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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Gabriele Thieme-Duske (* am 28. März 1942)

Sie musste nicht schreien. Sie brauchte auch kein Mikrofon. Gabi hatte einfach eine laute Stimme, sie war gut zu hören beim Frühschoppen-Stammtisch in der Kneipe. Oder unter den 100 Menschen bei der Gewerkschaftsversammlung. Oder später dann unter den Volksvertretern im Berliner Abgeordnetenhaus. An ihrer Stimme erkannte man sie sofort, etwas tiefer als gewöhnlich, etwas lauter als normal. Ihre Themen: soziale Gerechtigkeit, Bildungschancen, eine fahrradfreundliche Verkehrspolitik.
Das zweite Erkennungsmerkmal: ihr Lachen. Nicht aufgesetzt, nicht quietschig, sondern herzlich, aus dem Bauch heraus. Dazu die halblangen blonden Haare, die blauen Augen mit den Falten drumherum, die immer etwas roten Wangen. 49 Jahre war Gabi Mitglied in der SPD. Eine Vollblutgenossin, links von der Mitte. Lockerer als die verknöcherten Partei-Alten, immer bereit, das Protokoll zu schreiben oder einen Schwung neuer Anträge für die Bezirksverordnetenversammlung. Im Wahlkampf verteilte sie selbstverständlich Flyer auf der Straße, redete mit den Passanten. Gab es einen runden Geburtstag eines betagten Genossen, hielt sie die ausführliche Jubiläumsrede. Die beiden Schaukästen vorm SPD-Büro ihrer Ortsgruppe in Hermsdorf bestückte sie mit selbstgestalteten Plakaten. Sonntags dann, bei besagtem Frühshoppen analysierte sie die Lage der Welt oder die der Partei in Gedichtform.
Wenn die Partei sie brauchte, war Gabi da, kam mit ihrem roten Fahrrad angedüst und sei es auch nur für einen kleinen Infotisch an der Straßenkreuzung. Bei Diskussionen war sie die erste, die sich meldete. Regelrecht penetrant konnte sie sein, wenn ihr etwas wichtig war. Diskutierte bis alle anderen nicht mehr konnten. Nötigte jedem einen Standpunkt ab. Ein gleichgültiges Zucken mit den Schultern ließ sie nicht zu. Die Partei war ein wichtiger Teil ihres Lebens - nicht, weil sie in der Partei eine Karriere machen wollte, sondern weil sie an die Sache glaubte. Was sie nicht beherrschte, ja was ihr regelrecht zuwider war: das Spiel mit den Ellbogen, die Absprachen in den Hinterzimmern, das Verteilen von Posten gegen Gefälligkeiten.
Gabi war in Dresden aufgewachsen. Als die Stadt am 13. Februar 1945 bombardiert wurde, flohen Vater, Mutter und die Kinder nicht in den Luftschutzbunker, sondern auf den Friedhof. Während die Stadt niederbrannte, kauerte die Familie zwischen Grabsteinen und Büschen. Erinnerungen für immer. „Da hat es so gebrannt / da sind wir so gerannt“, reimte Gabi als Kind schon. Nach dem Krieg trennte sich der Vater, zog nach Berlin, verliebte sich wieder, holte Gabi und ihre Schwester 1949 zu sich und seiner neuen Frau.
Es war nicht leicht, die Mutter war weit weg, in Freital; immerhin konnten die beiden Mädchen sie in den Ferien besuchen und mit ihr auf dem Dampfer die Elbe rauf und runter fahren. Der Vater war zwar nett, aber er arbeitete immerzu. Zur strengen Stiefmutter fanden die Schwestern keinen Draht; neue Geschwister kamen dazu. Zum Glück gab es noch Gretl, die dicke Haushälterin. Die versorgte die beiden Mädchen mit Essen, Aufmerksamkeit und Liebe. Immer wieder nahm Gretl die beiden mit zu ihrer eigenen Familie nach Ost-Berlin. Dort erlebten sie ein ganz anderes Milieu.
Auf dem Gymnasium lernte Gabi Latein, Altgriechisch, Französisch, Englisch, Italienisch. Nach dem Abitur studierte sie Sprachen an der Freien Universität. Das gefiel ihr, das forderte sie heraus. Doch ihr Vater lernte seine dritte Frau kennen, mit der Gabi gar nicht mehr zurechtkam. Protestierend zog sie aus dem Haus - und konnte sich das Studium nun nicht mehr leisten.
Die Ausbildung zur Verwaltungsbeamtin schaffte sie, klar. Aber Spaß machte ihr die Arbeit nicht. Also sparte Gabi, kündigte, als sie genug Geld zusammen hatte, fing nochmal von vorn an, studierte Pädagogik und wurde Grundschullehrerin. Mit ihrer durchdringenden Stimme sorgte sie spielend für Ruhe, mit ihrem Lachen und ihrer warmherzigen Art gewann sie die Kinder für sich. Geprägt von ihren eigenen Erfahrungen, widmete sie sich besonders den Kindern, die es schwer zu Hause hatten, die nicht mit den teuren Schulranzen und den besten Füllern in die erste Klasse kamen. Das Wort „Inklusion“ kannte man noch nicht, als Gabi sie längst praktizierte.
Gabi war 32, es war ein kalter Winter, sie saß in einem Bus der „Naturfreundejugend“ nach Italien, um dort Ski zu fahren. Der Platz neben ihr war frei, Uli, 23, setzte sich, sprach sie an, fand sie schön und sympathisch und verliebte sich. Die neun Jahre Altersunterschied spielten keine Rolle. Sie fuhren zusammen Ski, sie tanzten, sie küssten sich. Und langsam verliebte sich auch Gabi. Sie zogen zusammen, sie kauften eine Wohnung in Reinickendorf, tauschten diese ein paar Jahre später gegen ein Haus mit Garten in Hermsdorf.
Sie reisten, in die Berge, ans Meer, in die Sowjetunion, in die USA, mit dem Fahrrad, mit dem Auto, mit dem Kanu. So ließ sich das restliche Leben in der eingemauerten Stadt gut aushalten. Kinder hatten sie keine, es sollte nicht sein.
1995, die Wahlen zum Abgeordnetenhaus. Die Partei will Gabi aufstellen. Gabi fragt Uli, ob er damit einverstanden ist. Ist er, also schmeißt sie sich in den Wahlkampf mit ihrem Lachen, mit ihrer lauten Stimme. Sie lässt sich von der Schule freistellen und liebt die Arbeit als Abgeordnete, reden, organisieren, in Ausschüssen sitzen. Spät kommt sie nach Hause, da ist Uli schon im Bett. Früh steht er auf, da schläft sie noch. Dafür telefonieren sie zwischen seinen Unterrichtsstunden und ihren Sitzungspausen.
1999 wird sie noch einmal gewählt, 2001 steht sie so weit hinten auf der Liste, dass sie keine Chance auf einen Platz im Parlament hat. Als sie sich Jahre später doch nochmal tiefer in die Parteiarbeit wirft und wenig zu Hause ist, gibt es mit Uli eine ernste Unterredung. Danach tritt sie kürzer und kümmert sich noch um die Stolperstein-Initiative. Ein ganz privates Leben, nur für sich und Uli, ist mit ihr nicht drin.
Im März kommt der Krebs, in einer Septembernacht schläft Gabi ein und wacht nicht wieder auf. Auf der Trauerfeier hat Uli ihr altes Megafon mitgebracht, dass sie manchmal beim Straßenwahlkampf dabei hatte. Obwohl sie es mit ihrer Stimme eigentlich nicht brauchte. Karl Grünberg