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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Thomas Seelig (* am 5. März 1959)

Er hatte ein Nahtoderlebnis, als er schon unheilbar krank war, die Ärzte im Krankenhaus konnten ihn reanimieren. Einige Freunde waren neugierig. Wie war es, wurde er gefragt. „Da ist nix“, antwortete er beiläufig, denn das hatte er immer schon geahnt, so hatte er immer schon gelebt. Und auch als die Amyotrophe Lateralsklerose, bekannt als ALS, einen viel schnelleren Verlauf nahm als erhofft, gab er nicht auf, bis zur letzten Minute nicht, denn das wusste er, Jünger des Metronoms, der er war, jeder einzelne Pulsschlag, jeder Beat zählt.
Vielen klang seltsam in den Ohren, was er tat, elektroakustische Musik, seelenlos, programmiert von Nerds für Computer, von Computern, und was der Vorurteile mehr sind, die ihn nicht kümmerten. Denn wenn er gefragt wurde, Tommy, was ist dieses seltsame Instrument, das du gerade hörst, da wurde er nicht herablassend, sondern erklärte, das ist ein Theremin, entworfen 1920, das erste elektronische Musikinstrument, bei dem Töne durch Bewegung der Hände in elektrischen Feldern erzeugt werden. „Good Vibrations“, in dem Stück der Beach Boys ist es zu hören. Tommy hat Musik geliebt, sofern sie durchdacht komponiert war, er konnte von Bach zu Zappa wechseln und weiter zu Goldfrapp, und wenn ihm das Numinose zu mächtig wurde, das er in den musikalischen Harmonien empfand, zitierte er Verse von Ringelnatz oder Heinz Ehrhardt, die erdeten ihn umgehend. Was man auch anstellte mit Tommy, rühmten die Freunde, man wurde nicht dümmer mit ihm.
Er hatte Kommunikationswissenschaft studiert in den 80er Jahren, als nur wenige ahnten, was mit Algorithmen möglich sein würde. Der Rechner wurde zu seiner Lebensumgebung, Nerd mit Nickelbrille, aber ein Nerd mit Außenwelt. Das Studio für elektronische Musik war sein Zuhause, er galt als versierter Tontechniker und Softwareentwickler, der mit stoischer Ruhe und nie erlahmender Akkuratesse Töne reihte und sortierte nach Vorgabe der Komponisten, denen er zuarbeitete, und nach eigenem Gutdünken. Er liebte Ordnung, auch im bürgerlichen Sinn, er stammte ja aus einer Beamtenfamilie, und trotz aller Sympathien für die Hausbesetzerszene blieb er 40 Jahre in der ruhigen Danckelmannstrasse wohnen, musizierte an der Hausorgel, trank beim Dicken Wirt sein Bier und ließ am Tresen jede andere Meinung gelten, selbst wenn sich ihm die Haare sträubten.
Er war zurückhaltend, nie auftrumpfend, und wenn ein strenges Urteil in künstlerischen Dingen gefragt war, zögerte er, was als Ausdruck seiner Harmoniesucht verstanden werden kann, die wiederum ein sehr musikalisches Phänomen ist. Er hat mit vielen berühmten Komponisten und Künstlern gearbeitet, eine der bedeutendsten Musikerinnen der Gegenwart hat er geheiratet. Unsuk Chin, Komponistin und Virtuosin, spielte die Tasteninstrumente so gut, dass er sich selbst nicht mehr an die Orgel traute. Gegenüber dem eigenen Talent sind viele demütig, gegenüber dem Talent anderer wenige. Tommy hingegen war ohne Neid, er gestand den großen Komponisten mit aufrichtiger Bewunderung jene Genialität zu, die er bei eigenen Werken nur zuweilen aufblitzen ließ.
Großen Reichtum konnte er mit seinen avantgardistischen Anstrengungen nicht erspielen, sein Geld verdiente er mit der Produktion von Jingles fürs Radio. Materielle Sorgen hatte er nie, entsprechend großzügig war er, wenn andere in Not gerieten. „Es ist ja nur Geld“, bemerkte er trocken, wenn er etwas weggab. „Wenn ich habe, sollen andere auch haben.“
Der ortstreue Berliner war gern auf Reisen, bevorzugt Bali, denn Asien faszinierte ihn, die Ausgeglichenheit der Buddhisten, die bei den Männern zuweilen in Trägheit umschlägt, während die Frauen die Geschäfte organisieren. Tommy mochte willensstarke Frauen, er trug Unsuk Chin die Trennung nie nach, denn ihre Karriere, das war früh absehbar, würde weit über die engen Grenzen Berlins hinausführen. Und das Glück wollte es, dass er eine zweite Frau mit ähnlicher Willensstärke traf, nicht zufällig in einem Restaurant, denn er kochte gern und ging gern essen, vor allem in asiatische Lokale.
Yunli Zhou kam aus China, ihr Sohn war dort geblieben, sie selbst sah als geschiedene Frau in der Heimat keine Zukunft. In Tommy fand sie einen, der zu ihr stand. Sie hat ihn zutiefst geliebt, auch als er vor vier Jahren krank wurde, so schnell so hilflos, der Verfall nicht aufzuhalten, durch kein Medikament. Abends kam sie aus ihrem kleinen Restaurant, strich ihm übers Haar, ihm, der künstlich beatmet wurde, künstlich ernährt, verdrahtet, verkabelt, nahezu regungslos. Wenn sie ihn anstrahlte, war er ihr lieber Mann. So ein appetitlicher Mensch war er gewesen, als sie ihn kennen gelernt hatte, schöne Hände, schöne Füße, er roch gut, hatte eine schöne Stimme und war seiner Herzensdame zuliebe durchaus eitel gewesen, was die Wahl des Eau de Cologne anbelangte.
Er wurde kein anderer durch die Krankheit, und auch die Freunde blieben ihm treu, ja, an seinem Leiden zeigte sich erst, wie viele Freunde er hatte. Es war immer jemand da, und Tommy wollte sich mitteilen, bis zuletzt, korrekt mitteilen, er mochte sich nicht verschreiben, selbst als er nur noch mit einem Finger schreiben konnte. Wenn ein Freund ihm zuprostete, ließ er sich durch den Zulauf der Magensonde ein Glas Wein einflößen, und das Glück, so viel erlebt zu haben, war wieder gegenwärtig. Für die Freunde war der Abschied schmerzhafter. Tommy füllte den Raum nicht, wenn er ihn betrat, das war nie seine Art, aber er ließ ihn leerer zurück, als er gegangen war. Gregor Eisenhauer