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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Dany Mertineit (* am 22. Juli 1970)

Gestorben ist Dany zu Hause. Im Bett, zu Tode geschwächt, nicht im Rollstuhl, auf den er so lange angewiesen war, den er verflucht hat. Kurz vor dem Abschluss seiner Ausbildung als Flugzeugelektroniker reisten seine Freundin und er nach Dänemark, um seinen 36. Geburtstag zu feiern. Dort erlitt er eine Hirnblutung, durch die seine linke Körperhälfte gelähmt wurde. Die Freundin verließ ihn, er wurde zum Pflegefall und zum Weltenhasser. Der alles in die Tonne trat, was mal wichtig für ihn war: die Arbeit, das Schreiben und Zeichnen, den Freundeskreis. Sämtliche Träume und Sehnsüchte, als könnte und müsste man das alles hinter sich lassen nach diesem bodenlosen Fall.
Wen soll man anklagen? Wer ist schuld am Scheißschicksal? Wer ihn besuchte, anfangs waren es noch viele, wurde angeschrien, beleidigt, provoziert. Ein Freund schob ihn in seine Stammkneipe, Dany pöbelte die Bedienung sofort unflätig an. Der Freund entschuldigte sich für Dany und löschte seine Nummer aus dem Handy, gleich vor Ort, vor dessen Augen. Wollte Dany Aufmerksamkeit? Oder wollte er nur allein sein in seinem Desaster?
Es bleibt eine Spurensuche, die auch in seinem engen Umfeld ein hohes Maß an Unverständnis, Abwehr, Distanzierung und Verzweiflung hervorruft. Und doch hat die Familie in seine Todesanzeige diesen Text von ihm eingefügt: „Ich wage einen letzten Flug / und du sollst mich begleiten / entlang den Zäunen weit, weit weg / und über Mauer und Versteck / wir fliegen / nur wir beiden ...“ Sie erschien in einer großen Zeitung; so viele Leser hatte Dany nie zuvor.
Geschrieben hatte er schon länger, doch er flog weit unter dem Radar des Literaturbetriebes. Kein Bock auf Publikationen oder Auftritte. Er schrieb und zeichnete für sich, um seine Sehnsüchte und Enttäuschungen, das Leben und dessen weiße Flecke festzuhalten. Ein überschaubares Werk, etwa 50 Texte, vor allem Lyrik, und eine ähnliche Anzahl von Zeichnungen. Nicht viel für mehr als 20 Jahre Schaffenszeit, aber er musste sich ja mit niemandem vergleichen. War schon anders als die anderen, bevor er im Rollstuhl saß und sich missmutig, von starken Medikamenten sediert am Rechner langweilte. An Schreiben und Zeichnen war da kaum mehr zu denken: „Wenn ich jetzt an Poesie denke, denke ich nur an vier Buchstaben“, verriet er seinem Jugendfreund und Förderer Xandi. „F-U-C-K“.
Aufgewachsen ist Dany in Prenzlauer Berg. Das blieb auch seine Heimat. Ein eher zartes, träumerisches Kind, das sich von der riesigen Bibliothek des Vaters nicht angezogen fühlte, obgleich er diesen sehr liebte. Der Vater arbeitete als Filmsynchron-Autor, der die Übersetzung an die Lippenbewegungen anpasste. Seinen Systemfrust kompensierte er mit Nikotin und Alkohol. In der Straßenbahn hatte er betrunken seine Empörung über die Niederschlagung des Prager Frühlings artikuliert und prompt seine Stelle als Dramaturg am Maxim-Gorki-Theater verloren. Wegen seiner kommunistischen Eltern, Danys Großeltern, ist ihm nichts Schlimmeres zugestoßen. Vater und Sohn laufen unauffällig durch die Zeit, darunter liegt das bittere, aber verbindende Gefühl, fremd im Land zu sein. Die Familie zerbricht, als Dany sieben ist. Er bleibt bei der Mutter, die neue Familie des Vaters mit gleichaltrigem Stiefbruder schätzt er aber auch. Und sie mögen ihn, selbst wenn er schon lange vor dem Schicksalsschlag ein schwieriger Mensch mit schrägem Humor wird.
Nach der Schule wird Dany „Wartungsmechaniker für Datenverarbeitungs- und Büromaschinen“ beim VEB Robotron, bezieht eine eigene Wohnung unweit der Bornholmer Straße, sieht Ost und West, noch unvereint. Und beginnt zu schreiben: „Es gibt einen Mensch / der irrt umher / weiß nicht was er ist /selbst nicht er.“ Dieses Gefühl wird ihn lange begleiten, die gesellschaftliche Verstörung und aufkeimende Protestbewegungen nicht nur in Prenzlauer Berg in den 80er Jahren nimmt er interessiert wahr, bleibt aber eigensinnig statt widerständig. Anders als sein Stiefbruder und dessen Freund Xandi, die mit ihrem Recht auf Meinungsäußerung und einer Solidaritätsadresse an die polnische Gewerkschaft Solidarnofm nicht nur die Schulbehörde, sondern gleich die wankende Staatsmacht herausfordern. Aber so lernen sich er und Xandi kennen, der der erste Fan seiner literarischen Gehversuche wird. Der ihn bewundert, weil er was in der Birne hat, auch wenn Dany kaum Bücher liest und sich nach Feierabend am liebsten in der Kiezkneipe Bornholmer Hütte die Kante gibt. Mit der Prenzlauer-Berg-Szene hat er nichts zu tun, die Boheme bleibt ihm fremd. Die nächste Arbeitsstelle, wohl dank des Vaters, ist die DEFA, wo Dany mit Kamerawartung und Kameraassistenz beschäftigt ist. Und dann kommt die Wende, die DDR ist weg.
Prost Neuland? Leider nicht. Die volkseigenen Betriebe, auch die DEFA, werden umgewandelt und abgewickelt, Dany muss sich als Maler und Kurierfahrer durchschlagen. Selten kann ihm der Vater noch einen Job zuschustern, er wackelt selbst. Die einzigen Konstanten bleiben die Bornholmer Hütte und das Schreiben. „Es ist so windstill / mein Land ist frei / mein Land ist verloren.“ Die demütigenden Neuerfahrungen auf dem Arbeitsamt fließen in eine Groteske, die zu seinen stärksten Texten zählt. Um ihn herum in Prenzlauer Berg entstehen in der neuen Freiheit, die die anderen genießen können, Verlage, Kneipen, Netzwerke. Aber Dany sitzt nicht im Torpedokäfer, der Literatenkneipe, oder beim „Sklavenaufstand“ - so heißt eine Literaturzeitschrift. Dany weiß, dass es das alles gibt, aber er hält sich fern.
Xandi dagegen, sein Freund aus alten Zeiten, ist ein Aktionist der Subkultur, probiert sich als Musiker, Labelbetreiber und Schriftsteller aus, reist durch die Welt und vergisst Dany nicht. In seinem Kleinstverlag distillery press bringt er dessen winzige Lyriksammlung „Handfall“ heraus, ein Heftchen von acht Seiten, gedruckt im Libanon, da geht das billiger. Der Buchpremiere im Undergroundclub Sibirische Zelle bleibt Dany fern. Traut er es sich nicht zu, vor anderen Künstlern vorzuturnen? Danys Stiefmutter stellt eine Textauswahl zusammen, würde sie gern herausbringen und nutzt ihre Kontakte zu Christa und Gerhard Wolf. Es wird nichts draus.
„Aeronaut“ wäre er gern, sagt Dany, ein Luftfahrer, schwerelos. Mit der Ausbildung zum Flugzeugelektroniker kommt er der Sache schon mal etwas näher. Dann der Absturz. Erik Steffen