Nachruf auf Horst Jestram (* am 29. Mai 1942)
Wenn der Ulm am Start war, ging man ihm lieber aus dem Weg. Der Ulm war wütend, schmiss Stühle um, trat ganz nah an Leute ran und stieß sie fort. Die Mitbewohner der WG zogen sich in ihre Zimmer zurück, selbst Karsten, der große, kräftige Betreuer, schloss sich ein, als es der Ulm mal auf ihn abgesehen hatte.
Nicht immer konnte man sofort erkennen, wer er gerade war, der Ulm, der Peter Lohmeyer oder Horst höchstselbst. Wobei das Wort höchstselbst fragwürdig ist bei einem, der eben nicht nur der eine ist. Da ist es folgerichtig, dass das Wort „ich“ in seinem Wortschatz kaum vorkam. Von sich selbst, wer auch immer er gerade war, sprach er in der dritten Person, der Horst geht jetzt einkaufen, der Ulm hat das Essen anbrennen lassen, der Peter Lohmeyer ist an die Tür gegangen.
Horst hatten seine Eltern ihn genannt. Wie er auf die anderen beiden Namen kam, ist unbekannt. Er war auch nicht von Anfang an so vielfach unterwegs.
Der Vater, Busfahrer, starb früh, die Mutter behielt Horst und seinen Bruder Lothar bei sich, bis auch sie starb. Da waren die beiden schon erwachsen und verdienten ihr eigenes Geld. Lothar in einer Bäckerei, Horst in einer Schnapsbrennerei. Dass er auf eigenen Füßen stand, kann man nicht sagen. Die Mutter hatte sich ums Essen gekümmert, ihn zur Arbeit losgeschickt und ihn auch mal mit der Rute von „Tante Martha“ abgeholt. So hieß die Kneipe gegenüber, wo er hin und wieder seinen Lohn versoff, allein, denn mit anderen Leuten sprach er nicht so gern.
Lothar, sein Bruder, kann sich an den Tag erinnern, als der Anruf vom Krankenhaus kam, die Mutter sei gestorben. Er nahm Horst, setzte ihn neben sich ins Auto, stieg beim Krankenhaus aber allein aus, um zum Sterbebett zu gehen. Horst blieb sitzen, starr, und sagte nichts. Der Tag, an dem seine Mutter ihn verließ, war der 29. Mai 1966, sein 24. Geburtstag.
Lothar erzählt, dass Horst schon vorher merkwürdig gewesen war, „irgendwie so schüchtern“. Keine Freunde, in der Schule nicht gerade vorneweg, von der Klempner-Ausbildung überfordert. Jetzt aber wurde es wirklich schwierig mit ihm. Er stand nicht auf, ging nicht zur Arbeit, und als er mal im Keller übernachtet hatte, rief Lothar beim Gesundheitsamt an. Horst kam in die Nervenklinik, kam wieder nach Hause, dann wieder in die Klinik. So ging das ein paar Jahre hin und her, bis er in ein Heim eingewiesen wurde. „Is' besser so, glaub's mir“, sagte Lothar.
Weil er in dem Heim zu den weniger schwierigen Fällen zählte, wählten sie ihn für ein neues Projekt aus: Eine Wohngemeinschaft für Menschen, die mit deutlich mehr Freiheit umgehen können, als so ein Heim zulässt, auch wenn sie mit Mietverträgen und Versicherungspolicen überfordert sind und sich mitunter komisch verhalten. Das war Mitte der 80er, es war eine der ersten Wohngemeinschaften dieser Art in West-Berlin, so etwas wie die „Kommune 1“ 18 Jahre zuvor, nur ohne Presse-Arbeit und mit einem etwas realistischeren Fokus: Abwasch, Einkauf und Nachtruhe statt Lukács-Lektüre, Promiskuität und Revolution.
Jeden Tag kam ein Betreuer, manchmal kamen zwei, aber um den Haushalt kümmerten sich die vier Bewohner selbst. Horst war gut im Fegen - das erinnerte ihn an einen Job am Westhafen, wo sie Zuckersäcke lagerten und er immer ausfegen musste. Er buk auch gern Kuchen. Ob nun alle Zutaten da waren oder nicht, war weniger wichtig, entscheidend war der Vorsatz. Hatte er sich die etwas zu enge Schürze einmal umgebunden, war Horst nicht aufzuhalten. So kam es, dass im Kuchen mal die Eier fehlten - in herkömmlichen Wohngemeinschaften Anlass zur Fehlerdiskussion. Von Horsts Mitbewohnern beschwerte sich keiner. Die fanden es super, dass Horst das mal wieder durchgezogen hatte und dass Kuchen auf dem Tisch stand. Gut möglich, dass Peter Lohmeyer gebacken hatte anstatt Horst, da fragte niemand nach. Dass es nicht der Ulm war, wussten sie, denn der buk ja nicht, der machte Stunk.
Mit derlei Ausnahmesituationen gingen sie gelassen um. Nicht, weil sie meinten, sie schuldeten einander ein besonderes Maß an Nachsicht. Was andere für merkwürdig, anstrengend oder gar krankhaft halten würden, war Alltag, nicht der Rede wert. Dass Horsts Freund Werner außer sich geriet und den Brüllaffen machte, wenn die BSRler die Mülltonnen nicht ordentlich zurückgestellt hatten - wen kümmerte das? Es war ihm halt wichtig. Wenn der halbblinden Ilse wieder mal etwas nicht passte und sie anfing rumzuzetern - dann ließ man sie zetern. Die regte sich auch wieder ab. Und wenn die dicke Renate ankam und einen ohne Grund umarmte - sollte sie doch. Sie mochte es nun mal, wenn man einander lieb hatte.
Horst ging arbeiten, jeden Tag, bis zur Rente. In einer Werkstatt in Neukölln sägte er Stahlsockel aus, auf die kleine Fernsehtürme geschraubt wurden, Hauptstadtsouvenirs mit integrativer Herkunft. Die Anweisungen befolgte er mit großer Sorgfalt, er ließ sich nicht ablenken, schwieg während der Arbeitszeit, wie er auch in der Freizeit nicht allzu gesprächig war. Horst war beliebt, und er war stolz auf seine gute Arbeit; umso unverständlicher die plötzliche Verrentung mit 65. Was sollte das denn? Er war doch fit! Also suchten sie ihm etwas Neues: Botengänge für das Unionshilfswerk. Drei Tage in der Woche transportierte Horst die Post zwischen der Zentrale und den Wohngemeinschaften. Monatelang trainierten sie die Wege mit ihm, dann kam er allein klar. Abgesehen von ein paar kleinen Dramen im Schienenersatzverkehr liebte er auch diese Arbeit.
Allmählich baute er aber ab. Die heftigen Medikamente der frühen Jahre hatten seine Nieren ruiniert, er litt an Krämpfen, die Situationen, in denen er die Identitäten wechselte, häuften sich. Er erkundigte sich, ob Menschen mit 70 aufhören könnten mit der Arbeit. Uneingeweiht mochte man annehmen, dass er sich selbst meinte. Dabei meinte er nur den einen unter anderen, den Horst. Die anderen beiden arbeiteten ja gar nicht. Horst durfte selbstverständlich in den Ruhestand.
Horst, Ulm und Peter Lohmeyer sind jetzt gestorben, bestattet sind sie in einer Urne in der „Gemeinschaftsgrabstätte“ des Friedhofs Seestraße, nicht weit entfernt von der Wohnung, in der Horst Jestram aufgewachsen war. David Ensikat
Nicht immer konnte man sofort erkennen, wer er gerade war, der Ulm, der Peter Lohmeyer oder Horst höchstselbst. Wobei das Wort höchstselbst fragwürdig ist bei einem, der eben nicht nur der eine ist. Da ist es folgerichtig, dass das Wort „ich“ in seinem Wortschatz kaum vorkam. Von sich selbst, wer auch immer er gerade war, sprach er in der dritten Person, der Horst geht jetzt einkaufen, der Ulm hat das Essen anbrennen lassen, der Peter Lohmeyer ist an die Tür gegangen.
Horst hatten seine Eltern ihn genannt. Wie er auf die anderen beiden Namen kam, ist unbekannt. Er war auch nicht von Anfang an so vielfach unterwegs.
Der Vater, Busfahrer, starb früh, die Mutter behielt Horst und seinen Bruder Lothar bei sich, bis auch sie starb. Da waren die beiden schon erwachsen und verdienten ihr eigenes Geld. Lothar in einer Bäckerei, Horst in einer Schnapsbrennerei. Dass er auf eigenen Füßen stand, kann man nicht sagen. Die Mutter hatte sich ums Essen gekümmert, ihn zur Arbeit losgeschickt und ihn auch mal mit der Rute von „Tante Martha“ abgeholt. So hieß die Kneipe gegenüber, wo er hin und wieder seinen Lohn versoff, allein, denn mit anderen Leuten sprach er nicht so gern.
Lothar, sein Bruder, kann sich an den Tag erinnern, als der Anruf vom Krankenhaus kam, die Mutter sei gestorben. Er nahm Horst, setzte ihn neben sich ins Auto, stieg beim Krankenhaus aber allein aus, um zum Sterbebett zu gehen. Horst blieb sitzen, starr, und sagte nichts. Der Tag, an dem seine Mutter ihn verließ, war der 29. Mai 1966, sein 24. Geburtstag.
Lothar erzählt, dass Horst schon vorher merkwürdig gewesen war, „irgendwie so schüchtern“. Keine Freunde, in der Schule nicht gerade vorneweg, von der Klempner-Ausbildung überfordert. Jetzt aber wurde es wirklich schwierig mit ihm. Er stand nicht auf, ging nicht zur Arbeit, und als er mal im Keller übernachtet hatte, rief Lothar beim Gesundheitsamt an. Horst kam in die Nervenklinik, kam wieder nach Hause, dann wieder in die Klinik. So ging das ein paar Jahre hin und her, bis er in ein Heim eingewiesen wurde. „Is' besser so, glaub's mir“, sagte Lothar.
Weil er in dem Heim zu den weniger schwierigen Fällen zählte, wählten sie ihn für ein neues Projekt aus: Eine Wohngemeinschaft für Menschen, die mit deutlich mehr Freiheit umgehen können, als so ein Heim zulässt, auch wenn sie mit Mietverträgen und Versicherungspolicen überfordert sind und sich mitunter komisch verhalten. Das war Mitte der 80er, es war eine der ersten Wohngemeinschaften dieser Art in West-Berlin, so etwas wie die „Kommune 1“ 18 Jahre zuvor, nur ohne Presse-Arbeit und mit einem etwas realistischeren Fokus: Abwasch, Einkauf und Nachtruhe statt Lukács-Lektüre, Promiskuität und Revolution.
Jeden Tag kam ein Betreuer, manchmal kamen zwei, aber um den Haushalt kümmerten sich die vier Bewohner selbst. Horst war gut im Fegen - das erinnerte ihn an einen Job am Westhafen, wo sie Zuckersäcke lagerten und er immer ausfegen musste. Er buk auch gern Kuchen. Ob nun alle Zutaten da waren oder nicht, war weniger wichtig, entscheidend war der Vorsatz. Hatte er sich die etwas zu enge Schürze einmal umgebunden, war Horst nicht aufzuhalten. So kam es, dass im Kuchen mal die Eier fehlten - in herkömmlichen Wohngemeinschaften Anlass zur Fehlerdiskussion. Von Horsts Mitbewohnern beschwerte sich keiner. Die fanden es super, dass Horst das mal wieder durchgezogen hatte und dass Kuchen auf dem Tisch stand. Gut möglich, dass Peter Lohmeyer gebacken hatte anstatt Horst, da fragte niemand nach. Dass es nicht der Ulm war, wussten sie, denn der buk ja nicht, der machte Stunk.
Mit derlei Ausnahmesituationen gingen sie gelassen um. Nicht, weil sie meinten, sie schuldeten einander ein besonderes Maß an Nachsicht. Was andere für merkwürdig, anstrengend oder gar krankhaft halten würden, war Alltag, nicht der Rede wert. Dass Horsts Freund Werner außer sich geriet und den Brüllaffen machte, wenn die BSRler die Mülltonnen nicht ordentlich zurückgestellt hatten - wen kümmerte das? Es war ihm halt wichtig. Wenn der halbblinden Ilse wieder mal etwas nicht passte und sie anfing rumzuzetern - dann ließ man sie zetern. Die regte sich auch wieder ab. Und wenn die dicke Renate ankam und einen ohne Grund umarmte - sollte sie doch. Sie mochte es nun mal, wenn man einander lieb hatte.
Horst ging arbeiten, jeden Tag, bis zur Rente. In einer Werkstatt in Neukölln sägte er Stahlsockel aus, auf die kleine Fernsehtürme geschraubt wurden, Hauptstadtsouvenirs mit integrativer Herkunft. Die Anweisungen befolgte er mit großer Sorgfalt, er ließ sich nicht ablenken, schwieg während der Arbeitszeit, wie er auch in der Freizeit nicht allzu gesprächig war. Horst war beliebt, und er war stolz auf seine gute Arbeit; umso unverständlicher die plötzliche Verrentung mit 65. Was sollte das denn? Er war doch fit! Also suchten sie ihm etwas Neues: Botengänge für das Unionshilfswerk. Drei Tage in der Woche transportierte Horst die Post zwischen der Zentrale und den Wohngemeinschaften. Monatelang trainierten sie die Wege mit ihm, dann kam er allein klar. Abgesehen von ein paar kleinen Dramen im Schienenersatzverkehr liebte er auch diese Arbeit.
Allmählich baute er aber ab. Die heftigen Medikamente der frühen Jahre hatten seine Nieren ruiniert, er litt an Krämpfen, die Situationen, in denen er die Identitäten wechselte, häuften sich. Er erkundigte sich, ob Menschen mit 70 aufhören könnten mit der Arbeit. Uneingeweiht mochte man annehmen, dass er sich selbst meinte. Dabei meinte er nur den einen unter anderen, den Horst. Die anderen beiden arbeiteten ja gar nicht. Horst durfte selbstverständlich in den Ruhestand.
Horst, Ulm und Peter Lohmeyer sind jetzt gestorben, bestattet sind sie in einer Urne in der „Gemeinschaftsgrabstätte“ des Friedhofs Seestraße, nicht weit entfernt von der Wohnung, in der Horst Jestram aufgewachsen war. David Ensikat