Nachruf auf Ursula Müller (* am 15. März 1921)
„Kinder! macht Neues! Neues! Und abermals Neues!“, schrieb Richard Wagner 1852 an Franz Liszt. Neues soll her, das gilt zu jeder Zeit, das galt entschieden in Deutschland ab Mai 1945, das würde für sie, für Ursula selbst gelten, das wusste sie mit aller Bestimmtheit. Sie setzte sich ans Klavier und spielte Bartók, Schönberg, Poulenc, spielte, was den Nazis verhasst gewesen war, wollte deren Wagner, deren Heimatkitsch, deren Märsche nicht mehr. Befreite sich von der Ideologie, die ihr und ihren Altersgenossen in die Köpfe gehämmert worden war. Spielte die neuen Klänge und Klangfolgen so radikal, dass sie das Klassikpublikum irritierte, namentlich in den kleinen Städten. Schönberg und Poulenc in der Provinz! Ein Kritiker aus Halle schrieb 1951: „Reine moderne Abende sind noch immer selten, was bei dem damit verbundenen Risiko nicht verwunderlich ist.“ Was schade sei, denn: „Ursula Müller ist eine ausgezeichnete Vertreterin dieses Sondergebiets. Sie erfüllt nicht nur die dafür nötigen technischen Voraussetzungen, sie hat sich auch mit fanatischer Besessenheit in diese nicht immer leicht zugängliche Materie hineingearbeitet.“ Ein anderer Kritiker schrieb: „Leider war der Kreis der Interessenten - wie es in Anbetracht der chronischen Abneigung der Musikfreunde gegenüber dem heutigen Schaffen kaum anders zu erwarten war - nicht gerade groß.“ Die Ideologie hatte sich geändert, die Hörgewohnheiten nicht.
Ganz und gar kein Musikfreund war Ursulas Vater, ein streng und bescheiden lebender Lehrer, der nicht in die NSDAP eingetreten war, dessen Sohn, Ursulas Bruder, den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt hatte. „Pianistin willst du werden?“, sagte der Vater. „Diese Dummheit wirst du nicht machen!“ Sie einigten sich auf einen Kompromiss: Ursula wurde Musikerzieherin für höhere Schulen und Deutschlehrerin.
1944 begann sie ihre Referendarzeit in Halle an der Saale. Und lernte dort ihren zukünftigen Mann Hans Müller kennen. Hans' Elternhaus stand in diametralem Gegensatz zu ihrem, hier war die Welt, nach der sie strebte, offen, lebendig, allem Künstlerischen zugetan. Sie fasste Mut und schrieb sich an der Musikhochschule ein: Pianistin, endlich. Von einem Klavierabend zum nächsten reiste sie, hielt Vorträge über zeitgenössische Musik, spielte in wechselnden Formationen. Bis sie nicht mehr spielen konnte, weil sie schwanger war. Ihr letztes Konzert gab sie im Frühjahr 1955, zwei Monate vor der Geburt ihres Sohnes.
Beides ging nicht, Kind und Klavier, die Konkurrenz unter den Pianisten war zu stark, man musste immer exzellent spielen, um nicht von den Kritikern verrissen zu werden. Sie hatte sich entschieden, sie wollte das Kind. Ihre Musik- und Kunstbesessenheit schwand deshalb keineswegs. An den Abenden war sie ununterbrochen unterwegs, besuchte die Oper, Ballett, Konzerte. Begleitet wurde sie von ihrem Mann, einem Architekten, der es zum Senatsbaudirektor brachte, oder von einem Freund, der Journalist und Tanzkritiker war. Wenn sie mit ihm in ihrem roten Mini zu den Aufführungen fuhr, sprachen die Leute von der „Berliner Ballettfeuerwehr“.
Zu Hause, in der Wohnung am Steinplatz, gab es jeden Sonntag ein spätes, langes Frühstück, von zwölf bis zwölf, zu dem sich Komponisten, Tänzer, Choreografen, Literaten versammelten und intensive Gespräche über Kunst und Gesellschaft führten, Jahre, bevor die Studenten die Bundesrepublik aufmischten. Denn auch die 50er bestanden nicht nur aus Verdrängung, ein bisschen Rock 'n' Roll und Wirtschaftswunder. Eine intellektuelle Avantgarde hörte die wildeste Musik und vertrat die offensivsten Kunstansichten. Ursula fuhr zu den „Darmstädter Ferienkursen“, einer alle zwei Jahre stattfindenden Veranstaltung, auf der Komponisten und Musiker das Neueste der „Neuen Musik“ debattierten, sie traf dort Arnold Schönberg und Karlheinz Stockhausen. Sie führte ein Geistesleben.
Bis ihr Körper aufmuckte. Allzu häufig plagten sie Verspannungen und Migräne. Es glich fast einem Eingeständnis: Der Mensch besteht nicht nur aus Intellekt.
Sie wurde auf die Atemtherapie aufmerksam. Und entschloss sich 1972 zu einer fünfjährigen Ausbildung. Den Kontakt zur Musik behielt sie, wurde Lehrbeauftragte an der Musikhochschule, unterrichtete Bläser, Streicher und natürlich Sänger. Sagte: „Der Atem ist wie der Rhythmus.“ Lehrte an der Volkshochschule, gründete eine Atemtherapiegruppe und eine Meditationsgruppe, zu Zeiten, da noch nicht an jeder Ecke tief ein- und tief ausgeatmet wurde, band den Tanz mit ein, hatte eine große Gefolgschaft. Menschen, die mehrmals wöchentlich zu ihr an den Steinplatz kamen, in den großen Raum nach vorn raus, nannten Ursula, inzwischen ergraut, „die alte Weise“.
Mit 90 gab sie die Kurse auf. Hans, ihr Mann, war 2010 gestorben, es wurde ruhiger in der Wohnung. Aber sich gehen lassen? Auf keinen Fall. Gymnastik am Morgen, Gymnastik am Abend, tägliche Lektüre, hin und wieder auf Französisch, auf Englisch. Es gibt eben Dinge, die müssen, will man vorwärtskommen, diszipliniert getan werden.
Sie setzte sich auch wieder ans Klavier, jeden Tag zweieinhalb Stunden, musizierte mit einem Cellisten und einem Sänger, bis zum Dezember des vergangenen Jahres, drei Monate vor ihrem hundertsten Geburtstag. Sie stürzte, brach sich den Oberschenkelhals und infizierte sich dann auch noch mit dem Virus. Den aber überstand sie gut, ein wenig Wasser in der Lunge, keine große Sache. Schwerwiegender war der steife Ellenbogen. Es ging nicht mehr, sie konnte nicht mehr spielen. Am 9. März ist Ursula Müller gestorben. Tatjana Wulfert
Ganz und gar kein Musikfreund war Ursulas Vater, ein streng und bescheiden lebender Lehrer, der nicht in die NSDAP eingetreten war, dessen Sohn, Ursulas Bruder, den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt hatte. „Pianistin willst du werden?“, sagte der Vater. „Diese Dummheit wirst du nicht machen!“ Sie einigten sich auf einen Kompromiss: Ursula wurde Musikerzieherin für höhere Schulen und Deutschlehrerin.
1944 begann sie ihre Referendarzeit in Halle an der Saale. Und lernte dort ihren zukünftigen Mann Hans Müller kennen. Hans' Elternhaus stand in diametralem Gegensatz zu ihrem, hier war die Welt, nach der sie strebte, offen, lebendig, allem Künstlerischen zugetan. Sie fasste Mut und schrieb sich an der Musikhochschule ein: Pianistin, endlich. Von einem Klavierabend zum nächsten reiste sie, hielt Vorträge über zeitgenössische Musik, spielte in wechselnden Formationen. Bis sie nicht mehr spielen konnte, weil sie schwanger war. Ihr letztes Konzert gab sie im Frühjahr 1955, zwei Monate vor der Geburt ihres Sohnes.
Beides ging nicht, Kind und Klavier, die Konkurrenz unter den Pianisten war zu stark, man musste immer exzellent spielen, um nicht von den Kritikern verrissen zu werden. Sie hatte sich entschieden, sie wollte das Kind. Ihre Musik- und Kunstbesessenheit schwand deshalb keineswegs. An den Abenden war sie ununterbrochen unterwegs, besuchte die Oper, Ballett, Konzerte. Begleitet wurde sie von ihrem Mann, einem Architekten, der es zum Senatsbaudirektor brachte, oder von einem Freund, der Journalist und Tanzkritiker war. Wenn sie mit ihm in ihrem roten Mini zu den Aufführungen fuhr, sprachen die Leute von der „Berliner Ballettfeuerwehr“.
Zu Hause, in der Wohnung am Steinplatz, gab es jeden Sonntag ein spätes, langes Frühstück, von zwölf bis zwölf, zu dem sich Komponisten, Tänzer, Choreografen, Literaten versammelten und intensive Gespräche über Kunst und Gesellschaft führten, Jahre, bevor die Studenten die Bundesrepublik aufmischten. Denn auch die 50er bestanden nicht nur aus Verdrängung, ein bisschen Rock 'n' Roll und Wirtschaftswunder. Eine intellektuelle Avantgarde hörte die wildeste Musik und vertrat die offensivsten Kunstansichten. Ursula fuhr zu den „Darmstädter Ferienkursen“, einer alle zwei Jahre stattfindenden Veranstaltung, auf der Komponisten und Musiker das Neueste der „Neuen Musik“ debattierten, sie traf dort Arnold Schönberg und Karlheinz Stockhausen. Sie führte ein Geistesleben.
Bis ihr Körper aufmuckte. Allzu häufig plagten sie Verspannungen und Migräne. Es glich fast einem Eingeständnis: Der Mensch besteht nicht nur aus Intellekt.
Sie wurde auf die Atemtherapie aufmerksam. Und entschloss sich 1972 zu einer fünfjährigen Ausbildung. Den Kontakt zur Musik behielt sie, wurde Lehrbeauftragte an der Musikhochschule, unterrichtete Bläser, Streicher und natürlich Sänger. Sagte: „Der Atem ist wie der Rhythmus.“ Lehrte an der Volkshochschule, gründete eine Atemtherapiegruppe und eine Meditationsgruppe, zu Zeiten, da noch nicht an jeder Ecke tief ein- und tief ausgeatmet wurde, band den Tanz mit ein, hatte eine große Gefolgschaft. Menschen, die mehrmals wöchentlich zu ihr an den Steinplatz kamen, in den großen Raum nach vorn raus, nannten Ursula, inzwischen ergraut, „die alte Weise“.
Mit 90 gab sie die Kurse auf. Hans, ihr Mann, war 2010 gestorben, es wurde ruhiger in der Wohnung. Aber sich gehen lassen? Auf keinen Fall. Gymnastik am Morgen, Gymnastik am Abend, tägliche Lektüre, hin und wieder auf Französisch, auf Englisch. Es gibt eben Dinge, die müssen, will man vorwärtskommen, diszipliniert getan werden.
Sie setzte sich auch wieder ans Klavier, jeden Tag zweieinhalb Stunden, musizierte mit einem Cellisten und einem Sänger, bis zum Dezember des vergangenen Jahres, drei Monate vor ihrem hundertsten Geburtstag. Sie stürzte, brach sich den Oberschenkelhals und infizierte sich dann auch noch mit dem Virus. Den aber überstand sie gut, ein wenig Wasser in der Lunge, keine große Sache. Schwerwiegender war der steife Ellenbogen. Es ging nicht mehr, sie konnte nicht mehr spielen. Am 9. März ist Ursula Müller gestorben. Tatjana Wulfert