Nachruf auf Helga Kopp (* am 27. Dezember 1921)
Wäre der Garten nicht gewesen, wer weiß, ob sie überlebt hätten. Ein eigener Garten, das war der Wunsch des Vaters, er kam vom Land und wollte wieder hinaus ins Grüne, ohne die Stadt zu verlassen. Und so zog die Familie kurz nach Helgas fünftem Geburtstag in die neue Siedlung Eichkamp, in ein kleines Haus mit großem Garten, den sie 94 Jahre lang pflegte.
In jenen ersten Jahren war alles knapp. Der Garten versorgte mit Obst und Gemüse, mit Blumen und Trost. Er war Versteck und Treffpunkt aller, leider auch der Maulwürfe; er lud zum Träumen ein und zum Grübeln, denn wie konnte das Glück beständig sein, wenn der politische Streit selbst die Familie zu zerreißen drohte. Der Vater war Sozialdemokrat, der Bruder Nationalsozialist. Der Bruder wollte den Krieg, der nach Überzeugung des Vaters alle ins Elend stürzen würde.
Helga absolvierte die Mittlere Reife, besuchte die Höhere Handelsschule, trat ihre erste Stelle an, tat das, was Mädchen damals so taten, und machte sich ihre eigenen Gedanken. Die Konfirmation enttäuschte sie, die kalte Religiosität der Amtskirchen, sie sehnte sich nach einer persönlicheren Ansprache, die ihr wie zum Trost mitten im Krieg zuteil wurde. Sie war mit ihren Kolleginnen der Buchhaltung ins bombensichere Erzgebirge ausquartiert worden, und dort, in der Fremde, kam das Gespräch auf Religion, auf Gott und die Welt. Und ein Satz, so schrieb sie in ihr Tagebuch, traf sie mitten ins Herz. „Das ist die Wahrheit!“, empfand sie, aber sie verriet nie, welcher Satz das gewesen war.
Der Krieg ging zu Ende, Helga kehrte nach Berlin zurück, die Eltern hatten überlebt, das Haus war beschädigt, aber es stand, und auch im Garten war einiges zu tun. Ihr Bruder kehrte aus russischer Gefangenschaft heim, aber der Vater konnte den Kummer über das Geschehene nicht so einfach verschmerzen. Er starb nach mehreren Schlaganfällen.
Alles war knapp in jenen Jahren, doch der Garten versorgte mit dem Wichtigsten, und was nicht gebraucht wurde an Obst und Gemüse, wurde getauscht. Helga fand Arbeit als Haushalts- und Putzhilfe bei den Engländern, Chambermaid mit Sprachkenntnissen, aber bald schon war ihr Englisch gut genug, um sie zur Bürokraft zu befördern.
In dieser Zeit wurde Emma ihre beste Freundin, Jane Austen hatte die beiden miteinander bekannt gemacht, durch ihr gleichnamiges Buch, das Helgas Lebensbuch wurde, denn sie las immer wieder darin. Des Humors und der unglaublichen Klugheit Jane Austens wegen, aber vor allem, weil sie sich sehenden Auges in George Knightley verliebte, der allerdings Augen und Herz nur für Emma besaß.
Sie fand Trost bei dem Engländer, so nannte sie ihren großen Schwarm damals, der mit Mr. Knightley zu einer Sehnsuchtsfigur verschmolz. Ob es nur eine Romanze in Gedanken gewesen war, oder mehr, und was aus ihm wurde, darüber schwieg sie sich stets aus, vielsagend, in den Worten Goethes: „Nein, ich habe nichts versäumet! / Wißt ihr denn, was ich geträumet?“
Jahre später besuchte sie England, aber ihn persönlich sah sie nie wieder, was ihr Leben nicht unglücklich machte, denn ihr blieb ja das Buch, und sie wusste, wie die Geschichte hätte ausgehen können. Den wirklichen Traum vom Glück träumte sie lieber daheim, im Eichkamp. Dort, wo sie zu Hause war und ihre Kinder groß werden sah, und ihre sechs Enkelkinder.
Sie kündigte bei den Engländern, fand eine neue Anstellung in den Miele-Werken und lernte im Büro Gerhard näher kennen, die echte Liebe ihres Lebens, mit dem sie schon bald gemeinsam in das Elternhaus im Hornisgrund zog. Die Mutter Henriette wohnte mit dem jungen Paar, ein Sohn wurde geboren und eine Tochter. Helga gab ihren Beruf auf und kümmerte sich fortan um die Familie und um den Garten. Je größer der bescheidene Wohlstand, desto schmaler wurden die Gemüsebeete, desto üppiger wuchsen die Büsche und Blumen. In der Natur zu sein, war für sie Geborgenheit. Den Trost der Theosophie, den sie damals im Krieg in den Gesprächen mit ihren Kolleginnen erfahren hatte, fand sie nun tagtäglich im Garten. „Je näher wir der Natur sind, je näher fühlen wir uns der Gottheit.“ Von Goethe führte ihr Weg zu Rudolf Steiner, und weiter in die Christengemeinschaft. Sie wirkte nicht missionarisch, nur sehr überzeugend, auch in der Erziehung der Kinder und Enkel, für die sie die Waldorfschule als einzig vernünftige Ausbildungsstätte ansah.
Nach dem Tod ihres Mannes zog sie aus dem großen Haus aus, damit ihre Tochter mit den Kindern dort wohnen konnte, und ließ gleich nebenan ein kleines Haus bauen. So war sie ihren Enkeln nah und konnte weiterhin im Garten wirken, denn was Pflanzen und Kinder angeht, nimmt die Arbeit nie ein Ende. Jeder der Enkel sollte ein Musikinstrument lernen, das ist gut für die Seele, und sich gesund ernähren, das ist gut für den Körper, und rege bleiben im Geist. Helgas Rote Grütze war ein Traum, ihre Munterkeit am Morgen ein Albtraum: „Na, Kinderchen, ist schon jemand wach?“
Wenn sie auf Reisen ging, dann in jungen Jahren ans Meer und im Alter meist nach Bad Bevensen, da war der Weg vom Thermalbad ins Café nicht so weit. Am schönsten war es ohnehin zu Hause, im Hornisgrund, denn die Konzerte der Vögel, die waren ihr die liebsten, und die akrobatischen Künste der Eichhörnchen das unterhaltsamste Varieté.
Ab und an sah sie in der Stadt nach dem Rechten, ließ sich von ihren Enkeln umherfahren und gelegentlich auch zum Kino überreden. Elf Mal sah sie sich „Notting Hill“ im Original an, denn ihr Engländer fand noch einmal Gestalt in Hugh Grant, der leider schon an Julia Roberts vergeben war, was sie nicht weiter traurig stimmte, denn zu Hause wartete „Emma“ auf sie, die in Fragen der Liebe doch wesentlich Bedeutenderes zu sagen hatte als eine Filmschauspielerin.
Als der Rollator ins Haus kam, schob sie ihn regelmäßig ihre 100 Bahnen auf kurzer Strecke hin und her, denn sie wollte nicht dick werden, aber auch nicht auf ihre Knoppers-Waffelschnitte verzichten. Als Kind hatte sie zum Geburtstag oft nur eine Apfelsine geschenkt bekommen, da war es wichtig, sich im Alter ein wenig zu verwöhnen. Leider musste sie im Lauf der Jahre ein wenig klein beigeben, körperlich, das tat sie ungern, so ungern, wie sie im Doppelkopf verlor oder sich im Rollstuhl zeigte. Da blieb sie lieber am Fenster sitzen und griff zur Tageszeitung oder zu ihren Büchern. Jane Austen, Goethe natürlich, und viel Politisches, gern auch Bildbände, denn im Gesicht zeigt sich der Charakter.
Vor fünf Jahren trat sie in die SPD ein, im Andenken an ihren Vater und weil sie keinen Krieg mehr erleben wollte. Ein Foto von Michael Müller stand auf ihrem Küchentisch, sie mochte ihren Regierenden Bürgermeister, weil er ihre Art von Bescheidenheit zu teilen schien.
Es ist wichtiger, wie ein Mensch sein Schicksal nimmt, als wie sein Schicksal ist, betonte sie gern, weil es ihr auf Haltung ankam. Sie ging frohen Herzens in den Gottesdienst der Christengemeinschaft, solange sie gehen konnte. Sie telefonierte immer lachend mit ihrer Jugendfreundin, weil sie sich voll diebischer Freude daran erinnerten, wie sie einmal gemeinsam einen ganzen Schultag geschwänzt hatten. Und sie zeigte keine Angst vor dem Tod, weil da die Hoffnung war auf die Wiedergeburt und darauf, noch ein wenig bleiben zu dürfen, sie hatte es ja nicht eilig. „Es wäre schon schön, noch hundert zu werden, aber vielleicht ist es vermessen, nach so viel zu fragen.“
Die Hundert hat sie nicht ganz geschafft, es kam dann doch die Erschöpfung, nach kurzer Krankheit, und sie ist eingeschlafen, als niemand da war. Das letzte Wort zum Abschied, das wollte sie nicht selbst sprechen, das überließ sie Goethe, dessen Zeilen sie als Trost für ihre Familie handschriftlich notiert hatte: „Heute geh ich. Komm ich wieder, / Singen wir ganz andre Lieder. / Wo so viel sich hoffen läßt, / Ist der Abschied ja ein Fest.“ Gregor Eisenhauer
In jenen ersten Jahren war alles knapp. Der Garten versorgte mit Obst und Gemüse, mit Blumen und Trost. Er war Versteck und Treffpunkt aller, leider auch der Maulwürfe; er lud zum Träumen ein und zum Grübeln, denn wie konnte das Glück beständig sein, wenn der politische Streit selbst die Familie zu zerreißen drohte. Der Vater war Sozialdemokrat, der Bruder Nationalsozialist. Der Bruder wollte den Krieg, der nach Überzeugung des Vaters alle ins Elend stürzen würde.
Helga absolvierte die Mittlere Reife, besuchte die Höhere Handelsschule, trat ihre erste Stelle an, tat das, was Mädchen damals so taten, und machte sich ihre eigenen Gedanken. Die Konfirmation enttäuschte sie, die kalte Religiosität der Amtskirchen, sie sehnte sich nach einer persönlicheren Ansprache, die ihr wie zum Trost mitten im Krieg zuteil wurde. Sie war mit ihren Kolleginnen der Buchhaltung ins bombensichere Erzgebirge ausquartiert worden, und dort, in der Fremde, kam das Gespräch auf Religion, auf Gott und die Welt. Und ein Satz, so schrieb sie in ihr Tagebuch, traf sie mitten ins Herz. „Das ist die Wahrheit!“, empfand sie, aber sie verriet nie, welcher Satz das gewesen war.
Der Krieg ging zu Ende, Helga kehrte nach Berlin zurück, die Eltern hatten überlebt, das Haus war beschädigt, aber es stand, und auch im Garten war einiges zu tun. Ihr Bruder kehrte aus russischer Gefangenschaft heim, aber der Vater konnte den Kummer über das Geschehene nicht so einfach verschmerzen. Er starb nach mehreren Schlaganfällen.
Alles war knapp in jenen Jahren, doch der Garten versorgte mit dem Wichtigsten, und was nicht gebraucht wurde an Obst und Gemüse, wurde getauscht. Helga fand Arbeit als Haushalts- und Putzhilfe bei den Engländern, Chambermaid mit Sprachkenntnissen, aber bald schon war ihr Englisch gut genug, um sie zur Bürokraft zu befördern.
In dieser Zeit wurde Emma ihre beste Freundin, Jane Austen hatte die beiden miteinander bekannt gemacht, durch ihr gleichnamiges Buch, das Helgas Lebensbuch wurde, denn sie las immer wieder darin. Des Humors und der unglaublichen Klugheit Jane Austens wegen, aber vor allem, weil sie sich sehenden Auges in George Knightley verliebte, der allerdings Augen und Herz nur für Emma besaß.
Sie fand Trost bei dem Engländer, so nannte sie ihren großen Schwarm damals, der mit Mr. Knightley zu einer Sehnsuchtsfigur verschmolz. Ob es nur eine Romanze in Gedanken gewesen war, oder mehr, und was aus ihm wurde, darüber schwieg sie sich stets aus, vielsagend, in den Worten Goethes: „Nein, ich habe nichts versäumet! / Wißt ihr denn, was ich geträumet?“
Jahre später besuchte sie England, aber ihn persönlich sah sie nie wieder, was ihr Leben nicht unglücklich machte, denn ihr blieb ja das Buch, und sie wusste, wie die Geschichte hätte ausgehen können. Den wirklichen Traum vom Glück träumte sie lieber daheim, im Eichkamp. Dort, wo sie zu Hause war und ihre Kinder groß werden sah, und ihre sechs Enkelkinder.
Sie kündigte bei den Engländern, fand eine neue Anstellung in den Miele-Werken und lernte im Büro Gerhard näher kennen, die echte Liebe ihres Lebens, mit dem sie schon bald gemeinsam in das Elternhaus im Hornisgrund zog. Die Mutter Henriette wohnte mit dem jungen Paar, ein Sohn wurde geboren und eine Tochter. Helga gab ihren Beruf auf und kümmerte sich fortan um die Familie und um den Garten. Je größer der bescheidene Wohlstand, desto schmaler wurden die Gemüsebeete, desto üppiger wuchsen die Büsche und Blumen. In der Natur zu sein, war für sie Geborgenheit. Den Trost der Theosophie, den sie damals im Krieg in den Gesprächen mit ihren Kolleginnen erfahren hatte, fand sie nun tagtäglich im Garten. „Je näher wir der Natur sind, je näher fühlen wir uns der Gottheit.“ Von Goethe führte ihr Weg zu Rudolf Steiner, und weiter in die Christengemeinschaft. Sie wirkte nicht missionarisch, nur sehr überzeugend, auch in der Erziehung der Kinder und Enkel, für die sie die Waldorfschule als einzig vernünftige Ausbildungsstätte ansah.
Nach dem Tod ihres Mannes zog sie aus dem großen Haus aus, damit ihre Tochter mit den Kindern dort wohnen konnte, und ließ gleich nebenan ein kleines Haus bauen. So war sie ihren Enkeln nah und konnte weiterhin im Garten wirken, denn was Pflanzen und Kinder angeht, nimmt die Arbeit nie ein Ende. Jeder der Enkel sollte ein Musikinstrument lernen, das ist gut für die Seele, und sich gesund ernähren, das ist gut für den Körper, und rege bleiben im Geist. Helgas Rote Grütze war ein Traum, ihre Munterkeit am Morgen ein Albtraum: „Na, Kinderchen, ist schon jemand wach?“
Wenn sie auf Reisen ging, dann in jungen Jahren ans Meer und im Alter meist nach Bad Bevensen, da war der Weg vom Thermalbad ins Café nicht so weit. Am schönsten war es ohnehin zu Hause, im Hornisgrund, denn die Konzerte der Vögel, die waren ihr die liebsten, und die akrobatischen Künste der Eichhörnchen das unterhaltsamste Varieté.
Ab und an sah sie in der Stadt nach dem Rechten, ließ sich von ihren Enkeln umherfahren und gelegentlich auch zum Kino überreden. Elf Mal sah sie sich „Notting Hill“ im Original an, denn ihr Engländer fand noch einmal Gestalt in Hugh Grant, der leider schon an Julia Roberts vergeben war, was sie nicht weiter traurig stimmte, denn zu Hause wartete „Emma“ auf sie, die in Fragen der Liebe doch wesentlich Bedeutenderes zu sagen hatte als eine Filmschauspielerin.
Als der Rollator ins Haus kam, schob sie ihn regelmäßig ihre 100 Bahnen auf kurzer Strecke hin und her, denn sie wollte nicht dick werden, aber auch nicht auf ihre Knoppers-Waffelschnitte verzichten. Als Kind hatte sie zum Geburtstag oft nur eine Apfelsine geschenkt bekommen, da war es wichtig, sich im Alter ein wenig zu verwöhnen. Leider musste sie im Lauf der Jahre ein wenig klein beigeben, körperlich, das tat sie ungern, so ungern, wie sie im Doppelkopf verlor oder sich im Rollstuhl zeigte. Da blieb sie lieber am Fenster sitzen und griff zur Tageszeitung oder zu ihren Büchern. Jane Austen, Goethe natürlich, und viel Politisches, gern auch Bildbände, denn im Gesicht zeigt sich der Charakter.
Vor fünf Jahren trat sie in die SPD ein, im Andenken an ihren Vater und weil sie keinen Krieg mehr erleben wollte. Ein Foto von Michael Müller stand auf ihrem Küchentisch, sie mochte ihren Regierenden Bürgermeister, weil er ihre Art von Bescheidenheit zu teilen schien.
Es ist wichtiger, wie ein Mensch sein Schicksal nimmt, als wie sein Schicksal ist, betonte sie gern, weil es ihr auf Haltung ankam. Sie ging frohen Herzens in den Gottesdienst der Christengemeinschaft, solange sie gehen konnte. Sie telefonierte immer lachend mit ihrer Jugendfreundin, weil sie sich voll diebischer Freude daran erinnerten, wie sie einmal gemeinsam einen ganzen Schultag geschwänzt hatten. Und sie zeigte keine Angst vor dem Tod, weil da die Hoffnung war auf die Wiedergeburt und darauf, noch ein wenig bleiben zu dürfen, sie hatte es ja nicht eilig. „Es wäre schon schön, noch hundert zu werden, aber vielleicht ist es vermessen, nach so viel zu fragen.“
Die Hundert hat sie nicht ganz geschafft, es kam dann doch die Erschöpfung, nach kurzer Krankheit, und sie ist eingeschlafen, als niemand da war. Das letzte Wort zum Abschied, das wollte sie nicht selbst sprechen, das überließ sie Goethe, dessen Zeilen sie als Trost für ihre Familie handschriftlich notiert hatte: „Heute geh ich. Komm ich wieder, / Singen wir ganz andre Lieder. / Wo so viel sich hoffen läßt, / Ist der Abschied ja ein Fest.“ Gregor Eisenhauer