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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Heidrun Suhr (* am 21. Mai 1951)

Sie sitzt oft in der Küche ihrer Wohngemeinschaft in Marburg und diskutiert über Gleichberechtigung, Karl Marx und die Welt. Es sind die 70er Jahre, kurz nach der Studentenbewegung, und ihre WG ist eine, wie man sich WGs aus dieser Zeit vorstellt. Es gibt eine kleine Bibliothek mit vielen Lexika, in der Küche hängen Zettel mit Preisen für Lebensmittel wie Mehl und Zucker. An den Bücherständen vor der Uni-Mensa kaufen sie ihre Bücher, mit dem Lastenrad befördern sie Bierkästen, im Kino gucken sie „Spiel mir das Lied vom Tod“, am Küchentisch spielen sie das Finale der Schachweltmeisterschaft nach, Fischer gegen Spasski. Alles ist wichtig, in Marburg, in Berlin, in Washington, überall. Und mittendrin ist sie, Heidrun Suhr, eine junge Studentin mit dunklen Locken und einer großen runden Brille, die die Welt entdecken will.
Als sie zur Welt kam, waren ihre Eltern noch sehr jung und schwer beschäftigt mit dem Geldverdienen. Deshalb wuchs Heidrun bei ihren Großeltern in Oldenburg auf. Dass Oldenburg nicht der passende Ort für sie war, das merkte sie früh. Zu klein, sie musste fort von hier. Für ein Jahr ging sie nach Detroit an die Highschool. Von dort sandte sie Päckchen an ihre kleine Schwester Elke in Oldenburg, eine Kette mit einem Peace-Zeichen schickte sie, lange Röcke, Perlen. Die kleine Schwester galt damit als cool, Amerika war noch so weit weg.
Heidrun verliebt sich in das Land, dieses Gefühl von Freiheit mag sie und die amerikanische Höflichkeit, die Offenheit auch. Nach dem Abitur studiert sie zunächst Anglistik, Germanistik und Politikwissenschaften in Marburg. Die WG mit den Diskussionen und dem Schachspiel am Küchentisch löst sich irgendwann auf, Heidrun zieht mit einem Mann zusammen. Er ist dann aber doch nicht der Richtige für sie, und sie merkt, dass sie sich ohnehin nicht binden will. Eine Familie, ein Nest einrichten, das ist nicht ihr Plan. Sie will Menschen kennenlernen, Neues erleben, Karriere machen. Und vor allem will sie zurück in die USA.
Sie schreibt ihre Doktorarbeit über englische Schriftstellerinnen des 18. Jahrhunderts und landet nach Stationen in Hamburg und London endlich wieder in den Staaten. An der University of Minnesota arbeitet sie als Professorin für den Deutschen Akademischen Austauschdienst, gibt germanistische Seminare, organisiert Konferenzen, zum Beispiel eine zum 750. Geburtstag von Berlin in Minnesota. Heidrun weiß, wen sie kennen muss, damit es in ihrer Karriere weitergeht. Geschickt baut sie ihr Netzwerk auf.
Ihre Pläne gehen auf. 1995 wird sie Leiterin des „Deutschen Hauses“, mitten in Manhattan, betrieben von der New York University. Mit Deutschkursen finanziert sich die Einrichtung; außerdem finden hier Lesungen, Gespräche, Seminare und Filmvorführungen statt. Für Heidrun ist es der perfekte Job. Und genau da, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, kommt die Diagnose: Multiple Sklerose.
Die Krankheit zwingt Heidrun dazu, ihre Traumstelle nach nur einigen Monaten wieder abzugeben. Nach außen, gegenüber ihren Freundinnen und Freunden, zeigt sie sich oft stark, so als könnte ihr die Diagnose nichts anhaben. Wenn sie mit ihrer Schwester spricht, dann weint sie auch.
Zwar bekommt Heidrun einen neuen Job beim Deutschen Akademischen Austauschdienst, allerdings in der Zentrale, in Bonn. Nach New York ist das fast wie eine Rückkehr ins piefige Oldenburg, das sie so glücklich verlassen hatte. Wenn es in Deutschland eine Stadt gibt, die es zumindest ein bisschen mit New York aufnehmen kann, dann wohl Berlin. Als sie wegen der Krankheit nach ein paar Jahren nicht mehr arbeiten kann und eine Rente bekommt, zieht sie sofort in die Hauptstadt. Hier ist Heidrun wieder glücklich, wegen ihrer vielen Freundinnen in der Stadt und vor allem wegen des Kulturangebots. Ihr Interesse an der Welt und an den Menschen ist immer noch riesengroß. Sie ist Stammgast bei der Berlinale und im Deutschen Theater, auf ihrem Motorroller düst sie durch die Stadt, den Rollator hat sie hinten draufgespannt, ihre Haare wehen im Wind.
Heidrun engagiert sich für Geflüchtete und bringt dem jungen Afghanen Hayatullah Deutsch bei. Es entsteht eine richtige Freundschaft. Und sie setzt sich für die Rechte derer ein, die wie sie nicht nicht laufen können. Wenn sie mit der U-Bahn eine Station weiterfahren muss, weil es dort, wo sie hinwollte, doch keinen Aufzug gibt, obwohl er auf der Internetseite erwähnt wird, dann beschwert sie sich selbstverständlich.
Zu ihrem letzten Geburtstag im Sommer kommen 30 Freundinnen, mehr können es wegen der Corona-Bestimmungen nicht sein. Für alle ist klar: Es ist ein Abschiedsfest. Mit dabei sind auch noch welche aus ihrer Studentenwohngemeinschaft in Marburg. Laurenz Schreiner