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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Horst Jänichen (* am 05. März 1931)

Wie oft dachten Schüler und Lehrer, die er durch die Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen durch die Zellen führte: Was dieser Mann erlitten hat! Und steht da, stark und ohne Hass. Horst Jänichen war der letzte lebende Zeuge der frühen Zeit dieses Gefängnisses. Wie viele solcher Leute gibt es noch, die den Jungen sagen, wie gut sie heute leben? Wie brutal die Zeiten waren, als Jänichen so jung war wie sie selbst? In diesem Alter kam er das erste Mal ins Lager. 15 Jahre war er und verdächtig, zum „Wehrwolf“ zu gehören, einer Nazi-Untergrundorganisation. Jemand hatte ihn 1946 angeschwärzt, aber er war keiner von denen, Flakhelfer und Hitlerjunge war er gewesen, wie so viele, „Kanonenfutter“, einer der Jungen, die den verlorenen Krieg noch retten sollten.
Höhenschönhausen war seinerzeit noch Speziallager der Russen. Schläge und Hunger, zwei Jahre lang. Sie prägten ihn fürs Leben. 1948 dann die Entlassung, er wollte zu seiner Mutter, kaufte Blumen, freute sich, seinen liebsten Menschen wiederzusehen. Und dann öffnete eine fremde Frau die Tür, die Familie war verwundert, dass er wieder da war. Keiner wusste, dass er noch lebte, Informationen gingen weder raus noch rein ins Lager. Die Mutter war gestorben, er brachte ihr die Blumen ans Grab. Eine weitere Wunde, die nie ganz heilen sollte. Zumal einige in der Familie über die geliebte Mutter nicht gut redeten. Er fühlte sich fremd, nicht aufgehoben, zog sich zurück, von manchen lebenslang.
Der Stachel, gegen das erfahrene Unrecht vorzugehen, saß tief. Er trieb den jungen Horst zu weiteren Aktionen: Flugblätter auf dem Alexanderplatz, die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“. Das ging nicht lange gut, 1950 nahm man ihn abermals fest, acht Jahre Haft sollten es diesmal sein, anfangs wieder in Höhenschönhausen. Jahre ohne Gnade. Sein Überlebenswille rettete ihn und vielleicht auch die Tatsache, dass „psychische Zersetzung“, die die tiefsten Wunden in die Seele schlägt, erst später, ab den 60ern, zur gängigen Verhörmethode im Stasiknast wurde.
„Wie vergeht die Zeit in Haft?“, fragt ihn später eine Schülerin, die er mit anderen Jugendlichen durch die Zellengänge führt. Indem man die Heizungsstreben zählt, die Flecken an der Wand und immer wieder Goethes Faust zitiert. Und indem man sich vom Mitinsassen die Rohr-Klopfzeichen lehren lässt, um mit anderen zu kommunizieren. Jänichen erzählt, wie man mit einem blankgeputztem Löffel, den man durch die Klappe der Zellentür schiebt, das Treiben auf den Gängen spiegeln kann. So vergeht die Zeit. Tatenlos saß er nie herum, immer wieder versuchte er auszubrechen. Einmal versteckten er und ein anderer sich in einem Wäschetransport, ein anderes Mal versuchten sie, sich herauszugraben, ein kleines Sägeblatt schmuggelte ihm sein Vater in der Schuhcremedose in die Zelle. Auch wenn es nie geklappt hat, wenn sie ihn immer schlimmer malträtierten, hielt er durch. Was denn auch sonst? Seine Verhörer machte er kirre: Er lächelte, wenn sie drohten und brüllten. Auch wenn in ihm die Verzweiflung tobte. „Ob ich lache oder heule, macht das einen Unterschied? Sie quälen mich.“ Immerhin, er gab ihnen nicht die Genugtuung, ihn verletzt zu sehen.
In Hohenschönhausen hatte er einen Mithäftling, der draußen ein reicher Mann war, und der jedem, der vor ihm rauskam, eine Starthilfe versprach, abzuholen in seinem Juwelierladen in Wilmersdorf. Und da er - wie fast alle, die im Stasiknast eingesessen hatten - nach der Entlassung den Ostteil Berlins verließ, trat auch Horst Jänichen 1958 über die Schwelle des Geschäfts. Fräulein Sperl bediente ihn, sie war in Lehre, und er war hingerissen. Sie heirateten und blieben beisammen, 60 Jahre lang. Sie wohnten in Tiergarten, bekamen eine Tochter und einen Sohn und zogen diese wohlbehütet auf. Die Hölle hatte Horst Jänichen nicht zu einem harten Mann gemacht, der sein Mütchen an der Familie gekühlt hätte. Aber Spuren hat sie hinterlassen. Seine Albträume ließen seine Frau aufschrecken. Nie mehr aß er Graupen - Gefängnisgfraß -, Studentenblumen hasste er - die kannte er zu gut vom Gefängnishof. Er grummelte, wenn die Kinder vergaßen, ihre Zimmer aufzuräumen. Und Petzerei durfte überhaupt nicht sein. Er war selbst verraten worden.
Anfangs waren die Verhältnisse der Familie zwar bescheiden, Horst Jänichen arbeitete als Haustürverkäufer und Bürobote, doch es ging stetig aufwärts. Er trat der SPD bei, saß im Abgeordnetenhaus. Seit 1973 arbeitete er in der Pressestelle des Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen, 1989 wurde er Referatsleiter im Innenministerium. Mit der Familie reiste er nach Italien - und ab und zu auch in die DDR. Seine Frau hatte die Verwandtschaft dort. An der Zonengrenze wurde er spürbar nervös, die Angst, wieder weggesperrt zu werden, verlor er nicht. Als bei einem Besuch in Ludwigsfelde ein Volkspolizist an der Gartentür auftauchte, erbleichte Horst Jänichen, doch der Mann wollte nur eine Radkappe vorbeibringen, die jemand aus dem Haus verloren hatte.
Mit der Wiedervereinigung erfüllte sich sein Lebenstraum, aber als seine SPD in Berlin mit den Nachkommen der SED zusammenging, schied er in Bitterkeit aus. Und setzte sich für die Gedenkstätte in Hohenschönhausen ein. Was hier passiert war, musste die Welt erfahren, die Nachwelt. Zwei Jahrzehnte lang erzählte er es den Besuchergruppen und musste nicht ein einziges Mal um Ruhe bitten. Es war still, wenn er berichtete. An Heiligabend 2020 ist Horst Jänichen gestorben. Er hatte sich mit dem Virus infiziert. Judka Strittmatter