Nachruf auf Franz Josef Göbel (* am 29. März 1954)
Ein Mensch kann seinen Ort finden und ein Ort seinen Menschen. Manchmal kommt beides zusammen. Franz Josef Göbel und die Stadtklause, die hatten sich gefunden, da sind sich alle einig. Nun bleibt eine verwitwete Kneipe übrig, direkt neben der Tagesspiegel-Redaktion am Anhalter Bahnhof, in deren Gastraum Stammgäste und Kollegen neben einem kleinen Altar sitzen und das alles noch nicht fassen können. Franz ist sehr plötzlich verschwunden, so, wie er immer in Bewegung war, hypermotorisch, sagt Gisela, die ihn wohl am längsten kennt.
Sein bewegtes Leben begann in einem unterfränkischen Dorf, eine weiterführende Schule gab es dort nicht, so kam er mit neun Jahren auf ein katholisches Klosterinternat. In der elften oder zwölften Klasse schmiss er hin und ging nach Berlin. In dieser Zeit starb die Mutter, zu seinem Vater hatte er ein gespaltenes Verhältnis, der ganzen Generation warf er die Verbrechen der Nazizeit vor. Der Kontakt brach ab, ebenso zu den Brüdern. Nur seine Oma besuchte er jedes Jahr an ihrem Geburtstag, mehr als100 Jahre wurde sie alt.
In Berlin jobbte er in einer Fabrik in Reinickendorf, jobbte bei Siemens, jobbte als Postbote, jobbte als Schleusenwärter im Tiergarten, holte sein Abi nach, studierte Religionswissenschaften, ging allein nach Lissabon, kam zu zweit zurück, studierte Soziale Arbeit. Immer in Bewegung, immer in prekären Verhältnissen, aber Geld war ihm nicht wichtig. Man muss leben und sein Zimmerchen zahlen, lautete Franz' Devise.
Als er Ende der 80er Jahre beim Roten Kreuz anfing, lernte er Gisela kennen. Nach der Wende arbeiteten beide in einem Heim für jugendliche Geflüchtete. In einer Zeit, in der diese nur an Mauern stießen: Ausbildung, Schule, alles wurde ihnen verwehrt, sie durften im Heim nicht einmal selbst kochen. Unerträglich für einen wie Franz, für den es Mauern einfach nicht gab, der Wutausbrüche bekam, wenn er Ungerechtigkeit witterte, wenn Menschen litten. Er ging in Schulen, in Behörden, wo er lang und strategisch argumentierte, bis er für einen seiner jugendlichen Schützlinge etwas durchboxen konnte. Für geflüchtete Frauen und ihre Kinder bohrten Gisela und er auch mal ein Schloss auf, um eine Wohnung zu besetzen.
Mit Gisela gründete er das Wohnprojekt „Zwischenstation“. Franz war ein Sozialarbeiter der alten Schule, sagen die Kolleginnen. Er las Menschen von der Straße auf, die hilfsbedürftig auf ihn wirkten, brachte sie zu Ämtern, schlug Wohnungen oder Pflegestufen für sie raus. Er kannte weder Feierabend noch Wochenende, oft überholten seine Gedanken seine Worte. Haste schon, weißte schon, sagte er morgens noch in der Bürotür, und viele seiner Sätze beendete er nicht. Nee, wovon sprichst du eigentlich, sagten die Kollegen. Aber da war er schon wieder weg.
Aus dem Tagesgeschäft des Vereins zog er sich zurück, war aber immer da, wenn sie ihn brauchten, auf eine schwer greifbare Weise zuverlässig. Um von Freunden Abschied zu nehmen, ließ er alles stehen und liegen, ich muss nach Leipzig, ich muss nach Lissabon, ich muss zu einer Beerdigung, sagte er und war weg.
Rastlos gründete er einen weiteren Verein „für die krassen Fälle“, die nirgendwo sonst eine Chance hatten. Er hat viel erlebt, viel getan und nie viel Aufhebens darum gemacht. Und dabei doch vieles still miteinander verwoben. „Eigentlich kenne ich alle Leute, die ich kenne, irgendwie durch Franz“, sagt ein Stammgast und guckt auf Franz' Bild neben der Kerze auf dem Biertisch. Die anderen nicken zustimmend.
Die Stadtklause pachtete er anfangs mit dem Anspruch, die Reichen sollten für die Armen zahlen. Etwas mehr also für die Bratkartoffeln in der Kneipe, auf dass noch ein paar Portionen für die Bedürftigen raussprangen. Tagtäglich fuhr er welche zu den Obdachlosen auf den Winterfeldtplatz. Immer im Kampf, auch gegen sich selbst. Zwei Stunden konnte er durch den aprilkalten Schlachtensee schwimmen, Hunderte Kilometer Rad fahren.
Einerseits war er wie ein Vogel, frei, ohne Bindungen, andererseits voller Verantwortungsgefühl. Nahm er jemanden unter seine Fittiche, zog er das durch. Bruno Schleinstein zum Beispiel, einen Straßenmusikanten, der in einem Werner- Herzog-Film den Kaspar Hauser gespielt hatte, und der zum Inventar der Stadtklause gehörte. Immer auf demselben Platz saß er, spielte auf seinem Akkordeon, sagte unvermittelt: „Jaja, der Franz.“ „Jaja, der Bruno“, antwortete Franz.
„Die Stadtklause wurde unser zweites Wohnzimmer“, sagen zwei Kolleginnen aus der Redaktion. Der einen war sie Erweiterung ihrer Ein-Zimmer-Wohnung, der anderen eine willkommene Kombination aus Feierabend- und Rechercheort. Das Abgeordnetenhaus ist gleich um die Ecke; da konnte man sicher sein, nach Sitzungstagen den ein oder anderen Politiker vor einem Stullenteller mit Gürkchen anzutreffen.
Ein Stammgast erzählt von Franz' glühender Verehrung für Eintracht Frankfurt. Als kleiner Junge sei er mit seinem Onkel zu den Spielen gefahren, hinten auf dessen Moped. Über Dinge, die ihn interessierten, konnte Franz endlos monologisieren: Berlin-Geschichte, alte Zugpläne und Fußball sowieso. „Manchmal musste ich ihn unterbrechen,“ erzählt der Stammgast. Und sahen sie sich dann mal einige Monate nicht, knüpfte Franz mit einem vollendenden Halbsatz dort an, wo er beim letzten Mal unterbrochen wurde.
Über Privates sprach er weniger. „Das ist der Menschenschlag“, meint der Stammkunde, auch er aus Unterfranken, „man teilt hier nicht gern viel von sich selbst.“ Fragte man Franz, wie geht's, sagte er meist: „Muss.“ Viele wussten gar nicht, dass er Sozialarbeiter war. Oder dass er vor einigen Jahren Vater geworden war.
Franz schmiss die Kneipe am Anfang allein, dann holte er sich „die Jungs“ dazu, teilweise ehemalige Schützlinge, die das Alltagsgeschäft übernahmen. Im Frühjahr 2020 wollte er aufgeben, „die Jungs“ übernahmen den Laden - und Franz war weiterhin jeden Tag da.
Er hat schneller gelebt als andere, sagen sie über ihn. Er brannte für vieles, verbrannte sich womöglich selbst. Er ist in seinem Bett gestorben, plötzlich, ohne Vorwarnung. Wahrscheinlich war's das Herz.Constanze Nauhaus
Sein bewegtes Leben begann in einem unterfränkischen Dorf, eine weiterführende Schule gab es dort nicht, so kam er mit neun Jahren auf ein katholisches Klosterinternat. In der elften oder zwölften Klasse schmiss er hin und ging nach Berlin. In dieser Zeit starb die Mutter, zu seinem Vater hatte er ein gespaltenes Verhältnis, der ganzen Generation warf er die Verbrechen der Nazizeit vor. Der Kontakt brach ab, ebenso zu den Brüdern. Nur seine Oma besuchte er jedes Jahr an ihrem Geburtstag, mehr als100 Jahre wurde sie alt.
In Berlin jobbte er in einer Fabrik in Reinickendorf, jobbte bei Siemens, jobbte als Postbote, jobbte als Schleusenwärter im Tiergarten, holte sein Abi nach, studierte Religionswissenschaften, ging allein nach Lissabon, kam zu zweit zurück, studierte Soziale Arbeit. Immer in Bewegung, immer in prekären Verhältnissen, aber Geld war ihm nicht wichtig. Man muss leben und sein Zimmerchen zahlen, lautete Franz' Devise.
Als er Ende der 80er Jahre beim Roten Kreuz anfing, lernte er Gisela kennen. Nach der Wende arbeiteten beide in einem Heim für jugendliche Geflüchtete. In einer Zeit, in der diese nur an Mauern stießen: Ausbildung, Schule, alles wurde ihnen verwehrt, sie durften im Heim nicht einmal selbst kochen. Unerträglich für einen wie Franz, für den es Mauern einfach nicht gab, der Wutausbrüche bekam, wenn er Ungerechtigkeit witterte, wenn Menschen litten. Er ging in Schulen, in Behörden, wo er lang und strategisch argumentierte, bis er für einen seiner jugendlichen Schützlinge etwas durchboxen konnte. Für geflüchtete Frauen und ihre Kinder bohrten Gisela und er auch mal ein Schloss auf, um eine Wohnung zu besetzen.
Mit Gisela gründete er das Wohnprojekt „Zwischenstation“. Franz war ein Sozialarbeiter der alten Schule, sagen die Kolleginnen. Er las Menschen von der Straße auf, die hilfsbedürftig auf ihn wirkten, brachte sie zu Ämtern, schlug Wohnungen oder Pflegestufen für sie raus. Er kannte weder Feierabend noch Wochenende, oft überholten seine Gedanken seine Worte. Haste schon, weißte schon, sagte er morgens noch in der Bürotür, und viele seiner Sätze beendete er nicht. Nee, wovon sprichst du eigentlich, sagten die Kollegen. Aber da war er schon wieder weg.
Aus dem Tagesgeschäft des Vereins zog er sich zurück, war aber immer da, wenn sie ihn brauchten, auf eine schwer greifbare Weise zuverlässig. Um von Freunden Abschied zu nehmen, ließ er alles stehen und liegen, ich muss nach Leipzig, ich muss nach Lissabon, ich muss zu einer Beerdigung, sagte er und war weg.
Rastlos gründete er einen weiteren Verein „für die krassen Fälle“, die nirgendwo sonst eine Chance hatten. Er hat viel erlebt, viel getan und nie viel Aufhebens darum gemacht. Und dabei doch vieles still miteinander verwoben. „Eigentlich kenne ich alle Leute, die ich kenne, irgendwie durch Franz“, sagt ein Stammgast und guckt auf Franz' Bild neben der Kerze auf dem Biertisch. Die anderen nicken zustimmend.
Die Stadtklause pachtete er anfangs mit dem Anspruch, die Reichen sollten für die Armen zahlen. Etwas mehr also für die Bratkartoffeln in der Kneipe, auf dass noch ein paar Portionen für die Bedürftigen raussprangen. Tagtäglich fuhr er welche zu den Obdachlosen auf den Winterfeldtplatz. Immer im Kampf, auch gegen sich selbst. Zwei Stunden konnte er durch den aprilkalten Schlachtensee schwimmen, Hunderte Kilometer Rad fahren.
Einerseits war er wie ein Vogel, frei, ohne Bindungen, andererseits voller Verantwortungsgefühl. Nahm er jemanden unter seine Fittiche, zog er das durch. Bruno Schleinstein zum Beispiel, einen Straßenmusikanten, der in einem Werner- Herzog-Film den Kaspar Hauser gespielt hatte, und der zum Inventar der Stadtklause gehörte. Immer auf demselben Platz saß er, spielte auf seinem Akkordeon, sagte unvermittelt: „Jaja, der Franz.“ „Jaja, der Bruno“, antwortete Franz.
„Die Stadtklause wurde unser zweites Wohnzimmer“, sagen zwei Kolleginnen aus der Redaktion. Der einen war sie Erweiterung ihrer Ein-Zimmer-Wohnung, der anderen eine willkommene Kombination aus Feierabend- und Rechercheort. Das Abgeordnetenhaus ist gleich um die Ecke; da konnte man sicher sein, nach Sitzungstagen den ein oder anderen Politiker vor einem Stullenteller mit Gürkchen anzutreffen.
Ein Stammgast erzählt von Franz' glühender Verehrung für Eintracht Frankfurt. Als kleiner Junge sei er mit seinem Onkel zu den Spielen gefahren, hinten auf dessen Moped. Über Dinge, die ihn interessierten, konnte Franz endlos monologisieren: Berlin-Geschichte, alte Zugpläne und Fußball sowieso. „Manchmal musste ich ihn unterbrechen,“ erzählt der Stammgast. Und sahen sie sich dann mal einige Monate nicht, knüpfte Franz mit einem vollendenden Halbsatz dort an, wo er beim letzten Mal unterbrochen wurde.
Über Privates sprach er weniger. „Das ist der Menschenschlag“, meint der Stammkunde, auch er aus Unterfranken, „man teilt hier nicht gern viel von sich selbst.“ Fragte man Franz, wie geht's, sagte er meist: „Muss.“ Viele wussten gar nicht, dass er Sozialarbeiter war. Oder dass er vor einigen Jahren Vater geworden war.
Franz schmiss die Kneipe am Anfang allein, dann holte er sich „die Jungs“ dazu, teilweise ehemalige Schützlinge, die das Alltagsgeschäft übernahmen. Im Frühjahr 2020 wollte er aufgeben, „die Jungs“ übernahmen den Laden - und Franz war weiterhin jeden Tag da.
Er hat schneller gelebt als andere, sagen sie über ihn. Er brannte für vieles, verbrannte sich womöglich selbst. Er ist in seinem Bett gestorben, plötzlich, ohne Vorwarnung. Wahrscheinlich war's das Herz.Constanze Nauhaus