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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Günter Schmidtke (* am 9. Oktober 1934)

Ein ganz Verrückter sei er, aber eigentlich ganz normal. Das sagte Günter über sich. Und: „Warum leb' ick eigentlich in der Stadt, wo ick die Natur so liebe?“ Schon in seiner Jugend ging er oft angeln, später immer dienstags mit Kellner Maxe, seinem Kollegen aus dem Ballhaus. Eigentlich hätte Günter die Fische immer gleich ins Wasser zurückwerfen können, denn er aß sie eh nicht. Nicht mal vom Haken konnte er sie abmachen, das musste sein Angelfreund übernehmen. Hauptsache er war draußen auf dem Land. „So ein richtiger Berliner binnick also auch nich'. Bin ja auch auf'm Acker geboren.“ Das war 1934 im brandenburgischen Vehlefanz. 1937 zog die Familie in die Kleine Hamburger Straße, Berlin Mitte, schräg gegenüber von Clärchens Ballhaus. Bevor er 1941 eingeschult wurde, ging es mit der Kinderlandverschickung ins Sudetenland. Die Schule war nicht seins: gerade sitzen, still sein, auf Befehl „Heil Hitler“ rufen.
Als 1945 die Russen das Ballhaus gegenüber der Wohnung okkupierten, verbrachte der kleine Günter viel Zeit bei den Soldaten da drüben auf dem Hof, mal bei den Pferden, mal an der Feuerstelle. Vorderhaus und Seitenflügel des Ballhaus-Gebäudes waren im Krieg zerbombt worden. Auf dem neu entstandenen Platz vor dem Saal-Eingang im Hinterhaus, heute ein Biergarten mit duftenden Rosen, reparierte Günter von 1965 an seine Autos. Eines Tages kam Clara Habermann, die alle „Clärchen“ nannten, auf ihn zu: „Sie sind doch so patent, Herr Schmidtke “ So kam er ins Ballhaus, wo bereits seine Mutter an der Kasse saß und sein Bruder kellnerte. Günter übernahm zunächst die Reparaturen und später die Garderobe - „mit preußischer Disziplin!“ In all den Jahren sei bei ihm nie was weggekommen, das wollte er schon festgehalten wissen.
Spätestens seit dem 100. Jubiläum des Ballhauses 2013 war Günter bekannt als Deutschlands ältester und beliebtester Garderobier. Jeder, der bei Clärchen tanzen wollte, kam an seinem Tresen vorbei. Da stand der drahtige Mann mit dem eindrucksvollen Schnurrbart auch noch, als er längst in Rente war.
Eigentlich gab es bei Clärchen ja keine „Tür“, niemand wurde abgewiesen. Aber bis 1985 galt für Männer Dresscode: keine Jeans, keine Turnschuhe, Sakko und Schlips obligatorisch. Günter kontrollierte das. Fehlte die Krawatte, holte er irgendein Exemplar hervor, und verlieh es für'n Fünfer. Auch Leih-Sakkos hatte er im Angebot. Die Damen waren sowieso meist schick gekleidet. Natürlich gab es obendrauf immer noch seinen guten Rat. Männern rief er hinterher: „Attacke!“, Frauen warnte er vor den Hallodris.
Ratschläge gab Günter sowieso gern. Auch den neuen Betreibern, die ihn 2005 ins Team holten, nachdem sie den Familienbetrieb übernommen hatten. Auf seine neuen Chefs, die er „Schulle“ und „der Lange“ nannte, ließ er nix kommen.
Und wenn die Ballhaus-Band spielte, war er selig. Er verabscheute „Schlagergejaule“, liebte Rhythmisches, Klassik - und AC / DC. Den Duckwalk des Gitarristen Angus Young beherrschte er, was er hin und wieder vor seiner Garderobe unter Beweis stellte.
Freitag- und Samstagabend stand er an seinem Platz, dann war „Schwoof“ bei Clärchen. Wenn mal nicht so viel zu tun war, kam Günter hinterm Tresen vor, mischte sich unter die Gäste, setzte sich an die Stammtische. Alle wollten mit Günter reden und er mit ihnen. Vertrauten flüsterte er dann schon mal was von Fehltritten anderer Gäste ins Ohr, immer mit dem Zusatz: „Bleibt unter uns.“ Nach einer Begegnung mit Vicco von Bülow, Loriot, strahlte er: „Der konnte mich gut leiden.“ Loriot hinterließ einen Eintrag im Gästebuch: „Es gibt nichts, was mich hier vertreibt, wenn alles unverändert bleibt.“
Viele erinnern sich an rauschende Abende im Ballhaus, an denen die Welt so in Ordnung war, dass man sie fortwährend hätte umarmen mögen, mitsamt Günter. Der auf so eine Idee nie gekommen wäre. Immer anständig bleiben. Mal ein Küsschen auf die Wange, mehr nicht. Auf die Tanzfläche, mittanzen, nein, das war ihm nichts. Foxtrott gerne, aber doch nicht am Arbeitsplatz.
Er hatte auch eine schüchterne Seite. Er gestand mal, dass er es nie ertragen hätte, einen Korb zu bekommen. Im Erdboden wäre er versunken. Selbst seine Margot hatte ihn auffordern müssen, das war 1952. Dann wurden sie ein Paar, und nach der Hochzeit kamen die Kinder: 1955 Petra, 1957 Ilka. Die hat er allerdings schnell aus dem Kindergarten wieder rausgeholt. Nichts da mit „Onkel Ho“ und „die Partei hat immer recht“. Seine Kinder wollte er schon selbst erziehen. Bevor er 1967 bei Clärchen anfing, war er Bagger- und Kipperfahrer auf der großen Baustelle am Alexanderplatz. Stolz zeigte er seine Auszeichnungen: „Erbauer des Stadtzentrums“ und „Aktivist der sozialistischen Arbeit“. „Sozialistisch“ war ihm nicht so wichtig, aber die Arbeit, die schon immer. Er war nicht für und nicht gegen die DDR. Ähnlich ging es ihm später mit dem großen Deutschland.
Wenn ihm was nicht passte, konnte Günter zu Gästen schon mal etwas rauer werden. Seine Tochter Ilka, seit 1991 im Ballhaus tätig, zischte ihm dann ins Ohr: „Papa, jetzt halt die Klappe!“
Das Ballhaus war sein Leben, egal unter welchem Betreiber, er stand zum Haus. Eigentlich wollte er bleiben, „bis ick die Hufe hochschmeiße“. Seine Chefs fanden, dass er auch noch nach seinem Tod ins Ballhaus gehöre, warum denn nicht als Mumie oder im gläsernen Sarg? Und dennoch, es kam das Jahr 2016 und es musste Geld gespart werden, beim Personal. Da traf es auch Günter. Zwar wollten sie ihn dann noch mal zurückholen, aber das Hin und Her war ihm nichts. Mit fast 82 ging er in den Ruhestand.
An den Wochenenden zog es ihn aber immer wieder in die Auguststraße, um seine Familie auf Nachtschicht mit Essen zu versorgen: Ilka im Spiegelsaal, Enkel Max, Schwiegersohn Lothar und Freund Peter in der Garderobe.
Das Ballhaus ist jetzt in neuen Händen, die Wiedereröffnung steht bevor. Günters Garderobe gibt es weiter, ohne Günter und ohne all die Blechschilder und Fotos aus alten Ballhaus-Zeiten, mit denen er die Wände rund um seinen Tresen dekoriert hatte. Marion Kiesow