Nachruf auf Moyra Wollenberg (* am 16. Februar 1986)
Plötzlich platzt es aus ihren Freunden heraus: „Ich war in Moyra verliebt.“ - „Ich auch.“ - „Mensch, ich doch auch.“ - „Und ich erst, monatelang!“ Die Freunde schauen sich an, kurz ist es still, dann lachen sie. Es ist ein Samstag im Dezember. Sie stehen vor der Palliativ-Station des Krankenhauses, trinken Tee und Kaffee, rauchen Zigaretten, eine spielt Gitarre, einer singt, manche weinen still. Einer nach dem anderen geht ins Haus, die Treppe hinab, durch die Kapelle in einen kleinen Raum. Dort liegt Moyra, aufgebahrt, ganz dünn. Trotzdem wirke sie wie eine Königin, sagen sie, die Lippen rot geschminkt, die Haare gekämmt. Özgür hat sie hübsch gemacht.
2011, Istanbul. Moyra macht hier ihr Auslandssemester. Sie will Türkisch lernen und für ihre Psychologie-Abschlussarbeit Interviews mit Betroffenen von häuslicher Gewalt führen. Sie will aber auch auf Partys, Konzerte und das eine oder andere Abenteuer mit einem hübschen Mann erleben. Nur eine Beziehung will sie nicht, das hat sie diesem Özgür auch gesagt. Der schaut sie immer so verliebt an, lädt sie zum Frühstück und zum Abendessen ein, geht mit ihr am Bosporus spazieren, schreibt Nachrichten und schenkt ihr eine silberne Zigarettenbox. „Ich bin fast verrückt geworden“, sagt Özgür heute. „Immer hab ich an sie gedacht. Ich wollte, dass aus der Verliebtheit eine Liebe wird.“
Es ist spät, sie sitzen in einem Restaurant, draußen der Bosporus. Er hat einen Brief so gefaltet, dass sie immer nur kurze Sätze darauf sehen kann. „Willst du wissen, um was es in dem Brief geht? Dann klappe weiter.“ - „Wenn du mich nett findest, dann klappe weiter.“ - „Wenn du findest, dass ich gut aussehe, dann klappe weiter.“ - „Wenn du glaubst, dass etwas aus uns werden kann, dann klappe weiter.“
„Ach Özgür“, sagte sie, „du hier, ich in Deutschland, wie soll das funktionieren?“ Und da fährt die letzte Fähre auf die europäische Seite von Istanbul, und Moyra übernachtet bei Özgür. Nur kuscheln. Versprochen ist versprochen.
Kreuzberg, Skalitzer Straße, von ihrem Kinderzimmer aus kann Moyra den Leuten in der U-Bahn winken, die an ihrem Fenster vorbeifährt. Hier leben sie und ihr jüngerer Bruder, wenn sie bei ihrem Vater sind, einem Lehrer. Der reist mit ihnen um die Welt, baut eine Schneehöhle in Norwegen, um darin gemeinsam die Nacht zu verbringen. Wenn Moyra nicht einschlafen kann, massiert er ihre Schläfen. Natürlich dürfen ihre Freundinnen bei ihr übernachten. Die Bude ist immer voll. „Wo Moyra war, waren auch immer ihre Freundinnen“, erzählt der Vater.
Ein paar Straßen weiter wohnen sie und ihr Bruder mit ihrer Mutter, auch eine Lehrerin, aus Irland. Von ihr hat Moyra ihren Namen und Englisch als zweite Muttersprache. Mit ihr fährt sie nach Irland, um die vielen Cousins, Onkel und Tanten zu besuchen. Hier hüpft sie lachend ins kalte Meer. Doch das Hin-und-her zwischen der Mama-Welt und der Papa-Welt ist anstrengend, erst recht, als der Vater an den Stadtrand zieht. Kein böses Wort will sie von den Eltern hören, wenn sie über einander sprechen. Immer achtet sie darauf, dass alles gerecht zugeht. Sie vermittelt, gleicht aus.
Unbedingt will sie ins Austauschjahr, USA. Der Mutter fällt es schwer, sie gehen zu lassen: ein Jahr ohne sie, unvorstellbar. Moyra setzt sich durch. Ihre erste Gastfamilie entspricht dem Klischee, Essen gab es aus der Dose. Als Moyra nach was Frischem fragt, macht der Vater eine Dose mit Kartoffeln auf. Sie flüchtet zu einer Tante nach Chicago. Erwachsener kehrt sie zurück und organisiert die Vorbereitungsseminare für die nächsten Austauschschüler.
Auszug, Abitur, Psychologie-Studium. Moyra ist auf der Suche. In Indien lässt sie sich zur Yoga-Lehrerin ausbilden und verliebt sich in einen Israeli, lernt Hebräisch, besucht ihn in Tel Aviv. Als Nächstes interessiert sie die Shiatsu-Massage, monatelang lässt sie sich darin ausbilden. Dann verliebt sie sich in einen Portugiesen und lernt Portugiesisch. Mit Freunden geht sie in Restaurants oder Salsa tanzen, oder sie verfrühstückt Samstage auf der WG-Couch.
Özgür will nicht, dass es einfach zu Ende geht, nur weil Moyra zurück nach Berlin muss. So vieles ist mit ihr anders. Die Zärtlichkeit, auch in der Öffentlichkeit. Sie reden über alles, was sie bewegt, was ihnen Angst macht, es gibt keine Geheimnisse. „Moyra zu umarmen ist wie eine Therapie. Wenn sie zuhört, fühle ich mich verstanden.“ Ein Jahr pendeln sie, Istanbul-Berlin, Berlin-Istanbul. Dann kündigt Özgür seine Arbeit, beantragt ein Sprachlernvisum, kommt nach Berlin.
Mit der Rikscha fahren sie zum Standesamt Neukölln, ihre Freunde auf Fahrrädern hinterher. So voll war es noch nie im Hochzeitssaal, sagt der Standesbeamte. Am Nachmittag feiern sie auf dem Tempelhofer Feld, jeder bringt was mit, und alle tanzen, während die Sonne langsam untergeht.
Moyra wird Familienhelferin in Neukölln, betreut Eltern und ihre Kinder. Es sind oft die schlimmen Schicksale, die bei ihr landen. Da geht es um Gewalt und um Vernachlässigung. Da sind Eltern, denen es schwerfällt, überhaupt für ihre Kinder zu sorgen. Mal klappt es gut, und Moyra kann wirklich helfen, dann ist sie überglücklich. Mal stellen sich Eltern quer, die Bürokratie schlägt zu, das System versagt, oder Kinder müssen aus den Familien genommen werden. Das nimmt Moyra mit.
Wenn alle Helferinnen zur Fallklärung zusammenkommen, drängt Moyra darauf, dass die Fälle so besprochen werden, als ob die Familien mit am Tisch sitzen: nicht zynisch, sondern respektvoll. Wer Moyra bei solchen Sitzungen erlebt, sieht eine starke und selbstbewusste Frau. Hinterher gesteht sie, dass sie sich unsicher gefühlt hat.
An der Sonnenallee ergattert sie einen Schrebergarten, in den sie nach der Arbeit fährt. Hier legt sie sich auf die Wiese, lässt sich die Sauerkirschen in den Mund fallen und schaut den Zucchini beim Wachsen zu. Ständig sind Freunde da. Moyra mache einen „instant-glücklich“, sagen sie. Leicht ist es mit ihr, und immer gibt es was zu lachen.
Anfang 2017, Moyra wird 31 Jahre alt. Sie hat unfassbare Schmerzen im Rücken. Ärzte haben keine Erklärung. Sie bricht im Foyer des Krankenhauses zusammen. Jetzt geht es schnell: Diagnose, Operation, Chemotherapie. Özgür weicht ihr nicht von der Seite, auch wenn es ihr so schlecht geht, dass sie sich nicht mehr bewegen kann. Sie reden lange, wenn die Angst kommt. Sie weinen zusammen, wenn es keine Worte mehr gibt. Die Freunde senden Botschaften und Kerzenbilder in der Whatsapp-Gruppe „Moyras A-Team“.
Moyra schafft es. Eine zweite Chance. Doch wie soll es nun weitergehen? Sie spricht mit anderen, die auch Magenkrebs hatten. Welche Wildkräuter und Vitamine kann sie essen, um ihren Körper zu stärken? Was kann sie lesen, sich womit beschäftigen, um ihren Geist zu stärken? Eine Suche beginnt, auch nach der Frage, ob und was nach dem Tod kommen kann. Schließlich fühlt sie sich so gut, dass sie mit einer Ausbildung als Psychotherapeutin beginnt.
Zwei Jahre reisen, feiern, lachen, hoffen, singen in einem Frauenchor, dann ist der Krebs wieder da. Özgür lässt sich von der Arbeit freistellen und begleitet sie jeden Tag und jede Nacht, monatelang. Moyra quält die Frage, was für ein Sinn ihr Leben ergeben haben soll, wenn sie so früh sterben wird, ohne viel geleistet zu haben.
Moyra wird dünner und dünner. Zu den Pferden will so noch einmal, ihre Freunde sehen, den zwei Patenkindern einen Abschiedsbrief schreiben. Als es so weit ist, sind sie alle da, Özgür, ihre Eltern, Freunde. Özgür sagt ihr immer wieder, dass alle sie liebhaben und dass sie nun das Leben loslassen darf. Karl Grünberg
2011, Istanbul. Moyra macht hier ihr Auslandssemester. Sie will Türkisch lernen und für ihre Psychologie-Abschlussarbeit Interviews mit Betroffenen von häuslicher Gewalt führen. Sie will aber auch auf Partys, Konzerte und das eine oder andere Abenteuer mit einem hübschen Mann erleben. Nur eine Beziehung will sie nicht, das hat sie diesem Özgür auch gesagt. Der schaut sie immer so verliebt an, lädt sie zum Frühstück und zum Abendessen ein, geht mit ihr am Bosporus spazieren, schreibt Nachrichten und schenkt ihr eine silberne Zigarettenbox. „Ich bin fast verrückt geworden“, sagt Özgür heute. „Immer hab ich an sie gedacht. Ich wollte, dass aus der Verliebtheit eine Liebe wird.“
Es ist spät, sie sitzen in einem Restaurant, draußen der Bosporus. Er hat einen Brief so gefaltet, dass sie immer nur kurze Sätze darauf sehen kann. „Willst du wissen, um was es in dem Brief geht? Dann klappe weiter.“ - „Wenn du mich nett findest, dann klappe weiter.“ - „Wenn du findest, dass ich gut aussehe, dann klappe weiter.“ - „Wenn du glaubst, dass etwas aus uns werden kann, dann klappe weiter.“
„Ach Özgür“, sagte sie, „du hier, ich in Deutschland, wie soll das funktionieren?“ Und da fährt die letzte Fähre auf die europäische Seite von Istanbul, und Moyra übernachtet bei Özgür. Nur kuscheln. Versprochen ist versprochen.
Kreuzberg, Skalitzer Straße, von ihrem Kinderzimmer aus kann Moyra den Leuten in der U-Bahn winken, die an ihrem Fenster vorbeifährt. Hier leben sie und ihr jüngerer Bruder, wenn sie bei ihrem Vater sind, einem Lehrer. Der reist mit ihnen um die Welt, baut eine Schneehöhle in Norwegen, um darin gemeinsam die Nacht zu verbringen. Wenn Moyra nicht einschlafen kann, massiert er ihre Schläfen. Natürlich dürfen ihre Freundinnen bei ihr übernachten. Die Bude ist immer voll. „Wo Moyra war, waren auch immer ihre Freundinnen“, erzählt der Vater.
Ein paar Straßen weiter wohnen sie und ihr Bruder mit ihrer Mutter, auch eine Lehrerin, aus Irland. Von ihr hat Moyra ihren Namen und Englisch als zweite Muttersprache. Mit ihr fährt sie nach Irland, um die vielen Cousins, Onkel und Tanten zu besuchen. Hier hüpft sie lachend ins kalte Meer. Doch das Hin-und-her zwischen der Mama-Welt und der Papa-Welt ist anstrengend, erst recht, als der Vater an den Stadtrand zieht. Kein böses Wort will sie von den Eltern hören, wenn sie über einander sprechen. Immer achtet sie darauf, dass alles gerecht zugeht. Sie vermittelt, gleicht aus.
Unbedingt will sie ins Austauschjahr, USA. Der Mutter fällt es schwer, sie gehen zu lassen: ein Jahr ohne sie, unvorstellbar. Moyra setzt sich durch. Ihre erste Gastfamilie entspricht dem Klischee, Essen gab es aus der Dose. Als Moyra nach was Frischem fragt, macht der Vater eine Dose mit Kartoffeln auf. Sie flüchtet zu einer Tante nach Chicago. Erwachsener kehrt sie zurück und organisiert die Vorbereitungsseminare für die nächsten Austauschschüler.
Auszug, Abitur, Psychologie-Studium. Moyra ist auf der Suche. In Indien lässt sie sich zur Yoga-Lehrerin ausbilden und verliebt sich in einen Israeli, lernt Hebräisch, besucht ihn in Tel Aviv. Als Nächstes interessiert sie die Shiatsu-Massage, monatelang lässt sie sich darin ausbilden. Dann verliebt sie sich in einen Portugiesen und lernt Portugiesisch. Mit Freunden geht sie in Restaurants oder Salsa tanzen, oder sie verfrühstückt Samstage auf der WG-Couch.
Özgür will nicht, dass es einfach zu Ende geht, nur weil Moyra zurück nach Berlin muss. So vieles ist mit ihr anders. Die Zärtlichkeit, auch in der Öffentlichkeit. Sie reden über alles, was sie bewegt, was ihnen Angst macht, es gibt keine Geheimnisse. „Moyra zu umarmen ist wie eine Therapie. Wenn sie zuhört, fühle ich mich verstanden.“ Ein Jahr pendeln sie, Istanbul-Berlin, Berlin-Istanbul. Dann kündigt Özgür seine Arbeit, beantragt ein Sprachlernvisum, kommt nach Berlin.
Mit der Rikscha fahren sie zum Standesamt Neukölln, ihre Freunde auf Fahrrädern hinterher. So voll war es noch nie im Hochzeitssaal, sagt der Standesbeamte. Am Nachmittag feiern sie auf dem Tempelhofer Feld, jeder bringt was mit, und alle tanzen, während die Sonne langsam untergeht.
Moyra wird Familienhelferin in Neukölln, betreut Eltern und ihre Kinder. Es sind oft die schlimmen Schicksale, die bei ihr landen. Da geht es um Gewalt und um Vernachlässigung. Da sind Eltern, denen es schwerfällt, überhaupt für ihre Kinder zu sorgen. Mal klappt es gut, und Moyra kann wirklich helfen, dann ist sie überglücklich. Mal stellen sich Eltern quer, die Bürokratie schlägt zu, das System versagt, oder Kinder müssen aus den Familien genommen werden. Das nimmt Moyra mit.
Wenn alle Helferinnen zur Fallklärung zusammenkommen, drängt Moyra darauf, dass die Fälle so besprochen werden, als ob die Familien mit am Tisch sitzen: nicht zynisch, sondern respektvoll. Wer Moyra bei solchen Sitzungen erlebt, sieht eine starke und selbstbewusste Frau. Hinterher gesteht sie, dass sie sich unsicher gefühlt hat.
An der Sonnenallee ergattert sie einen Schrebergarten, in den sie nach der Arbeit fährt. Hier legt sie sich auf die Wiese, lässt sich die Sauerkirschen in den Mund fallen und schaut den Zucchini beim Wachsen zu. Ständig sind Freunde da. Moyra mache einen „instant-glücklich“, sagen sie. Leicht ist es mit ihr, und immer gibt es was zu lachen.
Anfang 2017, Moyra wird 31 Jahre alt. Sie hat unfassbare Schmerzen im Rücken. Ärzte haben keine Erklärung. Sie bricht im Foyer des Krankenhauses zusammen. Jetzt geht es schnell: Diagnose, Operation, Chemotherapie. Özgür weicht ihr nicht von der Seite, auch wenn es ihr so schlecht geht, dass sie sich nicht mehr bewegen kann. Sie reden lange, wenn die Angst kommt. Sie weinen zusammen, wenn es keine Worte mehr gibt. Die Freunde senden Botschaften und Kerzenbilder in der Whatsapp-Gruppe „Moyras A-Team“.
Moyra schafft es. Eine zweite Chance. Doch wie soll es nun weitergehen? Sie spricht mit anderen, die auch Magenkrebs hatten. Welche Wildkräuter und Vitamine kann sie essen, um ihren Körper zu stärken? Was kann sie lesen, sich womit beschäftigen, um ihren Geist zu stärken? Eine Suche beginnt, auch nach der Frage, ob und was nach dem Tod kommen kann. Schließlich fühlt sie sich so gut, dass sie mit einer Ausbildung als Psychotherapeutin beginnt.
Zwei Jahre reisen, feiern, lachen, hoffen, singen in einem Frauenchor, dann ist der Krebs wieder da. Özgür lässt sich von der Arbeit freistellen und begleitet sie jeden Tag und jede Nacht, monatelang. Moyra quält die Frage, was für ein Sinn ihr Leben ergeben haben soll, wenn sie so früh sterben wird, ohne viel geleistet zu haben.
Moyra wird dünner und dünner. Zu den Pferden will so noch einmal, ihre Freunde sehen, den zwei Patenkindern einen Abschiedsbrief schreiben. Als es so weit ist, sind sie alle da, Özgür, ihre Eltern, Freunde. Özgür sagt ihr immer wieder, dass alle sie liebhaben und dass sie nun das Leben loslassen darf. Karl Grünberg