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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Christoph Richter (* am 09.04.1932)

Geht man es halbherzig an, ist mehr verdorben, als gefördert werden soll. Im Musikunterricht beispielsweise. Über Jahrzehnte entschied sich das Gros der Musiklehrer zwischen zwei Herangehensweisen, ihren Unterricht abzuhalten: Entweder wählten sie die Praxis, das heißt, sie sangen fast ausschließlich mit ihren Schülern. Oder sie entschieden sich, der Sache einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben und versuchten, Noten und Begriffe in die jungen Köpfe zu pressen. G-Dur und e-Moll, Adagio, Andante, Etüde, Fuge, Polyphonie: In den jungen Köpfen schwirrten die Worte nur umher. Was die Lehrer hingegen versäumten, ihren Schülern beizubringen, war das Hören. Das genaue Hinhören. Was erzählt uns das Stück? Welche Gefühle erzeugt es? Mit welchen Mitteln werden diese Gefühle erzeugt? Was hat Musik mit ihnen, mit ihrem Alltag zu tun?
Der Mangel an diesen Fragen und den dazugehörigen Antworten führte im ungünstigsten Fall zu einem lebenslangen Widerwillen gegen die klassische Musik. Dabei sind gerade junge Köpfe so aufnahmebereit. Christoph Richter erkannte das. Und begann, dem Versäumnis entgegenzuwirken. Doch der Reihe nach.
Drei Jahre nach seiner Geburt in einer tschechischen Stadt nahe des Altvatergebirges übernahm sein Vater die Pfarrstelle der Aegidienkirche in Lübeck. Aus der Höhe ins Flachland, in die giebeligen Gassen, an die See. Zu Pfingsten, sommers oder wann immer frei von Verpflichtungen, ging es in die Lübecker Bucht, an den Strand. Da saß er, Christoph, auf mit Muscheln bestreutem Grund, sah auf das Meer, das sich rhythmisch vor und zurück bewegte, sah es mal sanft sich kräuseln oder tosend sich überschlagen, ein Element mit Musik darin. Wie er es viele Jahre später denn auch notierte: Damals, am Strand, begann sich, „sozusagen in den Solokadenzen der streng und zu unserem Besten geregelten Tuttiblöcke des Tages“, sein Verhältnis zum Meer, „ein unendliches gegenseitig gleichgewichtiges Gespräch“, aufzubauen. So, wie es mit der Musik und der Pädagogik sein würde.
Er begann mit fünf, die Geige zu lernen. Daneben Klavier. Was nicht verwundert, denn sein Elternhaus, zugleich das Pfarrhaus, war ein musisches und offenes. Das Orgelspiel, der Gesang, sein Vater, der unablässig Menschen empfing. Der sich damals, unter der Naziherrschaft, in der „Bekennenden Kirche“ engagierte und deshalb mit Hausarrest und Predigtverbot bestraft wurde. In diesem Haus hatte Christoph das Zweierlei, welches sein Wesen auf immer prägte, erlernt: die „Freude am Genuss“, wie er schrieb, „an Menschen, am Fest“, und das „Bewusstsein vom Dienst“.
Das Meer, die Musik, die Schule. Genuss und Dienst. Sein Abitur erhielt er am Katharineum, der ehemaligen Klosterschule mit Kreuzgängen und gotisch gewölbten Klassenzimmern, das Thomas Mann einst, erleichtert, der Pein der Lehrer entkommen zu sein, ohne Matura verlassen hatte. Nicht so Christoph. Denn der beschritt den Schulweg weiter. Ging fort aus Lübeck. Studierte Geige und Pädagogik. Dazu Germanistik und Philosophie. Spielte in Orchestern, leitete einen Chor. Heiratete. Bekam Kinder. Entschloss sich gegen das professionelle Musizieren und für das Unterrichten, denn erstens verspürte er wenig Lust, die kommenden 40 Jahre in einem Orchester zu geigen; zweitens war es ihm ein Bedürfnis zu lehren und zugleich die Lehre voranzubringen.
Zunächst zog er mit der Familie für zehn Jahre nach Schleswig, wo er Deutsch- und Musikstunden erteilte und obendrein den Musiklehrplan erstellte. Ging zurück nach Lübeck, an die neugegründete Musikhochschule, wo er die Schulmusikabteilung aufbaute. Zog 1973 weiter, nach Berlin, dem Ruf der „Hochschule der Künste“ folgend, leitete als Dekan den Fachbereich Musikpädagogik und Musikwissenschaft.
Er bildete Generationen von Musiklehrern aus, betreute zig Promotionen, demonstrierte den Studenten, wie eine Unterrichtsstunde ablaufen könnte, besuchte Schulen.
Und er dachte nach. Darüber, wie die Pädagogik gründlicher auf ein philosophisches Fundament gestellt werden müsse. Wie man das Objekt aller Pädagogik, den Schüler, stärker in seiner Lebenswirklichkeit zu betrachten habe. Er nahm die Hermeneutik, speziell die Heideggers und Gadamers, diese Kunst des Auslegens, die davon ausgeht, dass alles Wissen schon auf einem Verstehen beruht, welches man jeweils deutet, und wandte es auf die Musik und das Unterrichtsgeschehen an. Beschrieb die Zirkelbewegung zwischen einem Musikstück und dem hörenden Schüler, eine Bewegung, dem Rhythmus des Meeres gleich, die dynamisch ist und vor allem niemals abgeschlossen. Er legte sich in seiner Dissertation den Begriff des Spiels vor und durchdrang ihn, denn das Spiel, einerseits als praktizierte Musik, andererseits dem Kind naturgemäß sehr nah, eignet sich in hohem Maße, Musik zu entschlüsseln.
Nach der Zeit an der Berliner Hochschule übernahm er eine Gastprofessur in Wien, gab Zeitschriften heraus, schrieb Bücher, spielte Geige in zwei Streichquartetten, fuhr ans Meer, lehrte in Seminaren, wie man musikinteressierte Laien unterrichtet.
Saß in seinem Arbeitszimmer, las, zurückgezogen. Dann und wann warf ihm seine Frau diesen bestimmten Blick zu, einen Blick, der fragte, ob er seine Lebendigkeit, das Zweierlei aus Genuss und Dienst in den Hörsälen gelassen habe. Es war ihm kein Leichtes, Sentiment zu zeigen, es wirkte immer noch, das protestantische Ethos aus den Lübecker Kinderjahren. Überdies die Ärgernisse des Körpers, die zunehmenden Anfälligkeiten. Begann man mit ihm jedoch über Musik zu sprechen, wurde er der junge Mann von einst.
Er starb am 26. Oktober an den Folgen eines Schlaganfalls. Sein letztes Buch, „Wege der Begegnung mit Musik“, wird demnächst erscheinen. Tatjana Wulfert