Nachruf auf Hermann Spörel (* am 4. Januar 1950)
Der Anwalt wollte eine Justitia haben. Seine eigene, besondere Justitia fürs Büro. Aber nicht wie üblich mit einer Tunika oder einem Kleid, sondern obenrum frei. Kein Problem für Hermann Spörel. Er war zwar Kunstmaler mit durchaus eigenen Vorstellungen, aber auch Künstler brauchen Geld. Und Hermann war geschäftstüchtig. Mehr ein erfahrener Handwerker, weniger ein Träumer. Fragte man ihn, wie lange er für dieses oder jenes Bild gebraucht habe, sagte er: „Ein Leben lang.“ Ein Leben lang Erfahrung und Routine.
Wenn eine Ausstellung anstand, er aber noch nicht genügend Bilder beisammenhatte, malte er Nächte durch. Malblockaden? Gab es nicht. Er war mal nach Mallorca eingeladen. Ein Geschäftsmann hatte dort mehrere Häuser gebaut. Hermann sollte für jedes Haus ein Bild malen. Also malte er, eins nach dem anderen, im Akkord. Um dann mit einem Koffer voller Geld wieder nach Hause zu fliegen.
Der Anwalt bekam seine Justitia, oben ohne. Doch er beschwerte sich, die Brüste der Unparteiischen waren ihm zu klein, also malte Hermann die Brüste größer. Auftrag ist Auftrag.
Malte er eins seiner Stadtmotive, das Brandenburger Tor etwa für den Präsidenten von Malawi, oder den Westhafen, dann fuhr er hin, suchte und überlegte, stellte sich so lange an verschiedene Stellen, bis er die richtige Perspektive gefunden hatte. Dann machte er Fotos. Für den richtigen Blick stieg er auch auf Dächer, klingelte bei Anwohnern und fragte, ob er mal auf ihren Balkon dürfe.
In seinem Atelier projizierte er das Foto an die Wand und machte sich an die Arbeit, verfremdete die Stadt, fügte Gesichter in die Kulisse ein, malte beeindruckende Wolken dazu, alles in den kräftigsten Farben, fast schon aggressiv. Er malte auch sehr groß, sechs mal sechs Meter, so etwas passte kaum mehr in sein Dachatelier. Um so ein Monstrum herunter auf die Straße zu bekommen, nahm er kurzerhand die Dachziegel, Reihe für Reihe herunter, seilte das Bild nach unten und verankerte die Dachziegel dann wieder ordentlich, Reihe für Reihe.
Hermann wuchs in Baden-Württemberg auf, lebte mit seiner Mutter und dem älteren Bruder in einem dieser alten, idyllischen Landhäuser. Seine Mutter, eine Grundschullehrerin, zog ihre Söhne allein groß. Ein Vater war nicht präsent. In den konservativen 50er Jahren war das alles andere als einfach. Sein Bruder hatte mit Krankheiten zu kämpfen und bekam viel von der mütterlichen Sorge. Beim jüngeren Hermann hieß es: Der schafft das schon, der kriegt das auf die Reihe, um ihn muss man keine Angst haben.
Woher seine Lust kam, sich an den Tisch zu setzen, einen Stift und ein Blatt Papier zu nehmen und zu zeichnen? Tja, niemand hatte ihn besonders gefördert, niemand hatte ihn davon abgehalten. Hermann konnte es einfach, er liebte es und tat es. Wenn er nicht gerade mit einer seiner Jugendlieben beschäftigt war - denn unwiderstehlich, ein Charmeur, war Hermann auch noch.
Seine Mutter wollte, dass er Sportlehrer wird. Das sei was Solides und Sicheres. Also studierte er Sport, wechselte aber schnell in die Architektur, um dann nach Berlin an die Universität der Künste am Kleistpark zu fliehen. Endlich Kunst, wenn auch auf Lehramt, ein Kompromiss. Er bestand die Prüfungen, machte ein Referendariat, eine letzte Präsentation fehlte ihm noch, dann wäre er fertig gewesen. Doch er litt an der Schule, er fühlte sich eingeschränkt, konnte die Lehrer im Lehrerzimmer nicht mehr sehen, die an ihren Kaffeetassen hingen, eingezwängt im selben Rhythmus.
Ein Künstler muss doch frei sein, im Kopf und mit seiner Zeit. Wenn ihm in der Nacht danach war, malte er eben in der Nacht. Schwierig, dann um acht vor einer Schulklasse zu stehen und klare Anweisungen zu geben. Schlampig oder unorganisiert war er aber nicht. Zweimal prüfte ihn das Finanzamt, zweimal waren sie bei ihm zu Hause, ließen sich sämtliche Belege und Quittungen zeigen und hatten nichts zu beanstanden.
Hermann haderte also. Sollte er wirklich Lehrer bleiben? Er bewarb sich erst mal für ein Stipendium in Los Angeles. Der Antwortbrief kam, einen Tag ging er noch in die Schule, und am Nachmittag dieses Tages, als die letzte Schulglocke klingelte, bestellte er sich ein Taxi, fuhr zum Flughafen und kaufte sich ein Ticket in die USA.
Später gab Hermann Malkurse für Erwachsene oder er übernahm Kunststunden mit schwierigen Jugendlichen, ging mit ihnen zum Bauschuttcontainer und ließ sie Objektkunst herstellen.
Das „Café Camarillo“ am Stuttgarter Platz war seine Lieblingsbar, ein Ort für Maler, Musiker, Schauspieler und Schriftsteller. Hier redeten sie über Aufträge, die kamen oder auch nicht, vertranken ihre Honorare, zeigten sich. Hermann spielte auch Karten, immer freitags ab acht, oft bis der Morgen graute. Wenn er gewann, mal 30, mal 40 Mark, freute er sich; wenn er verlor, konnte er richtig schlechte Laune bekommen. In dieser Bar sah Sigrid ihn mit seinem blonden Haar und der weißen Strähne darin. Auf die Strähne sprach sie ihn an - und er gab eine richtig blöde Antwort. Was für ein arroganter Kerl! Trotzdem redeten sie, zogen zur nächsten Party, gingen an einem anderen Tag ins Kino. Welcher Film lief, weiß sie nicht mehr. „Wir waren verliebt, wir knutschten.“
Er zog zu ihr. In einem Zimmer schliefen sie, im anderen arbeiteten sie. Sie war Bildhauerin, er Maler, ein Künstlerpaar. Wenn er sich auf den Weg machte, hinterließ er ihr eine Zeichnung: er beim Einkaufen, beim Spazieren. Er nannte sie „mein Sternenstaub“. 13 Jahre blieben sie zusammen, dann war es aus. Zwei Jahre waren sie beleidigt, dann wurden sie Freunde, bis zum Schluss.
Freunde gab es noch mehr. Den einen lernte er beim Kartenspiel kennen. Die anderen beim wöchentlichen Fußballspiel. Alle mochten ihn und unterstützten ihn, organisierten mit ihm Ausstellungen, Vereine, Aktionen. Sie waren auch da, als er krank wurde. War es Multiple Sklerose, war es eine verschleppte Borreliose? Er konnte kaum noch gehen, für zehn Meter brauchte er zehn Minuten, die ging er aber selber. Der eine Freund übernahm alles Ärztliche. Die anderen kümmerte sich um den Alltag. Dann kam ein Lungenkrebs dazu.
Hermann sagte zu dem einen: „Ich glaube, es hat mich erwischt.“ Zu Sigrid sagte er: „Wir hatten doch eine gute Zeit, oder?“ Dann, Ende November 2019, in dem Moment, als gerade niemand zu Besuch war, starb er. Karl Grünberg
Wenn eine Ausstellung anstand, er aber noch nicht genügend Bilder beisammenhatte, malte er Nächte durch. Malblockaden? Gab es nicht. Er war mal nach Mallorca eingeladen. Ein Geschäftsmann hatte dort mehrere Häuser gebaut. Hermann sollte für jedes Haus ein Bild malen. Also malte er, eins nach dem anderen, im Akkord. Um dann mit einem Koffer voller Geld wieder nach Hause zu fliegen.
Der Anwalt bekam seine Justitia, oben ohne. Doch er beschwerte sich, die Brüste der Unparteiischen waren ihm zu klein, also malte Hermann die Brüste größer. Auftrag ist Auftrag.
Malte er eins seiner Stadtmotive, das Brandenburger Tor etwa für den Präsidenten von Malawi, oder den Westhafen, dann fuhr er hin, suchte und überlegte, stellte sich so lange an verschiedene Stellen, bis er die richtige Perspektive gefunden hatte. Dann machte er Fotos. Für den richtigen Blick stieg er auch auf Dächer, klingelte bei Anwohnern und fragte, ob er mal auf ihren Balkon dürfe.
In seinem Atelier projizierte er das Foto an die Wand und machte sich an die Arbeit, verfremdete die Stadt, fügte Gesichter in die Kulisse ein, malte beeindruckende Wolken dazu, alles in den kräftigsten Farben, fast schon aggressiv. Er malte auch sehr groß, sechs mal sechs Meter, so etwas passte kaum mehr in sein Dachatelier. Um so ein Monstrum herunter auf die Straße zu bekommen, nahm er kurzerhand die Dachziegel, Reihe für Reihe herunter, seilte das Bild nach unten und verankerte die Dachziegel dann wieder ordentlich, Reihe für Reihe.
Hermann wuchs in Baden-Württemberg auf, lebte mit seiner Mutter und dem älteren Bruder in einem dieser alten, idyllischen Landhäuser. Seine Mutter, eine Grundschullehrerin, zog ihre Söhne allein groß. Ein Vater war nicht präsent. In den konservativen 50er Jahren war das alles andere als einfach. Sein Bruder hatte mit Krankheiten zu kämpfen und bekam viel von der mütterlichen Sorge. Beim jüngeren Hermann hieß es: Der schafft das schon, der kriegt das auf die Reihe, um ihn muss man keine Angst haben.
Woher seine Lust kam, sich an den Tisch zu setzen, einen Stift und ein Blatt Papier zu nehmen und zu zeichnen? Tja, niemand hatte ihn besonders gefördert, niemand hatte ihn davon abgehalten. Hermann konnte es einfach, er liebte es und tat es. Wenn er nicht gerade mit einer seiner Jugendlieben beschäftigt war - denn unwiderstehlich, ein Charmeur, war Hermann auch noch.
Seine Mutter wollte, dass er Sportlehrer wird. Das sei was Solides und Sicheres. Also studierte er Sport, wechselte aber schnell in die Architektur, um dann nach Berlin an die Universität der Künste am Kleistpark zu fliehen. Endlich Kunst, wenn auch auf Lehramt, ein Kompromiss. Er bestand die Prüfungen, machte ein Referendariat, eine letzte Präsentation fehlte ihm noch, dann wäre er fertig gewesen. Doch er litt an der Schule, er fühlte sich eingeschränkt, konnte die Lehrer im Lehrerzimmer nicht mehr sehen, die an ihren Kaffeetassen hingen, eingezwängt im selben Rhythmus.
Ein Künstler muss doch frei sein, im Kopf und mit seiner Zeit. Wenn ihm in der Nacht danach war, malte er eben in der Nacht. Schwierig, dann um acht vor einer Schulklasse zu stehen und klare Anweisungen zu geben. Schlampig oder unorganisiert war er aber nicht. Zweimal prüfte ihn das Finanzamt, zweimal waren sie bei ihm zu Hause, ließen sich sämtliche Belege und Quittungen zeigen und hatten nichts zu beanstanden.
Hermann haderte also. Sollte er wirklich Lehrer bleiben? Er bewarb sich erst mal für ein Stipendium in Los Angeles. Der Antwortbrief kam, einen Tag ging er noch in die Schule, und am Nachmittag dieses Tages, als die letzte Schulglocke klingelte, bestellte er sich ein Taxi, fuhr zum Flughafen und kaufte sich ein Ticket in die USA.
Später gab Hermann Malkurse für Erwachsene oder er übernahm Kunststunden mit schwierigen Jugendlichen, ging mit ihnen zum Bauschuttcontainer und ließ sie Objektkunst herstellen.
Das „Café Camarillo“ am Stuttgarter Platz war seine Lieblingsbar, ein Ort für Maler, Musiker, Schauspieler und Schriftsteller. Hier redeten sie über Aufträge, die kamen oder auch nicht, vertranken ihre Honorare, zeigten sich. Hermann spielte auch Karten, immer freitags ab acht, oft bis der Morgen graute. Wenn er gewann, mal 30, mal 40 Mark, freute er sich; wenn er verlor, konnte er richtig schlechte Laune bekommen. In dieser Bar sah Sigrid ihn mit seinem blonden Haar und der weißen Strähne darin. Auf die Strähne sprach sie ihn an - und er gab eine richtig blöde Antwort. Was für ein arroganter Kerl! Trotzdem redeten sie, zogen zur nächsten Party, gingen an einem anderen Tag ins Kino. Welcher Film lief, weiß sie nicht mehr. „Wir waren verliebt, wir knutschten.“
Er zog zu ihr. In einem Zimmer schliefen sie, im anderen arbeiteten sie. Sie war Bildhauerin, er Maler, ein Künstlerpaar. Wenn er sich auf den Weg machte, hinterließ er ihr eine Zeichnung: er beim Einkaufen, beim Spazieren. Er nannte sie „mein Sternenstaub“. 13 Jahre blieben sie zusammen, dann war es aus. Zwei Jahre waren sie beleidigt, dann wurden sie Freunde, bis zum Schluss.
Freunde gab es noch mehr. Den einen lernte er beim Kartenspiel kennen. Die anderen beim wöchentlichen Fußballspiel. Alle mochten ihn und unterstützten ihn, organisierten mit ihm Ausstellungen, Vereine, Aktionen. Sie waren auch da, als er krank wurde. War es Multiple Sklerose, war es eine verschleppte Borreliose? Er konnte kaum noch gehen, für zehn Meter brauchte er zehn Minuten, die ging er aber selber. Der eine Freund übernahm alles Ärztliche. Die anderen kümmerte sich um den Alltag. Dann kam ein Lungenkrebs dazu.
Hermann sagte zu dem einen: „Ich glaube, es hat mich erwischt.“ Zu Sigrid sagte er: „Wir hatten doch eine gute Zeit, oder?“ Dann, Ende November 2019, in dem Moment, als gerade niemand zu Besuch war, starb er. Karl Grünberg