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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Helga Simon (* am 4. März 1928)

Immer musste sie auf den guten, gepolsterten Stühlen herumturnen. Ihre Schuhe hatte sie natürlich anbehalten. Irgendwann hatte der Vorsitzende genug und erteilte ihr einen Rüffel. Ende der 50er Jahre war das, Helga Simon war die Hausfotografin der Jüdischen Gemeinde in West-Berlin. Feste, Gottesdienste, Hochzeiten, Musik, Sport, Politikerbesuche, all das dokumentierte sie. Da sie sehr klein war - das letzte Mal, als jemand gemessen hatte, waren es noch 138 Zentimeter - musste sie halt auf die Stühle. Nach der Rüge kaufte sie sich eine Klappleiter, vier Stufen. Seither blieben die Stühle sauber, und Helga war nur noch im Trio unterwegs: sie, die Leica und die Leiter.
Je näher dran an den Menschen, umso besser, ob Rabbi, Sänger oder Bundespräsident - egal. Bodyguards hatten ihre Mühe, sie auf Abstand zu bringen. In einer Fernsehdokumentation sieht man, wie sie sich einer geschlossenen Front von Fotografen nähert. Sie ruft: „Ich muss hier durch! Ich muss hier durch!“ Sie drückt mal hier, stochert mal da, drängt sich bis in die erste Reihe und rückt noch etwas weiter vor, bis sie selbst mit ihren hochtoupierten Haaren im Bild ihrer Kollegen steht. Die schimpfen und rufen, aber sie zur Seite zu schieben, das traut sich niemand. Resolut wäre ein gutes Wort, um sie zu beschreiben. Andere würden sie frech nennen oder dreist. Es kommt darauf an, wen man fragt.
Sie war andauernd unterwegs, ein paar Stunden Schlaf genügten ihr. Es war das wilde West-Berlin, und verpassen wollte Helga nichts. Immer bestens angezogen, in Bluse oder in Jackett, Hosenanzug, rote Lippen. Alle zwei Wochen ging sie zum Friseur.
Die Bundespräsidenten hat sie alle fotografiert, die meisten Kanzler, den einen oder anderen US- Präsidenten sowie eine beträchtliche Schar barbusiger Frauen in den Nachtclubs von Rolf Eden. Ungezählte Ball- und Messefotos sind erhalten, vom Bundespresseball, dem Ball der Fleischerinnung, von der Erotikmesse. Auf Silvesterpartys war sie mit einem Gehilfen im Schornsteinfegerkostüm unterwegs: Neben den durften sich die Leute stellen, sie machte das Foto, füllte den Bestellschein aus, und die Abzüge kamen dann in einer schönen Mappe nebst Rechnung mit der Post. Helga Simon war Fotografin und Geschäftsfrau. Als Künstlerin hat sie sich wahrscheinlich nicht gesehen.
Ihre Mutter hieß Else, eine Protestantin. Ihr Vater Moritz-Eugen, ein Jude. Als Soldat kämpfte er im Ersten Weltkrieg, wurde verwundet und ausgezeichnet. 1927 heirateten die beiden, im Jahr darauf kam Helga auf die Welt. Ihre Mutter war eine Modeschneiderin, „berühmt“, wie Helga sagte, besaß zwei Modegeschäfte, eines davon in der Kastanienallee, gleich am Prater. Ihr Vater arbeitete bei der Deutschen Bank. Doch die Lungenverletzung aus dem Krieg machte ihm zu schaffen, ein Herzleiden kam dazu, dann eine ansteckende Tuberkulose. 1934 trennten sich die Eltern, ob es an der Krankheit lag oder an den Nazis, vielleicht an beidem. Helga erinnert sich, dass ihr Vater immer hustete, wenn sie ihn besuchte.
In einem normalen Deutschland wäre Helga ein normales Kind gewesen. In diesem Deutschland galt sie als „Jüdischer Mischling ersten Grades“. In der Pogromnacht 1938 schrieb jemand „Judenkind“ auf die Schaufensterscheibe des Modegeschäftes der Mutter. Etwas später verwies der Schuldirektor Helga aus dem Klassenzimmer. Der Vater wurde abgeholt, nach Auschwitz deportiert, ermordet. Einmal stand die Gestapo in der Stube, sie wollten Helga abholen, um ihre Abstammung zu erörtern. Sie hatte sich im Bettkasten versteckt. Die Angst war ab jetzt immer da. Über einen Bekannten bei der Polizei besorgte die Mutter einen Kinderausweis, in dem die jüdische Abstammung nicht vermerkt war. Mutter und Tochter setzten sich nach Ostpreußen ab, wo sie bei Verwandten unterkamen.
Dann war es die Rote Armee, vor der sie flohen. Ihre Karawane wurde beschossen, eine der Kugeln traf die Mutter, im Getümmel verlor Helga sie aus den Augen, für immer. Sie war 17.
Sie schlug sich durch, mit List, mit Mut, mit Glück und auch mit Härte. In Berlin traf sie schließlich nach ein paar Jahren auf jenen Vorsitzenden, der ihr, wieder ein paar Jahre später, den Rüffel erteilen sollte. Das war Heinz Galinski, der die Jüdische Gemeinde wiederaufbaute. Er wurde so etwas wie eine Vaterfigur für sie. Und überredete sie, nicht nach Amerika auszuwandern, sondern erst mal einen Schulabschluss zu machen. Dann besorgte er ihr eine Stelle im Jüdischen Krankenhaus und ermutigte sie, Fotografin zu werden, nachdem er Fotos von ihr gesehen hatte: „Mädchen, du bist ein Naturtalent!“ Sie glaubte ihm und besorgte sich die Leica, mit der sie, wie sie oft betonte, verheiratet war. Es gab auch mal Männer, sie war auch mal verliebt, was Langfristiges ist aber nie daraus geworden.
Tausende von Negativen und Bildern ordnete sie in ihrer riesigen Wohnung in der Bismarckstraße 69. Das war eine Mischung aus Antiquariat, Museum und Fotostudio: dicke Teppiche, Vitrinen mit Geschirr, Kronleuchter, Blitzanlagen, Kuscheltiere und an den Wänden die Fotos von den Prominenten. Ihr vielleicht bestes Porträt: Bill Clinton, auf Postergröße gebracht, mit seinem Autogramm drauf.
Enge Freunde hatte sie nicht, vielleicht auch, weil sie die Menschen zu sehr in Anspruch nahm, zu forsch auftrat und niemals ihre Kamera weglegte. Immer an ihrer Seite waren Helfer und Assistentinnen. Zwei, drei von ihnen sind geblieben. Sie sorgten dafür, dass die Fotos im Landesarchiv aufgenommen wurden. Sie kümmerten sich um die vielen Sachen in der Wohnung, als Helga schließlich in eine Seniorenresidenz umzog. Sie besuchten sie oft und stellten irgendwann fest, dass sie sie tatsächlich lieb gewonnen hatten. Karl Grünberg