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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Emilie Thekla Schulze (* am 17. Juni 1939)

Die Heimat hat sie verloren, aber ein Zuhause hat sie doch immer wieder gefunden. Das ist das Tröstliche an der Geschichte von Milly. Ihre Eltern hatten sich in einer Munitionsfabrik in Ingolstadt kennen und lieben gelernt. Sie bekamen drei Kinder - und waren überfordert. Der Vater musste in den Krieg, die Mutter wechselte in eine Porzellanmanufaktur. Und Milly, die älteste Tochter, kam zur Oma in Böhmen. Da war auch noch die kinderlose Tante, die sie am liebsten adoptiert hätte. Dazu kam es nicht, aber eine Weile fand die Kleine dort mehr als nur eine Bleibe. Die Tante betrieb ein Kino, und Milly durfte bei allem mithelfen. Beim Drucken der Plakate war sie dabei, durch das Küchenfenster verkaufte sie die Billets. Und wenn die Filme für die Großen liefen, lugte sie durch den Vorhang in der Eingangstür. Die Liebe zum Kino blieb.
Bei Kriegsende wohnte Milly mit der Mutter, der Großmutter und den Geschwistern in der böhmischen Bergstadt Lauterbach. 1946 mussten sie die Koffer packen und die Tschechoslowakei verlassen. Die menschenleere Stadt wurde dem Erdboden gleich gemacht. Jahrzehnte später suchten Milly und ihre Brüder nach Spuren. Sie fanden nichts.
Die Vertreibung war eine traumatische Erfahrung für das Kind, das nichts von den Gräueltaten ahnte, die den Hass ausgelöst hatten, mit dem man ihnen nun begegnete. Ein Grenzsoldat zerschmetterte den Kopf ihrer Puppe, um nach Schmuggelware zu suchen. Ihre Mutter bat die Aufseher, den Flüchtlingswaggon verlassen zu dürfen, um Wasser zu holen. An ihre Sorge, ob die Mutter zurückkehren würde, erinnerte sich Milly noch Jahrzehnte später. Anderes wurde immer wieder erzählt und so zur eigenen Erinnerung. Dass sie sich in der Hungerzeit aus Gesichtspuder kleine Kügelchen geformt hatte etwa, um sie genussvoll als kleine Knödel zu verspeisen.
Die Flucht endete im Odenwald. Nach einer Kindheit mit harter Feldarbeit, Betteln bei den mächtigen Bauern, endlosen Wegen zu Fuß und nur wenigen Jahren in der Dorfschule, folgte der Sprung nach Frankfurt am Main. Milly arbeitete in einem Imbiss, es folgte eine Lehre als Köchin. Da sie noch nie Spargel gesehen, geschweige denn geschält hatte, köpfte sie kurzerhand und fleißig die Stangen, die für die Eröffnung der Spargelsaison am Abend bestimmt waren. Der Chef nahm es sportlich und servierte die Spargelköpfe extra.
Eine gute Köchin wurde sie noch; ihr Talent im Umgang mit den Gästen war aber früh schon offensichtlich. Sie kam einfach gut an, man fragte nach ihr. Außerdem war sie schön und wusste sich zu elegant zu bewegen. Warum also nicht eine Mannequin-Schule besuchen? Und warum nicht tanzen, auf der Bühne der „Parisiana Bar“ etwa? Fotos und Zeitungsausschnitte erinnern an die Zeit.
Sie bekam ihre erste Tochter, doch der Vater war bald verschwunden. Sie hatte eine Reihe jüdischer Freunde, denen sie sich als Flüchtlingskind verbunden fühlte. Die unterstützten sie und blieben ihr über Jahrzehnte verbunden.
Die Arbeit hinterm Tresen und auf der Bühne, die langen Abende und die kurzen Nächte zehrten an den Kräften. Irgendwann wollte sie es ruhiger angehen. Milly verliebte sich in einen jungen, schüchternen Mann mit höflichen Manieren, den sie heiratete, und mit dem sie eine weitere Tochter bekam. Gemeinsam betrieben sie die Gaststätte in einem Ruderklub.
Was ahnten ihre Gäste schon von den Spuren, die die frühesten Erlebnisse in Millys Seele hinterlassen hatten? Von ihren Schwierigkeiten, sich ganz und gar auf jemanden einzulassen? Wo die Liebe groß war, fehlte es ihr an Verlässlichkeit. Der Alkoholkonsum ihres Mannes kam dazu, und nur die Trennung konnte das Drama beenden.
Ihre erste Tochter wuchs in einer recht ähnlichen Situation heran, die sie selbst so schmerzlich erlebt hatte; sie pendelte zwischen Mutter und Pflegeeltern. Natürlich wollte Milly alles besser machen, sie versuchte später, ihre Situation, ihre Überforderung zu erklären, aber das gelang ihr nicht. Die Tochter starb früh und hinterließ eine tiefe Wunde.
Ihrer zweiten Tochter konnte Milly sich besser widmen. Das Leben mit ihrem zweiten Ehemann brachte Verlässlichkeit und Ruhe; die Familie zog aufs Land in ein Holzhaus mit Garten. Dort betrieb sie das Speiselokal „Zum Stein“, war Köchin und Gastgeberin, Freundin und Trösterin. Sie leitete einen Damengymnastikverein, organisierte Feste, kreierte Kostüme, entwickelte Choreografien.
Viel später, mit über 70, begann eine neue Lebensphase. In Berlin-Friedrichshain, einen Steinwurf von Tochter und Enkeltochter entfernt, fand sie eine kleine Wohnung, die sie wieder so liebevoll einrichtete, wie sie es schon oft getan hatte.
Vor vier Jahren wurde ein Magenkrebs bei ihr diagnostiziert. Eine große Operation war nötig, aber es war klar, dass sie die Krankheit nicht besiegen würde. Karl Valentin, ihr Hausheiliger, lieferte ihr den angemessenen Trost: „Gar nicht krank ist auch nicht gesund!“ Bis zum Schluss zog sie sich schick an, genoss ihre tägliche Zigarette und sah vom Balkon den Zugvögeln nach. Die bauen Nester, ihre Heimat aber ist die weite Welt. Auch sie hat sich, wo immer sie Station machte, ein Zuhause geschaffen und blieb zum Aufbruch bereit.
Als der Krebs begann, ihr die letzte Lebensqualität zu rauben, hat sie aufgehört zu essen. Es blieb ihr der geliebte Kaffee und ein tägliches Glas Cognac. Und ein ruhiger Abschied von den Lieben, die ihr geblieben waren. Jörg Machel