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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Rainer Kappe (* am 11. August 1943)

Da schlägt er einen Roman auf, beginnt zu lesen und stutzt: Herr Prof. Dr. Dr. Kappe? Ein Historiker? Ein hochgewachsener Mann, dem Umfang nach nicht gerade zierlich? In HahnentrittmusterSakko, aber ohne Krawatte? Ein Rebell?
Das war doch er! Gut, einiges traf nicht exakt zu, Doktor und Professor war er nicht, dafür jemand mit einem lebenslangen Interesse an der Geschichte. Einige Leute meinten sogar, er sei Historiker. Sonderlich hochgewachsen war er auch nicht. Eine Krawatte trug er erst in seinen letzten Jahren, zuvor niemals. Und Rebell mag vielleicht ein wenig hochtrabend klingen - obwohl er seinen Mund aus Bequemlichkeit nie gehalten hatte.
Der Roman, der den Professor Kappe beschrieb, der Rainer Kappe in so vielen Dingen ähnelte, heißt „Responsibility“, Verantwortung. Der neuseeländische Autor Nigel Cox erzählt darin von den ersten Jahren des Jüdischen Museums in Berlin, in dem Rainer Kappe tatsächlich arbeitete, wenn auch nicht als Historiker, sondern als Verwaltungsangestellter.
Rainer Kappe hatte nicht das Geringste gegen sein Roman-Ich einzuwenden, die, die ihn gut kannten, behaupteten sogar, Nigel Cox habe ihn vortrefflich skizziert.
Eigentlich also war er kein Historiker. Er war Jurist, wie bereits sein Vater. Den er allerdings erst kennenlernte, als dieser aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, nach Rheinsberg, wohin die Mutter inzwischen mit den drei Söhnen gezogen war. Ursprünglich kamen sie aus Berlin und hatten wegen der Bombardierungen die Stadt verlassen. Der Vater tauchte eines Tages auf, ein vollkommen fremder Mann, furchteinflößend für das Kind, das sich nicht anders zu helfen wusste, als mit seinen Fäusten auf ihn einzutrommeln. Weshalb die Leute ihn den „Boxer von Rheinsberg“ nannten.
Die Familie zog weiter, nach Hamburg. Das Verhältnis des Kindes zum Vater blieb schwierig. Die Eltern trennten sich, Rainer spielte Schach, machte sein Abitur und zeichnete vor allem. Zeichnete auf jeden Schnipsel, der herumlag, Papier war äußerst knapp, Figuren, Karikaturen, wurde immer gewandter mit dem Stift. Er zeichnete auch in der Schule, auf feuchtes Löschpapier, klebte die Blätter dann an die Decken der Unterrichtsräume, woraufhin sie, nach dem Trocknen, auf die Tische der Lehrer segelten. Und mancher von denen schalt ihn nicht, sondern steckte das herabgeschwebte Werk in seine Tasche, weil es ihm so gut gefiel.
Rainers Talent fürs Künstlerische lag in der Familie. Seine Mutter malte und auch seine Großmutter, die unter dem Pseudonym Hannes Petersen einige Bekanntheit erlangt hatte und es sich leisten konnte, in Steglitz ein Haus zu bauen, in dem sie mit ihrem zweiten Mann, einem Bildhauer, wohnte und in dem auch, viel später, Rainer leben würde.
Ein Kunststudium nahm er dennoch nicht auf, sondern schrieb sich stattdessen für Jura ein. Arbeitete in der Zeit des Studiums als Helfer während der Hamburger Sturmflut, als Kistenstapler im Hafen, als Anstreicher bei der Bahn. Er verbrachte ein Auslandssemester in Ceylon, in den Sechzigern alles andere als gang und gäbe, zumal er den Landweg und das Schiff nahm anstelle des Flugzeugs.
Nach dem Jahr sprach er so hervorragend Englisch, dass er, schlicht weil es ihm Freude machte, noch ein Lehramtsstudium begann. Er zeichnete weiter, Karikaturen, die deutlich politischer wurden. Am 2. Juni 1967 war er vor der Deutschen Oper, als die Polizei, während des Staatsbesuchs des iranischen Schahs, demonstrierende Studenten verprügelte.
Den Umgang mit den Naziverbrechen in der Bundesrepublik oder vielmehr ihr Beschweigen hielt er für einen Skandal. Schon in Schülertagen: Dieser Geschichtslehrer, der munter behauptete, die Attentäter des 20. Juli 1944 seien allesamt Verbrecher gewesen, wogegen Rainer deutlich Position bezog. Und jetzt, an der Freien Universität, dieser Ordinarius des Ostasiatischen Seminars, Hans Eckardt, der in den Vierzigern während seiner Lehrzeit in Kyoto eine Leitungsfunktion beim Nationalsozialistischen Lehrerbund innehatte und nun weiter schamlos antisemitisch hetzte. Zusammen mit anderen Studenten stieg Rainer in das Institut ein, brach ein Klosettbecken aus dem Toilettenraum, stellte es auf den gepflegten Rasen vor das Institut und befestigte ein gut lesbares Schild daran: „Leerstuhl für Eckardt“. Über die Aktion berichtete der „Spiegel“.
1981 begegnete ihm Rita, Stadtplanerin und Bildhauerin. Sie heirateten, bekamen drei Söhne. Rainer fand einen Job im Deutschen Bibliotheksinstitut, stieg vom Sachbearbeiter in der Telefonzentrale auf in den Personalrat. Und schaffte es, als das Institut 1999 aufgelöst wurde, alle Kollegen an andere Stellen zu vermitteln, nicht ein Einziger wurde arbeitslos.
2001 kaufte er sich seine erste Krawatte. Denn ein neuer Abschnitt begann, und das wollte er zu erkennen geben. Man hatte ihm eine Stelle im gerade eröffneten Jüdischen Museum angeboten. Da schloss sich für ihn ein Kreis, alles kam zusammen: die Geschichte, das Recht, die Kunst. Er stieg wieder auf, vom einfachen Verwaltungsangestellten zum Personalleiter. Er entwickelte Ideen für Ausstellungen, bot Führungen an. Nachdem er in Rente gegangen war, arbeitete er als Berater weiter für das Museum. Er gab die Tagebuchaufzeichnungen eines niederländischen Quäkerjungen heraus, der 1943 nach Auschwitz deportiert worden war. Und er zeichnete.
Rita, seine Frau, zog sich mehr und mehr zurück in eine Welt, zu der sonst niemand Zugang hatte. Möglicherweise die Folge einer Hirnhautentzündung nach einem Zeckenbiss. Sie fühlte sich verfolgt. Verlor den Halt. Als er sie fand, war er zutiefst erschüttert. Hatte er doch alles versucht. Aber sie wollte gehen. Ohne Ritas Dämonen, da war er sich sicher, wären sie beieinander geblieben in dem Glück der Jahre vor der Krankheit. Rainer trauerte - doch war er selbst ja noch am Leben. Und wurde wieder jener höfliche, humorige Mensch, der er gewesen war. Bis er begann, seine Erinnerungen zu verlieren. Bis auch er sich in eine Welt zurückzog, zu der sonst niemand Zugang hatte. Tatjana Wulfert