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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Steve Robinson (* am 25. März 1963)

„R.I.P. an den liebevollen Schreihalz“ steht wenige Tage nach Steves Tod auf einem Zettel neben seiner Bank. Viel mehr, als dass er das gewesen war, wusste kaum jemand im Winsviertel. Aber alle kannten ihn. War ja eine öffentliche Person.
Seit einigen Jahren wohnte Steve Robinson auf einer Bank vor der „Marie“, dem großen Spielplatz an der Marienburger Straße. Oft schrie er rum, brüllte seine „Hells-Angels“-, „God-save-the-Queen“- und „Ku-Klux-Klan“-Versatzstücke in die Dorfidylle. Manchen erzählte er von einer Tochter und dass er seine Frau geschlagen habe. Dass er aus Bristol komme. Irgendwas von Heroin und den Freimaurern. Und viel anderes, das niemand verstand. Krakeelte er zu viel herum, so wie letzten Sommer, holte ihn ein Aufgebot von Polizei und Sanitätern ab. Nach ein paar Wochen kam er wieder, doch Verständliches aus ihm herauszubekommen, war auch den ihm Gewogenen kaum möglich.
Etwa Alexander Alte, einer der Betreiber des Empanadas-Ladens gegenüber. Der hatte Steve mit dem Segen des Bezirksamtes im vergangenen Winter eine kleine grüne Hütte neben seine Bank gebaut, Steve hatte beim Streichen geholfen. Im März lief die Erlaubnis für die Hütte aus, aber Alte hatte schon eine neue geplant - mit Toilettenlösung, denn das war wirklich ein Problem. Manchmal suchte Steve ein Dixi-Klo in der Kollwitzstraße auf.
Ein strenger Geruch dringt durch die Tür, die die Polizei nach seinem Tod versiegelt hat. Nachbarn haben Kerzen und Briefe davorgelegt. Steves „Nachlass“ ist noch nicht geklärt. Die Feuerwehr fand ihn abends tot in seiner Hütte, ein paar Tage vor seinem Geburtstag. Stunden zuvor sei er noch gut drauf gewesen, erzählen Anwohner. Kein Fremdverschulden, sagt die Polizei. Im März 2020 luden Nachbarn über die Internet-Plattform „nebenan.de“ zu einem kleinen Geburtstags-Ständchen vor der Bank mit Musik und 57 Kuchenkerzen: „ er freut sich über Männersocken in Größe 43 - ein Paar neue Schuhe vielleicht, immer über Pall Mall blau Zigarillos für 2,50, Kakao Milchshakes und Achtsamkeit “ Ein paar Blutspuren unter der Tür lassen vermuten, dass Steve an einem spontanen Speiseröhrenriss gestorben sein könnte, bei Alkoholikern nicht selten.
„Lieber Bankmann wir sind ser traurik du gehörst hirhin das würd schwirik sein sich su gewönen one dich wir mögen dich ale liebe grüse fon uns“ steht auf einem Blatt Papier, darunter ein gemalter Steve mit grauem Rauschebart. Ein Jogger bleibt stehen. „Ich hab' ihm manchmal Geld dagelassen und dann hat er mich immer gefragt, ob ich Zigaretten habe“, sagt er. „Vor zwei Tagen hatte ich extra Kleingeld dabei, weil ich noch bei ihm vorbeiwollte - da stand hier die Kerze “
Zwei Mitarbeiter des Ordnungsamtes stehen auf dem Vorplatz der „Marie“. Als Steve hier ankam, vier oder fünf Jahre ist das her, da gehen die Erinnerungen auseinander, war er so laut, dass es Anzeigen hagelte. Ständig mussten die Kollegen vom Außendienst antanzen, erzählen die beiden. Wenn ein Hund sich an seinen Vorräten bediente, habe er das sportlich genommen, gegen den Kältebus aber wehrte er sich. „Ich hab mich mehrmals mit ihm unterhalten - nur verstanden haben wir uns nicht“, sagt der eine. „Wenn wir hier vorbeikamen, machte er seine Grunzgeräusche. Dann wussten wir, er nahm uns wahr.“ Richtig aggressiv sei er nie geworden, er habe nur so gewirkt. Tagsüber zog er mit der Sonne mit, von Bank zu Bank, nahm so den gesamten Vorplatz in Beschlag. „Es gibt ja Bezirke, die tolerieren sowas nicht“, sagt der Mann vom Ordnungsamt. „Aber Pankow zum Glück schon.“
Vor wenigen Monaten setzte Alte vom Empanadas-Laden Steve eine Ortsmarke auf Google Maps. Um ihn sichtbar zu machen. Das englischsprachige Stadtmagazin „Exberliner“ veröffentlichte daraufhin einen kurzen Artikel über den Straßenbewohner, und danach meldete sich Steves Schwester bei Alte. Seit 17 Jahren glaubte sie den Bruder verloren. So bekam Steve kurz vor und mehr noch seit seinem Tod plötzlich eine Biografie. Aus dem „liebevollen Schreihalz“ wurde ein Mann mit Geschichte.
Steve wird 1963 geboren und verbringt eine unglückliche Kindheit in der Nähe von Bristol. „Abusive“, sagt seine Schwester, geprägt von Misshandlungen. Mit 15 Jahren zieht er aus und taucht in die überschaubare Bristol-Punk-Szene der 80er ein, wohnt in besetzten Häusern und wird Bassist der Punkband „Disorder“. Neben „Chaos UK“ gilt die Szeneband, die es noch immer gibt, als die bedeutendste der Stadt. Zwei Platten nimmt Steve mit auf, kurzzeitig ist er mit Beki Bondage zusammen. Sie ist seit 1979 und bis zum heutigen Tag Frontsängerin der Punkband „Vice Squad“.
Als sie sich von ihm trennt, beginnt er, Klebstoff zu schnüffeln. „Ich hab' mal ein komplettes Fläschchen neongelben Nagellack mit ihm gesnifft“, schreibt eine Frau unter dem vom „Exberliner“ als Abschied erneuerten Artikel über Steve auf Facebook. Von einem ehemaligen Bandkollegen weiß Alte, dass Steve seine psychischen Probleme früh versucht hat, selbst zu medikamentieren. Klebstoff, Halluzinogene, Heroin, Alkohol sowieso, Steve pfeift sich fast alles rein. Anfang der 90er kommt er mit seiner Schwester nach Berlin. Wohnt zunächst bei ihr, dann im besetzten Kunsthaus Tacheles, wo er „Naked Breezing Fireshows“ veranstaltet. Da soll er nackt Feuer geschluckt haben. Er zieht als Musiker durch Berlins U-Bahnen, hat auch mal eine Freundin. Die Facebook-Kommentatorin schreibt, um 1993 habe er begonnen, den Verstand zu verlieren. Er taucht ab, verschwindet vom Radar seiner Schwester, die Ende der Neunziger nach England zurückkehrt. Irgendwann landet er auf der Straße und irgendwann vor der Marie.
Ein Anruf aus Bristol, Steves erwachsene Tochter, die erfahren hat, dass ein Nachruf über ihn geschrieben wird. Mit sympathischer, warmer Stimme und britischem Akzent erzählt Shiva, dass ihre Eltern drei Jahre versucht hätten, ein Kind zu bekommen, bevor sie geboren wurde. „Das war vielleicht keine gute Idee als zwei Drogensüchtige - aber ich bin froh, hier zu sein.“ Ihre Mutter schmiss Steve raus, als Shiva noch klein war, sie kam später zu nicht so tollen Pflegeeltern und dann in eine tolle Adoptivfamilie.
Ihre Mutter erzählte ihr, wie exzentrisch Steve gewesen sei, dass er heimlich ihre Röcke getragen habe. Er arbeitete in einem Pub, zu dem er immer mit dem Skateboard fuhr. Dass er ihre Mutter geschlagen habe, das glaubt Shiva nicht.
Zum letzten Mal sah sie ihn, als sie sechs war. „Seine damalige Freundin flog nach England, um mich zu holen, und ich verbrachte die ganzen Sommerferien in Berlin.“ Sie erinnert sich an einen Abend in einem Pub mit Live-Musik, und wie sie sich spätabends schlafend stellte, damit Steve sie den ganzen Weg bis nach Hause trug. „Eine schöne Erinnerung.“ Er schreibt ihr noch ein paar Jahre Briefe, doch die ergeben immer weniger Sinn. In einem der letzten zeichnet er ein Bild von einem Tattoo, dass er sich habe machen lassen: „Amor Vincit Omnia“, Liebe besiegt alles. Dass sie sich mit 17 das gleiche Tattoo stechen ließ, hat Steve nicht erfahren. Auch nicht, und das macht sie besonders traurig, dass er zwei Enkelkinder hatte.
Ob sie je versucht habe, ihn wiederzufinden? „Nein“, sagt sie, „ich habe vor einigen Jahren angefangen, mich um Pflegekinder zu kümmern. Damit die es besser haben, als ich es hatte.“ Kontakt zu ihrem Vater, nein, das wäre keine gute Idee gewesen, sagt sie.
„R.I.P. Bobcat“ hat jemand an seine Hütte geschrieben. Bobcat ist die englische Bezeichnung für den nordamerikanischen Rotluchs. Wikipedia erklärt: „Wie die meisten Katzenartigen sind Rotluchse territorial und leben überwiegend einzelgängerisch.“ Constanze Nauhaus