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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Andreas Wrase (* am 18. November 1962)

Andreas war für die Flecken zuständig. Je hartnäckiger, umso schöner. Für jeden Prüfling schnitt er einen langen Stoffstreifen zurecht und präparierte ihn mit zehn verschiedenen Flecken. Blut zum Beispiel, da nahm er sein eigenes. Seine Frau hatte es von seinem Arm abgezapft. Kaffee war auch gut - oder Lippenstift. Wein war ihm fast schon zu einfach. Kugelschreibertinte der Klassiker. Nagellack auch.
Gut gelaunt war er, wenn er mit all diesen Stoffstreifen vor den Prüflingen stand und sagte: „Na dann, legen Sie mal los. Welche Flecken sind das genau und wie kriegen Sie die raus?“ Die unterschiedlichen Reinigungsmethoden muss ein professioneller Textilreiniger natürlich draufhaben. Andreas hatte sie alle drauf, kein Fleck, den er nicht wegbekam. Bis auf Automotorschmiere, daran konnte selbst er scheitern.
Häufig klingelte spät abends im Laden das Telefon, dran war ein fast schon flüsternder Kollege, der partout nicht weiter wusste und unter dem Mantel der höchsten Verschwiegenheit Andreas um Rat bat. Andreas half, das war Ehrensache, und den Mund hielt er auch, darauf konnte man sich verlassen. Und seine Prüflinge bekamen alle Zeit der Welt. Wenn die anderen Prüfer mit den Augen rollten, auf die Uhr schauten und drängelten, sagte Andreas: „Lasst mal, da kommt noch was, ich spüre das.“
Andreas' Vater war Fernfahrer, die Mutter arbeitete in einer Textilreinigung am Steglitzer Damm. Zusammen übernahmen die Eltern das Geschäft Anfang der 70er Jahre. Die größere Schwester war der Stern des Vaters, Andreas war der Liebling der Mutter. Er hatte immer freche Antworten parat, er ging nicht, sondern er rannte und stieß deswegen an alle Ecken, Kanten und Pfeiler. In der Schule lief es nicht so, Andreas ging lieber bowlen, Billard spielen, Fahrrad fahren. Beim Abendessen lauschte Andreas den Gesprächen der Eltern über kaputte Waschmaschinen, unpünktliche Mitarbeiter und ruinierte Brautkleider und wie man sie doch noch einmal weiß bekam. Das Geschäft war das Ein und Alles seiner Eltern, mit großem Fleiß hatten sie sich etwas aufgebaut, sie waren stolz darauf.
Seine Lehre absolvierte Andreas in der Wäscherei des Kempinski-Hotels. Er arbeitete unten im Keller. Oben, als Hausdamenassistentin, arbeitete Ulrike. Sie freundeten sich an, gingen mit anderen tanzen und feiern. Es dauerte sieben, acht Jahre, bis eine zarte Liebe zwischen ihnen erwuchs. 1990 kam ihre Tochter auf die Welt, aber heiraten wollten sie noch nicht. Erst mal schauen, ob die Liebe noch größer wurde, ob sie es gemeinsam hinbekämen als Familie. Sie bekamen es hin. Seine Fröhlichkeit, die trockenen Sprüche, die Jungenhaftigkeit, das liebte Ulrike an ihm. Mit seiner Tochter machte er Kissenschlachten, kitzelte sie ab, brachte ihr das Radfahren bei und unternahm riesige Touren mit ihr. Schlechte Laune, Grübelei gab es bei Andreas nicht.
Lehre fertig, Meister hinterher, und er betrieb das Familiengeschäft gemeinsam mit den Eltern. Andreas machte alles gleichzeitig und alles mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit. In der einen Großmaschine die Wäsche von der Messe, die musste über Nacht gereinigt, getrocknet, gebügelt und zurückgebracht sein, in der anderen die Hotelwäsche, auch ein Übernachtauftrag. Weiter hinten ein paar Gardinen, Abendgarderoben, feine Anzüge. War Andreas auf eine Reinigung besonders stolz, hängte er das frisch leuchtende Textil im Schaufenster aus.
1999 übernahm er das Geschäft. Es war nun sein Ein und Alles. Urlaube wurden schwierig. Ging eine Maschine kaputt, musste er zurück und sie reparieren. Es war selbstverständlich, dass die Sachen wirklich am nächsten Tag fertig waren, auch wenn er zusammen mit seiner Mutter die halbe Nacht durcharbeitete und früh am Morgen wieder im Laden stand. Mit der Mutter verstand er sich bestens, sie arbeiteten Hand in Hand, sie beendeten die Sätze füreinander. Es lief gut. „Aber mit Mitte 50 verkaufe ich den Laden und setz' mich zur Ruhe oder mach' was anderes“, versprach Andreas.
Lauter kleine Geschichten werden über ihn erzählt. Wie er eine Auszubildende rausschmeißen musste, weil sie geklaut hatte. Wie er vier Mal bei der Weihnachtstombola der Textilreiniger-Innung den Hauptpreis gewann, immer ein Fahrrad. Wie er stets, egal wo, egal zu welcher Uhrzeit, einen Parkplatz fand. Wie er immer zu hohes Trinkgeld gab.
2014 kauften er und seine Frau sich ein Haus in Niedersachsen. Hier wollten sie endlich Zeit füreinander haben. Seine Frau zog schon mal hin, er blieb, um das Geschäft abzuwickeln. Ein Jahr verging, das Haus war fertig renoviert, doch Andreas reinigte immer noch Wäsche. Das nächste Jahr verging, und Andreas stand immer noch in seinem Laden. Irgendetwas hielt ihn da. Seine Frau zog einen Schlussstrich. Kein Streit, eher die Feststellung, dass Andreas nicht anders konnte.
Sie saßen zusammen, Andreas und seine Freunde, feierten in seinen Geburtstag hinein. Andreas hustete und hustete. „Geh zum Arzt“, sagten sie. „Ja, ja“, grummelte er. Dann war es Krebs. Keine große Sache, sagte er, wird schon wieder weggehen. Am Wochenende fuhr er zur Chemo ins Krankenhaus, am Montag stand er im Laden. Flitzte wie ein Wiesel von hinten nach vorne, von Maschine zu Maschine. Wenn man ihn fragte, wie es ihm ging, sagte er: Gut, jetzt müsse er aber weiterarbeiten.
Eine Blutblase in der Lunge, eine Operation stand an, eigentlich Routine. Aber er war so geschwächt, dass er sich eine Lungenentzündung einfing. Seine Tochter saß an seinem Bett, seine Mutter war da, seine Frau hielt ihm die Hand, der Arzt sagte, dass es die letzte Nacht werden würde. Am 10. Mai starb Andreas Wrase, der Meister der Flecken. Karl Grünberg