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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Ottokar Thome (* am 25. April 1928)

Wie er da so saß im Restaurant, in seinem beigen Overall, die Brüste leicht gewölbt, das Haar in Wellen, schulterlang, das Gesicht dagegen eher herb und männlich, ungeschminkt, brach es aus dem Kellner heraus: „Tut mir leid, ich kann Sie überhaupt nicht einordnen.“
„Sie sollen mich auch gar nicht einordnen. Sie sollen mich bedienen!“, erwiderte Ottokar Thome, genannt Karmeen, und man darf davon ausgehen, dass ihm die Situation kein bisschen unangenehm war. Darauf legte er's ja an. Er war etwas Besonderes, ganz Einzigartiges. Männlein, Weiblein, auf die Frage reagierte er mit gespielter Empörung: „Schätzlein, ich bin Damenimitator!“ Transvestit? Er? „Ich bitte dich!“ Schwul vielleicht? „Um Gottes willen, viel zu primitiiiiv!“
Aufgewachsen ist er, so viel steht fest, in einer Zeit, in der Schwulsein, Anderssein auf keinen Fall gewollt war, eher abartig, verboten. Ein Mann, der kein Mann sein wollte? So etwas gab's ja überhaupt nicht, und wenn doch, sprach man nicht darüber. So hielt Ottokar Thome es bis an sein Lebensende, obwohl er seine weibliche Seite so öffentlich auslebte, wie man das nur tun kann: auf der Bühne. Da trug er Make-up und Glitzerkleider, pushte seine Brüste in die Höhe und drehte sich im Kreis, bis das Publikum vor Begeisterung ganz außer sich war.
Der Weg dahin war selbstverständlich weit, und viele Details, die interessanteren wahrscheinlich, sind nicht überliefert. Er war sparsam in seinen Mitteilungen. „Ich bin Damenimitator“ - weiter kam er ja in seiner Selbstbeschreibung nicht. Keine Rede davon, wer er war, wenn er nur er war, wenn er mal nicht imitierte.
Geboren in einem Brandenburger Dorf, Beginn einer Ausbildung zum Büroknecht im Rathaus Steglitz, Volkssturm mit der Panzerfaust am Fahrradlenker, nach dem Krieg Vorstellung bei einer Artistenagentur in Westdeutschland, Ballettschule in Bremen, Tanzauftritte in Hamburger Tingeltangelshows mit einer bildschönen Partnerin. Und jetzt kommt's: Die Partnerin lässt ihn mal sitzen, er erkennt, dass er auch allein klarkommen muss und denkt sich eine Nummer aus, in der er Mann und Frau zugleich ist, also: Damenimitator. Im langen Schleier umtanzt er eine Schale mit bengalischem Feuer, und da so etwas auf keinen Fall ein Ottokar tun kann, nennt er sich „Karmeen“. Das ist noch exotischer als Carmen.
Von Travestie ist aber noch lange keine Rede. Er nennt sich „Verwandlungskünstler“. Wenn er ein Kostüm von sich wirft und drunter glitzert ein weiteres, dann ist das doch wohl Verwandlung genug! Hauptsache elegant und schön. Drum sagt er auf der Bühne auch kein Wort. Wenn er das täte, könnten die Leute ihn womöglich für einen Mann halten, der sich nur Frauenkleider angezogen hat. Vorm Publikum ist er das Wesen, das er sein möchte. Was er zu sagen hat, sagt er mit seinen ausladenden Bewegungen: Schaut mich an und staunt!
Karmeen verdient gut als Karmeen. Ende der 60er bekommt er das Angebot, selbst ein Lokal zu übernehmen, die „Lützower Lampe“ in der Behaimstraße, Berlin-Charlottenburg. Es ist eine stille, bürgerliche Gegend, in die ein amüsierwilliges Publikum sich nicht zufällig verirrt. Aber es spricht sich bald herum, was man hier erleben kann. Karmeen macht aus der Lampe eine schummerige Plüschbar. Er besorgt Dekorationsstoffe im Ausverkauf des KaDeWe. Ein junger Mann, der seine ersten Auftritte als Schlagersänger bei Karmeen hat, Bert Beel, besprüht das Klavier mit goldener Farbe, behängt die Lampen über der Bar mit Klunkern und besorgt zwei Barhocker mit Rollen untendran, die heute im Schwulen Museum stehen.
Der Sänger imitiert zwar auch, Kurt Heesters, Zarah Leander, aber er tritt ganz und gar als Mann auf, und er ist jünger als die anderen Sternchen auf der Lampenbühne. Das sind Leute wie Karmeen, nicht mehr so richtig jung, dafür umso entschiedener beim Farbauftrag. Sie tanzen, singen, und wer was noch Auffälligeres kann, räumt sowieso ab. Madame Kio etwa, der ins Füllige tendierende Tänzer und Sänger aus Ungarn, trippelt im Tütü Spitze. Karmeen stellt sich auf den Kopf und wirbelt mit den schlanken, Eins-A-durchgestreckten Beinen wild durch die Luft. Und dann, das ist Abend für Abend der Höhepunkt, stellt er sich auf die beiden Barhocker, lässt sie auseinanderrollen, Stück für Stück, und schließlich, das Publikum kreischt und johlt, so weit, dass er im vollständigen Spagat dazwischen wippt, die Arme in der Höhe, er lebe hoch, sie lebe hoch, was für ein Vergnügen!
Weil er der Chef ist, und der Chef die Ansagen zu machen hat, muss er doch noch das Wort ans Publikum richten. Und siehe da, es ist viel einfacher, als er gedacht hat. Das Publikum ist bescheiden, es dankt für jede Zote überschwänglich, sie darf abgestanden sein oder fahrig vorgetragen, Hauptsache ein bisschen untenrum: „Sie brauchen mich nicht so vorwurfsvoll anzuschauen, ich beiße nicht, und wenn doch, nur auf ausdrücklichen Wunsch “ Besonders beliebt sind seine Ansagen der Kollegen: „Schatzi, bist du fertig da hinten? Brüste umgeschnallt? Gebiss gefunden?“ Wenn Stammgäste zum zehnten Mal dieselben Späße hören, klatschen sie zum zehnten Mal in die Hände und lachen umso lauter. In die Lampe kommt man schließlich zum Vergnügen.
Das Publikum passt gut in die Gegend, kein bisschen Subkultur und so normal, dass alles Anormale sich umso staunenswerter abhebt. Man muss an der Türe klopfen, um hineinzukommen, und wenn ein aufgedonnertes Wesen aufmacht und zur Begrüßung ruft: „Schön Dich wiederzusehen, du alte Sau!“, dann fühlt man sich sofort richtig: Ein bisschen Serengeti, ein bisschen Sodom und Gomorrha, aber nie gefährlich, denn alles Unanständige wird als lustig unanständig behandelt und belacht.
Wenn die Show vorbei ist, alle abgeschminkt, die Gäste selig und trunken verabschiedet, „Mach's gut, du Ferkel, bis zum nächsten Mal“, dann ziehen die Darsteller weiter in die Schwulenbars, feiern das Leben, treffen Freunde. Karmeen bleibt in der Lampe und zählt das Geld. Er trinkt ja keinen Alkohol, und warum soll er anderswo für einen Saft Zweifünfzig zahlen? Freunde in der Szene hat er nicht, die eine oder andere Freundin aber schon. „Sandgräfin“ - der Begriff stammt aus Zeiten, in denen Schwule Frauen zur Begleitung brauchten, um den Argwöhnischen Sand in die Augen zu streuen. Der Begriff hat sich gehalten. Mit „Tante Lütchen“, einer Stammkundin der Lampe, wohnt er sogar einige Jahre in einer Wohnung, bis sie stirbt. Dann lebt er allein, bis zuletzt.
Ob er einsam ist? Fragt man danach die beiden Freundinnen, die ihm bis zum Schluss geblieben sind, überlegen sie erst eine Weile. Doch, sicher war er einsam, aber er hat niemanden damit belastet. Das gehört ja zum Alleinsein.
Hat er je über seine Neigung gesprochen, darüber, zu wem er sich hingezogen fühlte? Auch da zögern die Freundinnen. Doch, einmal, sagt die eine, hat er erzählt, dass er einen Gast nach der Show nach Hause begleitet habe, aber das sei dann ganz fürchterlich gewesen. Das war wohl sowas wie ein Outing und die Distanzierung von den niederen Gelüsten gleichzeitig. Dann erinnert sie sich noch an die Situation mit ihrer Mutter, die aus der Provinz kam und zuerst ganz erschrocken über diesen schrillen Kerl war, um schließlich umso stärker zu bedauern: „Wie schade, dass ein wunderbarer Mensch wie Sie für die Damenwelt verloren ist!“ Darauf hat Karmeen, der große Sprücheklopfer, geschwiegen.
Dass er sich weibliche Hormone spritzen ließ, hat er erzählt, dass der Wunsch nach einem anderen Körper eine Rolle gespielt haben könnte, nicht. Das sei so eine Masche gewesen in seiner Branche damals, man habe es getan, um „ein bisschen schöner im Gesicht“ zu sein. An den Brüsten habe er etwas gemerkt, „da hat's so'n bisschen gejuckt “ Dabei war er stolz auf seine wachsenden Brüste, er hat sie gerne vorgezeigt. Seht her und staunt! Was soll man weiter drüber sprechen?
Die „Lützower Lampe“ lief bestens, erst recht, nachdem David Bowie da war und eine Szene aus „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ dort drehte. Anfang der Achtziger hat Karmeen den Laden trotzdem abgegeben. Für ein paar Jahre trat er noch in Shows auf und zeigte seinen Hockerspagat, dann zog er sich zurück. Seine langen Urlaube in Marokko und Tunesien machte er weiterhin, da fuhr er allein hin und konnte sich kostengünstig und anonym amüsieren.
Dass er viel älter wurde, als all die anderen, Madame Kio, Frieda Loch, Cherry Hell, lag sicher daran, dass er ein so braves, ausschweifungsfreies Leben führte. Kopfstand und Spagat waren ja nicht ungesund, in den Lokalen war es immer warm genug, dass er sich auch knapp bekleidet keinen Schnupfen holte. Später fuhr er Fahrrad, ging schwimmen und trank auch keinen Alkohol, als er längst nicht mehr fürchten musste, sonst von den Rollhockern zu fallen.
Seine Beerdigung war, wie er sich das gewünscht hatte, klein und ruhig. Keine Reden, anwesend nur drei Personen, eine der beiden Freundinnen nebst Freund und ein Kollege von damals, der ebenfalls Damen imitiert hat. David Ensikat