkorchester“ der DDR.
Beim Statistischen Landesamt wurde Alfred Christmann jüngster Referatsleiter und später jüngster Abteilungsleiter. Er war maßgeblich daran beteiligt, das Konzept für eine „Struktur- und Planungsdatenbank“ zu erstellen, um den riesigen Datenbestand endlich effektiv nutzen zu können und verschiedenen Institutionen miteinander zu vernetzen. Was hölzern klingen mag, war damals eine große Sache. Ein ehemaliger Kollege schrieb: „Berlin war in den 70ern so etwas wie der Thinktank der deutschen amtlichen Statistik.“
Mitte der 80er wurde Alfred Christmann nach Köln abberufen und leitete als Direktor das kommunale Amt für Statistik, Einwohnerwesen, Wahlen und Europaangelegenheiten. Auch hier war er an großen, Zukunft verheißenden Projekten beteiligt. Er veranlasste, dass die Firmen ihre Computer nicht einfach nur liefern, sondern auch warten und weiterentwickeln. Er entwarf ein standardisiertes Verfahren für die Verarbeitung der Daten aus der Volkszählung 1987, das von 100 anderen Kommunen übernommen wurde.
Im Jahr 2000 ließ er sich pensionieren und zog, zusammen mit Desanka, seiner zweiten Frau, zurück nach Berlin. Er kaufte ein Haus in Wannsee, gründete erst eine Beratungs- und später eine Immobilienfirma. Und wurde Vorsitzender des Trägervereins der „Berliner Symphoniker“.
Mit Desanka lebte er so eng und zufrieden, dass ihnen das Glück unendlich erschien. Sie reisten, sie trafen Freunde, sie hörten Chopin und Rachmaninow und Brahms, sie sprachen miteinander, unaufhörlich.
Natürlich war ihnen klar, wie grauenhaft die Pandemie ist, wie viel Not sie erzeugt, wie viel Einsamkeit. Doch in ihrem Fall schien es anders. Sie rückten noch näher aneinander. Es ging ihnen gut. „Sind wir nicht glücklich? Hoffentlich bleiben wir gesund“, sagte Alfred zu Desanka und nahm sie in die Arme.
Am 19. März fühlte er sich unwohl, legte sich mitten am Tage hin, was er sonst nie tat. Er kam ins Krankenhaus, wurde nach umfassender Untersuchung nach Hause geschickt, musste aber, da er sich unwohl fühlte, erneut die Feuerwehr rufen. Am 21. März starb er im Krankenhaus. Wegen der Pandemiebestimmungen konnte Desanka, seine Frau, ihn auf seinem letzten Weg nicht mehr begleiten. Tatjana Wulfert