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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Ursula Judkowiak (* am 12. Mai 1951)

Ursula war 13 Jahre alt, und eigentlich mochte sie das Leben in dem kleinen Dorf namens Demen. Da waren die zwei älteren Geschwister, da war die liebevolle Mutter, die als Erzieherin arbeitete, und da war ihr liebevoller Vater, ein Bauer, aber einer ohne Hof. Stattdessen rackerte er in der örtlichen LPG, dem landwirtschaftlichen Staatsbetrieb der DDR. Ein Haus hatten sie aber, dazu einen Garten, darin wuchsen die Kartoffeln in der Erde und die Äpfel und Pflaumen an den Bäumen. Ihre beste Freundin war die Pfarrerstochter. Zusammen ging es in den Wald, zum See, oder sie spielten mit den Katzen und Hühnern. Försterin wollte Ursula werden.
Ihr ging es gut, denn der Familie ging es gut, denn alle hatten ihren Platz.
Als die größere Schwester heiratete, ein Kind bekam und für den Beruf nach Sachsen ziehen sollte, war das nicht ihre alleinige Angelegenheit. Nein, es war die der ganzen Familie, die das besprach, entschied und umsetzte. Die Familie war das Allerwichtigste. War einfach so. Naturgesetz. Aber nicht negativ, sondern als Schutz, als der Ort, an dem man sich am wohlsten fühlte. Auch Ursula. Es war also beschlossen: Sie alle würden nach Freiberg bei Dresden ziehen.
Ursula wurde für eine Ausbildung als Dreherin in der Präzisionsmechanik eingeteilt. Das war so. Man machte, was gebraucht wurde. Man kriegte, was frei war. Ursula war stolz drauf. Ein Männerberuf, mit Metall, mit den Händen, an der Werkbank, aber mit Geschicklichkeit. Abends ging sie in das Haus der Jugend oder zur FDJ. Sie organisierte Tanznächte, Jugendfahrten, Kindertage und kümmerte sich um die Jungpioniere. Für sie war das nicht ideologisch. Sie mochte es, für andere da zu sein, sich zu kümmern, so wie sie es in der eigenen Familie gelernt hatte. Sogar bei den Jugendweltfestspielen von 1973 in Ost-Berlin war sie dabei. Die DDR als System war das, was sie kannte und was sie, soweit sie das überblicken konnte, gut fand. Nur die Werkbank wollte sie lieber abgeben und stattdessen mit Kindern arbeiten, so wie ihre Mutter. Also wurde sie Erzieherin, arbeitete tagsüber und lernte abends per Fernstudium.
Sie trafen sich in der Slowakei. Er stolperte in der Jugendherberge in ihr Zimmer. In der Tür geirrt. Doch es kommt zum Kuss, „dann wurde die Angelegenheit intensiviert“, wie er heute sagt, 47 Jahre später, allein an dem großen Tisch, in der leeren Wohnung, in der sie nun fehlt, für immer. Damals war es vor allem Ursula, die sich in ihn verliebte und die sich in den Kopf gesetzt hatte, diesen jungen Mann aus West-Berlin wiederzusehen. Und tatsächlich: Er bekam ein Visum, fuhr nach Freiberg, sie holte ihn vom Bahnhof ab. Beim Visum half sicher, dass er aktiv in der SEW war, dem SED-Ableger in West-Berlin.
Die Familie war skeptisch. Aber Ursula machte allen klar, dass es dieser junge Mann war, den sie wollte. Heirat auf dem Standesamt, Hochzeitsfest im Haus der Jugend und dann die Ausreise nach West-Berlin. Das war ein Kulturschock für Ursula. Aus Freiberg Ost, wo sie alles hatte, nach Neukölln West, wo sie nichts hatte, außer ihrem Mann. Als Erzieherin konnte sie auch nicht arbeiten, ihre Abschlüsse wurden nicht anerkannt. Doch Ursula haderte nie lange. Dann ging sie eben zur Deutschen Reichsbahn, dem Ableger der DDR-Bahn im Westen, tat ihren Dienst, mal im Büro, mal auf der Strecke.
Das wichtigste aber: Ursula gründete ihre eigene Familie. Bekam erst einen Sohn, dann eine Tochter und war die Mutter, die den Turnbeutel in die Schule hinterhertrug oder den Sohn gleich selber in die Schule brachte, aber vier Sitzbänke im Bus hinter ihm, damit niemand es mitbekam. Ursula war jetzt die Heimat, das Zuhause und die Geborgenheit für ihre Kinder, machte sie zu König und Königin, stopfte Socken, buk Möhrenkuchen. Verteidigte die kleine Hanfplantage des Sohns im Garten vor den Nachbarn. Erwischte die Tochter bei der ersten Zigarette. Als diese sich die Haare färben wollte, gab es eine riesige Diskussion. Als die Tochter mit ihrem ersten Tattoo erschien, war die Mutter stinksauer, pflegte ihr die Haut aber trotzdem. Der Sohn outet sich als schwul, ihr war das egal, sie hatte es sowieso schon geahnt.
Ursula war immer wieder arbeitslos, machte Weiterbildungen, fand eine Anstellung, in einer Bank oder als Sekretärin. Manchmal war sie verärgert und traurig darüber, dass sie es so schwer hatte, dass sie sich beruflich immer wieder neu aufstellen musste. Obwohl die Zeugnisse ihr attestierten, dass sie Verantwortung übernehmen konnte und Schwierigkeiten meisterte, dass ihre Arbeit gewissenhaft und zuverlässig war. Zwischendurch half sie ihrem Mann bei seinem Geschäft als Landschaftsgärtner. Vor allem sorgte sie dafür, dass die Rechnungen endlich eingetrieben wurden. Dafür setzte sie sich stundenlang vor die Bürotür von zahlungssäumigen Auftraggebern und ließ sich auch nicht vertreiben, als diese mit der Polizei drohten. Schließlich ging es um die Familie, da war sie resolut, da hatte sie keine Angst.
Ursula wurde noch Oma, streichelte die kleine Hand, lehrte das erste Schimpfwort. Da war sie schon krank: Niere, Kreislauf, Krebs, dann eine chronische Lungenerkrankung. Sie kam in ein Hospiz, drei Wochen war ihr Mann an ihrer Seite, auch als sie starb, in einer Nacht im Herbst. Karl Grünberg