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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Marlene Renate Höfert (* 12. August 1936)

Da war Talent. Da war Hingabe. Zweifelsohne. Talent und Hingabe zu allem Künstlerischen. Allein, es fehlten die Umstände: das Budget, die Förderung, der Zuspruch. Schon das unablässige Lesen sah ihre Mutter nicht gern, nachts mit einer Funzel unter der Bettdecke. Bücher, immer nur Bücher, da kann der Mensch doch nicht im rechten Leben ankommen. Dazu die Schwärmerei für das Theater. Und auch noch Opern. Also, nein! Die Malerei, die Musik, das Schauspiel seien ein „zu mageres Brot“. Sie solle etwas Reelles, etwas finanziell Stabiles erlernen und sich die Kunst aus dem Kopfe schlagen.
Renate gab nach. Und verstand die Einwände ja auch ausschnittweise. Sah, dass die Eltern nach diesem verheerenden Krieg einerseits nach Sicherheit für ihr Kind strebten. Dass sie andererseits, aufgrund ihrer eigenen Herkunft - die Mutter hatte einst als Fleischermamsell in einer Metzgerei gearbeitet, der Vater war Handelslehrer an einer Wirtschaftsschule - nur eine mehr oder minder von Gemeinplätzen durchsetzte Vorstellung von künstlerischem Schaffen hatten.
Renate absolvierte also eine Ausbildung, ebenso an einer Wirtschaftsschule, und wurde Kontoristin. Aber die Kunst, die schlug sie sich nicht ganz aus dem Kopfe. Sie las weiterhin, erwarb weiterhin Schallplatten, hörte Mozart, ihren ausgesprochenen Liebling, auch Verdi, Weber, Opernarien, bevorzugt von Josef Greindl mit seinem schönen Bass gesungen. Rezitierte zu jeder möglichen Gelegenheit Gedichte, spaßige von Wilhelm Busch und Heinrich Zille, bedeutungsschwere vom Geheimrat aus Weimar. Verfasste selbst Verse. Malte. Nahm Stimmbildungsunterricht, sang gemeinsam im Chor oder Soli in der Kirche. Stand in der Jungen Gemeinde in Rudow auf der Bühne.
Dort, kurz vor Weihnachten, begegnete Renate Gottfried. Das Krippenspiel wurde geprobt. Die Rollen waren wie folgt verteilt: Gottfried gab den Josef, eine Klassenkameradin Renates die Maria, und Renate selbst hatte den Herbergsvater, in ihrem Fall leicht variiert die Herbergsmutter zu mimen, die den armen Zimmermann aus Nazareth nebst Heiliger Jungfrau nicht im Haus unterbringt, sondern in den Stall verweist. Eine eher ungünstige Aufteilung der Charaktere. Josefs Blick ruhte aber dennoch einzig auf der barschen Wirtin, nicht auf der Mutter des Heilands. Und so wurden Renate und Gottfried ein Paar.
Renate arbeitete und wollte doch ein wenig mehr, wollte den vorgezeichneten Büroalltagsweg verlassen. Sie verfiel auf die Idee, eine Ausbildung zur Fachlehrerin für Maschinenschreiben zu machen. Diese Ausbildung fand in Bayern, in Bayreuth statt. Gut, entschied sie, ich nehme den Weg auf mich. Lernte rege, schloss den Lehrgang sehr gut ab. Und bewarb sich dann in Berlin. Aber das Berliner Schulsystem durchkreuzte ihren Plan. Denn hier, erklärten die zuständigen Behörden, herrschten andere Regeln: ohne Abitur kein Recht zu unterrichten. Renate geriet in einen Konflikt. Sollte sie der beruflichen Möglichkeiten wegen nach Bayern gehen, denn dort durfte sie ihr Wissen an Schüler weitergeben? Oder sollte sie bei Gottfried bleiben, in Berlin? Es wurde die Liebe, Renate blieb.
Ihr Leben, als Paar, entsprach nicht ganz der damaligen bundesrepublikanischen Norm. Denn es war Renate, die das Geld verdiente, während Gottfried studierte. Sie fuhr jeden Morgen ins Büro, erst in der Bundesdruckerei, später im Faserzementunternehmen „Eternit“, während Gottfried in den Hörsälen saß.
Sie ließen sich trauen, lebten im Haus von Gottfrieds Eltern, eng beieinander unter dem Dach, ihrem „Schwalbennest“, wie sie es nannten, zogen später in eine eigene Wohnung, bekamen einen Sohn, eine Tochter, bauten ein Haus.
Und in all der Zeit hatte sich Renate die Kunst noch immer nicht aus dem Kopfe geschlagen. Sie malte, zuvörderst das.
Zunächst stellte sie ihr Talent auf solidere Füße und meldete sich bei einem Kurs in der Volkshochschule an. Besuchte den Kurs einmal pro Woche, über Jahrzehnte. Versuchte sich vorübergehend in Öl, entdeckte dann die Möglichkeiten der Wasserfarben und wurde zur Aquarellspezialistin ihrer Gruppe. Als Malerin nannte sie sich fortan ausschließlich Marlene, ihr erster amtlicher Vorname, Renate ließ sie sich nur noch außerhalb der Kunst rufen.
Ihre bevorzugten Motive: Tiere und Landschaften. Mallorca etwa, das Meer, sein transparentes Glasgrün, so geschickt von ihr behandelt. Oder der Igel - ein wohl getroffenes und bis weit ins Einzelne genaues Abbild der Kreatur, in einer Mischung aus wissenschaftlicher Wirklichkeit und plastischer Genauigkeit, dass der Betrachter, berührte er das Aquarell, den Eindruck gewinne, nicht über Papier und Farbe, sondern die cremeweiß-braunen Stacheln des Igels zu streichen.
Ihr Haus gleicht heute einer Galerie: an allen Wänden Renates Produktionen.
Vor vier Jahren dann begannen die gesundheitlichen Sorgen, mit einer Darmkrebsoperation im Februar. Renate fürchtete, ihren 80. Geburtstag im August darauf nicht mehr zu erleben. Aber die Ärzte hatten sich zuversichtlich gezeigt: „Das schaffen sie, Frau Höfert.“ Doch die Furcht ließ sich so schnell nicht verscheuchen. Und so tat Renate etwas, was ihr in solchen Augenblicken immer geholfen hatte: Sie wandte sich an die Kunst. Erinnerte sich eines Gedichtes von Wilhelm Busch, schrieb es ab und stellte es auf ihren Krankenhausnachttisch: „Es sitzt ein Vogel auf dem Leim / er flattert sehr und kann nicht heim / Ein schwarzer Kater schleicht herzu / die Krallen scharf, die Augen gluh / Am Baum hinauf und immer höher / kommt er dem armen Vogel näher / Der Vogel denkt: Weil das so ist / und weil mich doch der Kater frisst / so will ich keine Zeit verlieren / will noch ein wenig quinquillieren / und lustig pfeifen wie zuvor / Der Vogel, scheint mir, hat Humor.“ Hatte er. Und quinquillierte aus voller Kehle. Reiste mit Gottfried. Tanzte mit ihm einmal in der Woche in einem Tanzclub. Reimte Verse für jede Geburtstags-, für jede Familienfeier. Und malte, zuvörderst das. Lebte, noch vier Jahre. Bis sie nicht mehr quinquillieren konnte. Sie starb am 1. Oktober. Tatjana Wulfert