Nachruf auf Hildegard Kneissler (* am 05. Mai 1924)
Hildegard Kneissler, ein kleiner, leiser Mensch in dieser Riesenstadt, gerade mal 1,53 cm groß, ein Körnchen im Metropolenkosmos, doch nachwirkend auf viele, die sie trafen. Weil ein gutes Herz die Richtigen nun mal beeindruckt.
Das Leben hat sie keineswegs verwöhnt, aber sie nahm es, wie es kam und wollte niemals alles anders haben. Sie hat nicht geklagt über den harten Beruf als Krankenschwester, die kleine Wohnung, das schmale Gehalt, die Nachtschichten. „Am Leben sein“ war ihr Geschenk genug, denn vorneweg hatte der Tod gelauert: in einem fürchterlichen Krieg, dem sich die Flucht anschloss.
Mutter und Vater Kneissler waren Schwaben in der Ukraine, bevor sie nach Pommern gingen, und von dort nach Eberswalde. Hildegard war ihr elftes und ihr letztes Kind, zwei Söhne und neun Töchter gab es, die Älteste schon 24 Jahre alt. Das Nesthäkchen durfte „Mama“ und „Papa“ zu den Eltern sagen, den älteren Geschwister war „Mutter“ und „Vater“ anerzogen worden. War die Kleinste auch deswegen so ein liebevoller Mensch geworden, weil ihr der größte Anteil Zuneigung entgegen kam?
Sechs ihrer Schwestern wurden Krankenschwestern, Hildegard strebte die Hebammensausbildung an. Sie begann damit in Stettin, brach aber ab, des Krieges wegen. 1944 dann die Flucht, die Eltern schickten sie voraus mit einer Nichte und dem Vetter an der Hand. Von Eberswalde ging es Richtung Norden, bei Flensburg blieben sie. Wie fast alle, die dieses Schicksal teilten, war auch sie darüber später sehr verschlossen, was Umstände und Erlebnisse der Flucht anging. Als sei dieses Martyrium ein Makel, den man selbst verschuldet hatte. Sie kam bei Bauern unter, für die sie arbeitete, und begann 1946 eine Ausbildung zur Krankenschwester.
Doch dann passiert, was damals eine junge Frau ins Abseits stellt: Sie wird schwanger, ungewollt. Es gibt keine Ehe zu diesem Kind, über den Vater wird sie nie ein Wort verlieren. Da können Tochter und Enkelin später noch so bohren, sie bleibt stumm darüber. Nicht verbittert stumm, aber doch stumm.
Unter Tränen gesteht sie ihren Eltern, was passiert ist. Komm nach Hause!, sagen die, und sie kehrt zurück nach Eberswalde, setzt die Krankenschwesterausbildung fort, und läuft im kalten März des Jahres 1948 mit Wehen und allein ins Krankenhaus. Die Hebamme dort ist hart und unerbittlich, sie sagt, sie solle sich „nicht anstellen“ und „hinne machen“. Bei aller Schande des Niederkommens ohne Ehering, hat sie auch Glück im Unglück: Nachdem vor ihr schon zwei Schwesterschülerinnen wegen unehelicher Kinder von der Schule geflogen sind, drücken die Lehrerinnen bei ihr ein Auge zu. Sie darf die Ausbildung zu Ende machen.
Dann eben Eberswalde. Und die DDR, für die sich die junge Frau am Anfang noch begeistern kann. Doch eines Tages kommt sie von einer Erster-Mai-Demonstration zurück und ist erschüttert: Die sozialistischen Aufmärsche erinnern sie an die Nazizeit, die Massen machen ihr ein ungutes Gefühl. Später, sie liegt wegen einer Gelbsucht selbst im Krankenhaus und draußen finden Wahlen statt, tritt jemand an ihr Bett und sagt ihr, wo sie das Kreuz zu machen hat. Nein, das gefällt ihr alles nicht. Zudem drängen drei ihrer Schwestern, die schon in West-Berlin sind, sie solle rüberkommen. Es ist 1958, Hildegard Kneissler hat einen Verlobten und geht mit ihm und ihren Eltern diesen Schritt: im Krankenwagen und unter dem Vorwand, die Eltern bräuchten eine Behandlung, die nur im Westsektor zu kriegen ist.
Als Krankenschwester arbeitet Hildegard Kneissler fortan im Westendklinikum, nach einem Jahr ist die Verlobung aufgelöst, sie wieder alleinerziehend, aber glücklich. Auch wenn nicht plötzlich alles schön ist, nur weil Mutter und Tochter nun im Westen sind. Ihrer Tochter wird es an der Schule schwer gemacht, Mobbing, auch wenn es längst noch nicht so heißt, ist an der Tagesordnung. Ohne Vater und aus dem Osten kommend, hat es die Tochter schwer, zumal mit selbstgenähten Kleidern, nicht welchen aus dem Kaufhaus. Schließlich tobt draußen bereits das Wirtschaftswunder, man zeigt her, dass man was hat.
Nicht so die Kneissler-Frauen. Sie ziehen ihren Stolz aus anderen Dingen. Aus Unabhängigkeit zum Beispiel. Und dass die Tochter alsbald im Chor der Philharmonie mitsingen darf. Und aus der ersten eigenen Wohnung an der Autobahn am ICC, anderthalb Zimmer im Erdgeschoss mit Außenklo. Zum Duschen geht's zur Schwester, die im Hansaviertel wohnt.
1967 wechselt Hildegard ins Klinikum Steglitz, bleibt dort 27 Jahre, wird Oberschwester in der Chirurgischen Urologie und macht es sich rund um die Arbeit schön. Fährt mit der Schwester im eigenen Auto nach Bornholm, besucht Konzerte, ist Freigeist. Ein Mann taucht nicht mehr auf in ihrem Leben.
Als Rentnerin, ab 1984, geht sie im Oma-Dasein auf, ist Anlaufstelle für die Enkelin, strickt und backt, kocht Marmelade. Zuerst stets für die anderen, dann erst für sich selbst. Auch die Schwestern im Osten vergisst sie nicht. Eine trifft sie jährlich zwei Stunden im Zug Richtung Bayern, wenn der die Transitzone passiert. Einer anderen schmuggelt sie Krebsmedikamente im Westpaket, in Suppentüten abgepackt. Sich selbst gönnt sie das Restaurant am Funkturm, immer eine schmucke Dauerwelle, Blumen auf dem Balkon.
2012, sie ist längst Urgroßmutter, kann sie nicht mehr allein wohnen, Demenz. Sie zieht in eine betreutes Wohnprojekt. Da ist sie nah bei ihrer Tochter, die jetzt für sie da ist. Hildegard singt mit den Pflegerinnen und ist beliebt wie immer schon. Keine Biestigkeit, kein Starrsinn, nur das Vergessen eben. Die Familie kommt, nimmt sie zum Eisessen mit nach draußen, setzt ihr die Urenkel auf den Schoß. Dann sagt sie Adieu zu ihrem Leben, isst und trinkt kaum noch und stirbt im Schlaf, sie ist weit über 90. Ein anonymes Grab hat sie sich gewünscht in Ruhleben, bei den Eltern und vier Schwestern. Judka Strittmatter
Das Leben hat sie keineswegs verwöhnt, aber sie nahm es, wie es kam und wollte niemals alles anders haben. Sie hat nicht geklagt über den harten Beruf als Krankenschwester, die kleine Wohnung, das schmale Gehalt, die Nachtschichten. „Am Leben sein“ war ihr Geschenk genug, denn vorneweg hatte der Tod gelauert: in einem fürchterlichen Krieg, dem sich die Flucht anschloss.
Mutter und Vater Kneissler waren Schwaben in der Ukraine, bevor sie nach Pommern gingen, und von dort nach Eberswalde. Hildegard war ihr elftes und ihr letztes Kind, zwei Söhne und neun Töchter gab es, die Älteste schon 24 Jahre alt. Das Nesthäkchen durfte „Mama“ und „Papa“ zu den Eltern sagen, den älteren Geschwister war „Mutter“ und „Vater“ anerzogen worden. War die Kleinste auch deswegen so ein liebevoller Mensch geworden, weil ihr der größte Anteil Zuneigung entgegen kam?
Sechs ihrer Schwestern wurden Krankenschwestern, Hildegard strebte die Hebammensausbildung an. Sie begann damit in Stettin, brach aber ab, des Krieges wegen. 1944 dann die Flucht, die Eltern schickten sie voraus mit einer Nichte und dem Vetter an der Hand. Von Eberswalde ging es Richtung Norden, bei Flensburg blieben sie. Wie fast alle, die dieses Schicksal teilten, war auch sie darüber später sehr verschlossen, was Umstände und Erlebnisse der Flucht anging. Als sei dieses Martyrium ein Makel, den man selbst verschuldet hatte. Sie kam bei Bauern unter, für die sie arbeitete, und begann 1946 eine Ausbildung zur Krankenschwester.
Doch dann passiert, was damals eine junge Frau ins Abseits stellt: Sie wird schwanger, ungewollt. Es gibt keine Ehe zu diesem Kind, über den Vater wird sie nie ein Wort verlieren. Da können Tochter und Enkelin später noch so bohren, sie bleibt stumm darüber. Nicht verbittert stumm, aber doch stumm.
Unter Tränen gesteht sie ihren Eltern, was passiert ist. Komm nach Hause!, sagen die, und sie kehrt zurück nach Eberswalde, setzt die Krankenschwesterausbildung fort, und läuft im kalten März des Jahres 1948 mit Wehen und allein ins Krankenhaus. Die Hebamme dort ist hart und unerbittlich, sie sagt, sie solle sich „nicht anstellen“ und „hinne machen“. Bei aller Schande des Niederkommens ohne Ehering, hat sie auch Glück im Unglück: Nachdem vor ihr schon zwei Schwesterschülerinnen wegen unehelicher Kinder von der Schule geflogen sind, drücken die Lehrerinnen bei ihr ein Auge zu. Sie darf die Ausbildung zu Ende machen.
Dann eben Eberswalde. Und die DDR, für die sich die junge Frau am Anfang noch begeistern kann. Doch eines Tages kommt sie von einer Erster-Mai-Demonstration zurück und ist erschüttert: Die sozialistischen Aufmärsche erinnern sie an die Nazizeit, die Massen machen ihr ein ungutes Gefühl. Später, sie liegt wegen einer Gelbsucht selbst im Krankenhaus und draußen finden Wahlen statt, tritt jemand an ihr Bett und sagt ihr, wo sie das Kreuz zu machen hat. Nein, das gefällt ihr alles nicht. Zudem drängen drei ihrer Schwestern, die schon in West-Berlin sind, sie solle rüberkommen. Es ist 1958, Hildegard Kneissler hat einen Verlobten und geht mit ihm und ihren Eltern diesen Schritt: im Krankenwagen und unter dem Vorwand, die Eltern bräuchten eine Behandlung, die nur im Westsektor zu kriegen ist.
Als Krankenschwester arbeitet Hildegard Kneissler fortan im Westendklinikum, nach einem Jahr ist die Verlobung aufgelöst, sie wieder alleinerziehend, aber glücklich. Auch wenn nicht plötzlich alles schön ist, nur weil Mutter und Tochter nun im Westen sind. Ihrer Tochter wird es an der Schule schwer gemacht, Mobbing, auch wenn es längst noch nicht so heißt, ist an der Tagesordnung. Ohne Vater und aus dem Osten kommend, hat es die Tochter schwer, zumal mit selbstgenähten Kleidern, nicht welchen aus dem Kaufhaus. Schließlich tobt draußen bereits das Wirtschaftswunder, man zeigt her, dass man was hat.
Nicht so die Kneissler-Frauen. Sie ziehen ihren Stolz aus anderen Dingen. Aus Unabhängigkeit zum Beispiel. Und dass die Tochter alsbald im Chor der Philharmonie mitsingen darf. Und aus der ersten eigenen Wohnung an der Autobahn am ICC, anderthalb Zimmer im Erdgeschoss mit Außenklo. Zum Duschen geht's zur Schwester, die im Hansaviertel wohnt.
1967 wechselt Hildegard ins Klinikum Steglitz, bleibt dort 27 Jahre, wird Oberschwester in der Chirurgischen Urologie und macht es sich rund um die Arbeit schön. Fährt mit der Schwester im eigenen Auto nach Bornholm, besucht Konzerte, ist Freigeist. Ein Mann taucht nicht mehr auf in ihrem Leben.
Als Rentnerin, ab 1984, geht sie im Oma-Dasein auf, ist Anlaufstelle für die Enkelin, strickt und backt, kocht Marmelade. Zuerst stets für die anderen, dann erst für sich selbst. Auch die Schwestern im Osten vergisst sie nicht. Eine trifft sie jährlich zwei Stunden im Zug Richtung Bayern, wenn der die Transitzone passiert. Einer anderen schmuggelt sie Krebsmedikamente im Westpaket, in Suppentüten abgepackt. Sich selbst gönnt sie das Restaurant am Funkturm, immer eine schmucke Dauerwelle, Blumen auf dem Balkon.
2012, sie ist längst Urgroßmutter, kann sie nicht mehr allein wohnen, Demenz. Sie zieht in eine betreutes Wohnprojekt. Da ist sie nah bei ihrer Tochter, die jetzt für sie da ist. Hildegard singt mit den Pflegerinnen und ist beliebt wie immer schon. Keine Biestigkeit, kein Starrsinn, nur das Vergessen eben. Die Familie kommt, nimmt sie zum Eisessen mit nach draußen, setzt ihr die Urenkel auf den Schoß. Dann sagt sie Adieu zu ihrem Leben, isst und trinkt kaum noch und stirbt im Schlaf, sie ist weit über 90. Ein anonymes Grab hat sie sich gewünscht in Ruhleben, bei den Eltern und vier Schwestern. Judka Strittmatter