Nachruf auf Jacob Klingner (* am 19. Juni 1973)
Auf keinen Fall durfte sie die Werbeprospekte wegschmeißen. Die hatte er noch nicht gelesen, und Jacob musste immer lesen, Bücher, Zeitungen, Werbung, Todesanzeigen, mittelhochdeutsche Minnegesänge. Jacob war besessen von Schrift und Sprache, so lebendig, so voller Bedeutung und Gefühle.
Jacob war 26, studierte ältere deutsche Literatur an der FU. Ariane war 24, Museumswissenschaften. Ganz am Anfang, sie waren noch kein Paar, gab es diesen Moment: Sie stand am Spülbecken der WG, schrubbte Geschirr und hasste es. Jacob kam herein, ein Buch in der Hand, Kurzgeschichten für Kinder von Franz Hohler. Er setzte sich und las ihr vor. Seite um Seite, Teller um Teller.
Verliebt reisten sie durch die Welt, nach Wien, nach London. Jacob hatte überall Freunde, bei denen sie unterkamen. Praktika führte sie auseinander. Jacob schrieb ihr viele Briefe. „Ich freute mich wie wahnsinnig, wenn wieder einer im Briefkasten lag“, erzählt sie. Musste er ausnahmsweise auf E-Mails ausweichen, verpflichtete er sie, diese auf rosa Papier auszudrucken, Herzchen daraufzumalen, bevor sie sie las. Später schrieb er seine Jahresbriefe an Freunde und Verwandte.
Ihr Bauch wurde dicker und dicker; Jacob saß an seiner Magisterarbeit. Wer würde zuerst fertig werden? Er gab ab, dann kam Moritz auf die Welt, fünf Tage darauf hatte er seine letzte Prüfung. Vom Vatersein hatte er keine Ahnung, im Freundeskreis waren sie die Ersten mit Kind. Arbeit, Familie, Finanzen, all das teilten sie. Wenn Ariane arbeitete, trug Jacob ihr das Baby zum Stillen hinterher.
Jacob blieb an der Uni und lehrte Mittelhochdeutsch. Selbst angehende Grundschullehrer müssen das lernen, für viele langweilig und unsinnig. Jacob aber steckte etliche mit seiner Begeisterung an. Das erfuhr er aus etlichen Dankesbriefen. Zuweilen wandte er auch zu Hause seine pädagogischen Strategien an. Kam er in einer Debatte mit Ariane nicht weiter, nahm er ein Stück Papier und legte ein Schema an: „Hier stehst du, hier stehe ich. Und das da, darüber streiten wir “
Er beschäftigt sich mit mittelalterlichen Handschriften, mit ungedruckten Predigten, mit Minnereden, jenen Geschichten, in denen adligen Damen Bewunderung und Anbetung dargelegt wird. Darüber schrieb er seine Doktorarbeit. Summa cum laude, und trotzdem war er unzufrieden mit seinem Text. Fünf Jahre feilte er an einer neuen, druckreifen Version.
Mit den Nudeln übertrieb er es auch manchmal. Alle hatten Hunger, doch er musste sie selbst herstellen. Als er eine schlichte Kletterhilfe für die Rosen auf der Terrasse besorgen sollte, zeichnete er erst mal einen Bauplan. Mit Abstandshaltern und Unterlegern. Es wurde ein Riesenprojekt.
Auch in Gefühlsdingen ging er tief in die Details. „Das hatte er von seinen Eltern“, sagt Ariane. Aus Reutlingen, Baden Württemberg, kam er, die Mutter katholisch, der Vater evangelisch. Eine skandalöse Heirat. Jacob ging auf die Waldorfschule, schrieb mit seinem Bruder Märchenbücher, machte mit bei einer Jugendsendung im Radio. Vier Kinder waren sie zu Hause. Vier Kinder wollte er auch haben.
Moritz war da, Konrad kam auf die Welt, schließlich Robert. An der hälftigen Aufteilung der Eltern änderte sich nichts. Drei Kinder waren dann aber genug. Was die sich fetzen konnten! Jacob ging keiner Diskussion aus dem Weg. Frei sollten sie aufwachsen und sich gleichzeitig ihrer Verantwortung bewusst sein. Rief die Schule an, um sich über ein zu diskussionsfreudiges Verhalten zu beschweren, verteidigte er seine Jungs. Am Wochenende saßen sie zusammen auf der Couch und schauten Bundesliga, brüllten und fachsimpelten. Obwohl Jacob mit Fußball nichts am Hut hatte. Moritz war Amateur-Schiedsrichter, Robert Jugendprofi.
Nach 24 Semestern und 35 Lehrveranstaltungen kündigte Jacob. Er wollte jetzt Fachlektor bei De Gruyter werden, zuständig für die Literatur übers Mittelalter und die frühe Neuzeit. Mit Fingerspitzengefühl feilte er an den Arbeiten stolzer Professoren. Lesen, bearbeiten, perfektionieren - das war sein Traumjob.
2014 spürte er etwas im Bein, es war ein Tumor. Jacob las alles zum Thema, ließ sich operieren, unterzog sich einer Chemotherapie. Er wollte zurück ins Leben, war ungeduldig, konnte es kaum erwarten, bei seiner Familie zu sein, bei seinen Manuskripten.
2016 hatte Moritz Schmerzen im Knie. Jacob nahm ihn mit zur nächsten Untersuchung. Moritz hatte den gleichen Krebs, eine sehr seltene Erbsache. Bei Jacob war er zurückgekehrt. Vater und Sohn gingen zur Chemo. Sie machten ein Foto von sich, darauf strahlen die beiden Glatzköpfe. Sie sprachen viel über das Leben, über ihre Ängste, über die Möglichkeit des baldigen Todes. Jacob nahm sich zurück, die Aufmerksamkeit der Familie gehörte vor allem Moritz, dem Jüngeren.
Jacobs Bein musste abgenommen werden. Okay, aber wann kann er in seinen Verlag zurück? Es gibt Fotos, da steht er am Messestand seines Verlages, grinst. Dass ihm ein Bein fehlt, fällt kaum auf. Das Leben ging weiter. Noch ein bisschen.
Moritz hatte noch einen Sommer. Sie kauften sich eine Datsche am See, Jacob renovierte, legte Laminat, wenn auch nicht mehr mit dem alten Perfektionismus. Mit der Zeit im Nacken wird man pragmatischer. Hauptsache, sie konnten gemeinsam noch so viel von diesem Leben genießen. Moritz ging das letzte Mal schwimmen, feierte das letzte Mal Geburtstag, atmete ein letztes Mal ein und aus, Ariane an seiner Seite.
Als sie ihr Kind zu Grabe trugen, zerriss es die Familie nicht. Im Gegenteil. Jacob nahm sich den Sohn zum Vorbild. Man lebt nur einmal. Sie bekochten Freunde, sie besuchten Sternerestaurants. Jacob ging ins Theater, in Opern, zuweilen dreimal in der Woche, er besuchte die Berlinale.
Das letzte Buch, das er bestellte, war das jüngste Werk von Franz Hohler. Er konnte es nicht mehr lesen. Einmal kamen die Freunde noch zu einem Festessen. Jacob räumte seinen Schreibtisch auf. Schredderte, was privat bleiben sollte. Kümmerte sich um den Bestatter, sorgte vor für die Zeit nach ihm.
Jacob starb zu Hause, Ariane war dabei, die zwei Söhne, sein bester Freund. Ihr Trost: „Jetzt ist er dort, wo Moritz auf ihn wartet.“ Karl Grünberg
Jacob war 26, studierte ältere deutsche Literatur an der FU. Ariane war 24, Museumswissenschaften. Ganz am Anfang, sie waren noch kein Paar, gab es diesen Moment: Sie stand am Spülbecken der WG, schrubbte Geschirr und hasste es. Jacob kam herein, ein Buch in der Hand, Kurzgeschichten für Kinder von Franz Hohler. Er setzte sich und las ihr vor. Seite um Seite, Teller um Teller.
Verliebt reisten sie durch die Welt, nach Wien, nach London. Jacob hatte überall Freunde, bei denen sie unterkamen. Praktika führte sie auseinander. Jacob schrieb ihr viele Briefe. „Ich freute mich wie wahnsinnig, wenn wieder einer im Briefkasten lag“, erzählt sie. Musste er ausnahmsweise auf E-Mails ausweichen, verpflichtete er sie, diese auf rosa Papier auszudrucken, Herzchen daraufzumalen, bevor sie sie las. Später schrieb er seine Jahresbriefe an Freunde und Verwandte.
Ihr Bauch wurde dicker und dicker; Jacob saß an seiner Magisterarbeit. Wer würde zuerst fertig werden? Er gab ab, dann kam Moritz auf die Welt, fünf Tage darauf hatte er seine letzte Prüfung. Vom Vatersein hatte er keine Ahnung, im Freundeskreis waren sie die Ersten mit Kind. Arbeit, Familie, Finanzen, all das teilten sie. Wenn Ariane arbeitete, trug Jacob ihr das Baby zum Stillen hinterher.
Jacob blieb an der Uni und lehrte Mittelhochdeutsch. Selbst angehende Grundschullehrer müssen das lernen, für viele langweilig und unsinnig. Jacob aber steckte etliche mit seiner Begeisterung an. Das erfuhr er aus etlichen Dankesbriefen. Zuweilen wandte er auch zu Hause seine pädagogischen Strategien an. Kam er in einer Debatte mit Ariane nicht weiter, nahm er ein Stück Papier und legte ein Schema an: „Hier stehst du, hier stehe ich. Und das da, darüber streiten wir “
Er beschäftigt sich mit mittelalterlichen Handschriften, mit ungedruckten Predigten, mit Minnereden, jenen Geschichten, in denen adligen Damen Bewunderung und Anbetung dargelegt wird. Darüber schrieb er seine Doktorarbeit. Summa cum laude, und trotzdem war er unzufrieden mit seinem Text. Fünf Jahre feilte er an einer neuen, druckreifen Version.
Mit den Nudeln übertrieb er es auch manchmal. Alle hatten Hunger, doch er musste sie selbst herstellen. Als er eine schlichte Kletterhilfe für die Rosen auf der Terrasse besorgen sollte, zeichnete er erst mal einen Bauplan. Mit Abstandshaltern und Unterlegern. Es wurde ein Riesenprojekt.
Auch in Gefühlsdingen ging er tief in die Details. „Das hatte er von seinen Eltern“, sagt Ariane. Aus Reutlingen, Baden Württemberg, kam er, die Mutter katholisch, der Vater evangelisch. Eine skandalöse Heirat. Jacob ging auf die Waldorfschule, schrieb mit seinem Bruder Märchenbücher, machte mit bei einer Jugendsendung im Radio. Vier Kinder waren sie zu Hause. Vier Kinder wollte er auch haben.
Moritz war da, Konrad kam auf die Welt, schließlich Robert. An der hälftigen Aufteilung der Eltern änderte sich nichts. Drei Kinder waren dann aber genug. Was die sich fetzen konnten! Jacob ging keiner Diskussion aus dem Weg. Frei sollten sie aufwachsen und sich gleichzeitig ihrer Verantwortung bewusst sein. Rief die Schule an, um sich über ein zu diskussionsfreudiges Verhalten zu beschweren, verteidigte er seine Jungs. Am Wochenende saßen sie zusammen auf der Couch und schauten Bundesliga, brüllten und fachsimpelten. Obwohl Jacob mit Fußball nichts am Hut hatte. Moritz war Amateur-Schiedsrichter, Robert Jugendprofi.
Nach 24 Semestern und 35 Lehrveranstaltungen kündigte Jacob. Er wollte jetzt Fachlektor bei De Gruyter werden, zuständig für die Literatur übers Mittelalter und die frühe Neuzeit. Mit Fingerspitzengefühl feilte er an den Arbeiten stolzer Professoren. Lesen, bearbeiten, perfektionieren - das war sein Traumjob.
2014 spürte er etwas im Bein, es war ein Tumor. Jacob las alles zum Thema, ließ sich operieren, unterzog sich einer Chemotherapie. Er wollte zurück ins Leben, war ungeduldig, konnte es kaum erwarten, bei seiner Familie zu sein, bei seinen Manuskripten.
2016 hatte Moritz Schmerzen im Knie. Jacob nahm ihn mit zur nächsten Untersuchung. Moritz hatte den gleichen Krebs, eine sehr seltene Erbsache. Bei Jacob war er zurückgekehrt. Vater und Sohn gingen zur Chemo. Sie machten ein Foto von sich, darauf strahlen die beiden Glatzköpfe. Sie sprachen viel über das Leben, über ihre Ängste, über die Möglichkeit des baldigen Todes. Jacob nahm sich zurück, die Aufmerksamkeit der Familie gehörte vor allem Moritz, dem Jüngeren.
Jacobs Bein musste abgenommen werden. Okay, aber wann kann er in seinen Verlag zurück? Es gibt Fotos, da steht er am Messestand seines Verlages, grinst. Dass ihm ein Bein fehlt, fällt kaum auf. Das Leben ging weiter. Noch ein bisschen.
Moritz hatte noch einen Sommer. Sie kauften sich eine Datsche am See, Jacob renovierte, legte Laminat, wenn auch nicht mehr mit dem alten Perfektionismus. Mit der Zeit im Nacken wird man pragmatischer. Hauptsache, sie konnten gemeinsam noch so viel von diesem Leben genießen. Moritz ging das letzte Mal schwimmen, feierte das letzte Mal Geburtstag, atmete ein letztes Mal ein und aus, Ariane an seiner Seite.
Als sie ihr Kind zu Grabe trugen, zerriss es die Familie nicht. Im Gegenteil. Jacob nahm sich den Sohn zum Vorbild. Man lebt nur einmal. Sie bekochten Freunde, sie besuchten Sternerestaurants. Jacob ging ins Theater, in Opern, zuweilen dreimal in der Woche, er besuchte die Berlinale.
Das letzte Buch, das er bestellte, war das jüngste Werk von Franz Hohler. Er konnte es nicht mehr lesen. Einmal kamen die Freunde noch zu einem Festessen. Jacob räumte seinen Schreibtisch auf. Schredderte, was privat bleiben sollte. Kümmerte sich um den Bestatter, sorgte vor für die Zeit nach ihm.
Jacob starb zu Hause, Ariane war dabei, die zwei Söhne, sein bester Freund. Ihr Trost: „Jetzt ist er dort, wo Moritz auf ihn wartet.“ Karl Grünberg