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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Hans Wolf (* am 9. November 1935)

Manchmal ist es ein Satz. Manchmal dringt dieser eine Satz tief in den Kopf, bleibt dort und beginnt, etwas in Bewegung zu bringen.
Hans war noch ein Kind. Ein einfaches Kind vom Land, aus Beeskow in der Mark. Sein Vater Erich arbeitete, bevor er im Zweiten Weltkrieg zu kämpfen hatte und 1942 in Stalingrad zu Tode gekommen war, als Pferdeknecht. Eines Tages drückte Hans sich im Stall herum und belauschte das Gespräch einiger Burschen, die dort zu tun hatten. Dann fiel der Satz: „Der Erich hat's zu nichts gebracht. Da wird sein Sohn, der Hans, es auch zu nichts bringen.“
Der Satz saß. In einem einzigen Augenblick offenbarte sich das gesamte Szenario der Abhängigkeit eines Menschen von seinem sozialen und kulturellen Kapital. Kein Ausweg aus der Klasse, in die man qua Zufall geboren wurde.
Aber dann fallen mit einem Mal zwei Dinge zusammen: die vehemente Absicht, diese Abhängigkeit doch zu überwinden, und die Änderung des Gesellschaftssystems.
Der Krieg war zu Ende, Deutschland zerbrach in zwei Teile, und Hans befand sich auf der sozialistischen Seite, der des Arbeiter- und Bauernstaates, wo aus Arbeiter- und Bauernkindern auch etwas anderes als Arbeiter oder Bauern werden sollten. Aus Hans, dem Pferdeknechtsohn, wurde Hans im Glück.
Aber nicht sofort. Zunächst verlief alles ohne Abweichung vom vorgegebenen Weg. Er verließ, wie für viele damals üblich, die Schule nach der 8. Klasse und lernte Kraftfahrzeugschlosser. 1953 dann ein erster zaghafter Aufstieg. Die Polizei fragte ihn, ob er nach Frankfurt (Oder) gehen wolle, um als Berufskraftfahrer höhere Offiziere zu chauffieren. Hans nahm an. Bald darauf ein nächster Schritt: Das Ministerium für Staatssicherheit ordnete ihn ab nach Berlin, im Fond des von ihm gesteuerten Wagens saßen jetzt russische Majore. Er selbst wurde hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS und blieb es formal bis 1985.
Hans' Dienstherr war nun der Staat. Und dieser Staat bot ihm in den kommenden Jahren noch sehr viel mehr, als nur Leute durch die Gegend zu kutschieren. Hans schloss die 10. Klasse ab, holte sein Abitur nach und konnte den Sportarten, für die er sich interessierte - ziemlich kostspielige Sportarten - intensiv und umfänglich nachgehen: dem Segelfliegen, dem Motorsport und vor allen Dingen dem Fallschirmsport. Er war gut darin, so gut, dass er hauptberuflich Leistungssportler bei Dynamo wurde, es in die Nationalmannschaft der Fallschirmspringer schaffte.
Sport und Politik waren in der DDR eng miteinander verknüpft. Dieser kleine Staat hatte hervorragend verstanden, dass er sich mit Leistungen auf Weltniveau größer machen konnte. Bestimmte Disziplinen förderte er in besonderem Maße: etwa Leichtathletik, Schwimmen, Eiskunstlauf und eben auch Fallschirmspringen. Die Sportler waren oft Angehörige der NVA, der Nationalen Volksarmee. Was, nebenbei bemerkt, kein spezielles DDR-Phänomen ist, auch heute sind Athleten häufig Angehörige der Bundeswehr.
Die NVA bot Hans alle Möglichkeiten. Und Hans zeigte sich dankbar. Er trat der SED bei, erreichte innerhalb der Armee den Rang eines Majors. Und hätte doch immer von sich behauptet, ein eher unpolitischer Mensch zu sein. Was, auf den ersten Blick, nicht recht zusammenzupassen scheint, sich auf den zweiten jedoch durchaus nicht ausschließt. Denn das politische System hatte auf jede Art Klassendünkel gepfiffen, hatte die Fähigkeiten des kleinen Hans aus dem Pferdestall erkannt und ihm dann die Mittel an die Hand gegeben, diese Fähigkeiten zu vervollkommnen. Hans seinerseits hatte das sehr gut verstanden. Letztlich war es ihm einerlei gewesen, ob der Staat ebenso von ihm profitierte wie er von ihm. Und es war ja kein schlechter Staat, sondern einer, der sich um Frieden und soziale Gerechtigkeit mühte, so sah er das.
Mit seinen Leistungen konnten beide Seiten auch mehr als zufrieden sein. Der Athlet, als Einzelperson, freute sich über die Meriten; die DDR, als oft verhöhnter Staat, konnte international auftrumpfen.
Im Fallschirmsport war Hans tatsächlich Weltklasse: Bis 1968 hatte er, als erster DDR-Sportler, 2000 Sprünge absolviert. Insgesamt gelangen ihm 25 Rekorde, davon zehn Weltrekorde. Was äußerst diffizil war, denn es handelte sich um Zielfallschirmsprünge. Dabei galt es, in mehreren Hundert Metern Höhe aus der Öffnung eines Flugzeugs zu springen und mit einem Dorn an der Ferse des Schuhs eine zehn bis 15 Zentimeter durchmessende Scheibe am Boden zu treffen. Das erforderte viel: Ausdauer, Muskeln, Mut. Der Thrill dabei. Wie oft Adrenalin durch seinen Körper pumpte.
Von außen betrachtet hingegen war Hans ein ruhiger Mensch. Erfüllte ganz und gar nicht das Klischee des scharf sprechenden, die Hacken zusammenschlagenden Militärs. Dienstbeflissen, ja. Dabei aber sanft. Zudem schlank, von athletischem Körperbau, mit lockigem Haar. Was die Frauen mochten. Was zu insgesamt vier Hochzeiten führte.
1970 endete seine Leistungssportlerlaufbahn. Zum einen war er mittlerweile 35 Jahre alt. Zum anderen hatte sich die Technik der Fallschirme entwickelt, vom Rundkappen- zum flachen Gleitschirm, mit dem Zielsprünge kaum mehr eine Schwierigkeit darstellten. Die DDR verlor das Interesse an diesem Sport.
Doch ließ der Staat seinen Schützling nicht fallen. Hans durfte studieren, Sportlehrer, an der DHfK, der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig, eine Einrichtung, die nur politisch einwandfreie Lehrkräfte anstellte, „zur planmäßigen Förderung der Jugend und des Sports“ im Sinne der „antifaschistisch-demokratischen Ordnung“. Da gab es nichts zu kritteln, nichts zu hinterfragen, „antifaschistisch“, ein Begriff, dem Hans, der Kriegshalbwaise, überzeugt zustimmte. Und doch ging es ihm in erster Linie um den Sport, um die Jugend.
Er dachte an die Szene im Stall, da er noch der kleine Hans war, der Sohn des Pferdeknechts, dem nichts anderes offen zu stehen schien als seinerseits Pferdeknecht zu werden. Jetzt konnte er seine Erfahrungen weitergeben, konnte Jugendlichen, vielleicht auch aus einfachen Verhältnissen stammend, beim Hoch- und Vorwärtskommen helfen.
Neben seinem Fernstudium leitete er das Sportbüro des Wachregiments „Feliks Dzierzynski“, einem militärischen Verband, der dem MfS unterstand, und kümmerte sich um den Vereinssport in den Bezirken Treptow und Köpenick. Nach dem Studium, ab 1976, leitete er zudem die öffentlichen Sportstätten in Marzahn und Hellersdorf.
Und dann kam die Wende. Der „große biografische Bruch“, wie er es nannte. Verbitterung stellte sich ein. „Da erschienen plötzlich die Wessis und sagten einem, wie man seine Arbeit zu tun habe.“
Der Stadtbezirk, bei dem er angestellt war, bot ihm 1992 den Vorruhestand an. Und er stimmte zu. Wollte nur noch weg. Wollte nicht mehr das Geringste mit irgendwelchen staatsnahen Tätigkeiten zu tun haben. Aber das „Staatsnahe“ aus DDR-Zeiten ließ sich so einfach nicht abschütteln. Aufgrund seiner Zugehörigkeit zum MfS gewährte man ihm nur die Mindestrente, da konnte er hundert Mal erklären, dass er dort schlicht Kraftfahrer und Sportler gewesen sei, kein Spitzel, kein Denunziant. Er wusste wohl um die Privilegien, die er vor 1990 genossen hatte: den Wolga, ein Funktionärswagen, den er fahren durfte; die Datsche bei Bernau, auf der er wochenends werkeln und der stickigen Stadt entfliehen konnte; sein Gehalt von 2500 Mark pro Monat, während der Durchschnittsverdienst in der DDR bei 1300 Mark lag. Trotzdem konnte er sich zugute halten, auf bestimmte materielle Bevorzugungen bewusst verzichtet zu haben, zum Beispiel eine große Wohnung. Es wurmte ihn, dass der Blick auf sein Leben nur aus Vorurteilen und Verallgemeinerungen bestand.
Er zog sich zurück. Wurde so deutlich unpolitisch, wie er es im Grunde schon immer gewesen war. Trat aus der PDS aus, gab seine Wohnung in Berlin auf und lebte, zusammen mit seiner vierten Frau, in der ausgebauten Datsche. Führte den Hund aus, hackte Holz, bestellte den Garten. Schwieg zumeist.
Und begann dann doch, sein Schweigen zu brechen. „Ich würde gern deine Stasiakte lesen“, sagte sein Sohn zu ihm. „Na klar“, antworte er. Sie begannen mit der Aufarbeitung seiner Geschichte. Hans, über 80, war fit, gesund. Als sein Sohn das letzte Mal von ihm fort ging, winkten sie einander zu: „Bis bald.“ Es gab ja noch so vieles zu bereden. Aber Hans erlitt eine Gehirnblutung, fiel ins Koma und starb zwei Wochen darauf. Tatjana Wulfert