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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Eva Sternheim-Peters (* am 25. März 1925)

„Wir Jungen schreiten gläubig der Sonne zugewandt, / Wir sind ein heil'ger Frühling, / Ins deutsche Land.“ 90 Jahre alt ist diese Frau und sitzt in ihrer Wohnung in Berlin-Charlottenburg und singt ein Nazilied. Den Kopf hoch erhoben, die Zigarettenspitze auch. Nicht weil sie Nazi ist. Sondern weil sie Nazi war, und darüber niemals hinweggekommen ist.
Als sie in Paderborn aufwächst, heißt der Erste Weltkrieg noch der Weltkrieg. Eva kann „Versailles“ nicht buchstabieren, doch weiß sie bereits, was das Wort bedeutet: Kränkung, Verletzung, Zerstörung. Sie malt Karten von Deutschland, so groß, wie es einmal war. Der Vater ist Lehrer, die Familie bürgerlich und katholisch, und als Eva am 31. Januar 1933 wie jeden Morgen die Zeitung nach oben bringt und der Familie am Frühstückstisch die Schlagzeile vorliest, „Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt“, ist die Mutter skeptisch: „Der hat doch nicht mal Abitur.“
Auf die offenkundige Brutalität der SA-Männer schauen die Eltern hinab, doch den Hitler beginnen sie zu mögen. Eva wird ihn bald glühend verehren. „In der Hitlerjugend allezeit meine Pflicht zu tun in Liebe und Treue zum Führer“, dieses Versprechen meint sie ganz ernst. Wenn Hitler doch nur heldenhafter aussehen würde! Darüber, dass sie sich das wünscht, spricht sie nicht. Sie schämt sich, so oberflächlich zu sein.
Eines Tages ist sie bei Elfriede, ihrer Führerin aus dem Jungmädelbund, zu Gast. Elfriede wohnt in einer Mietskaserne, das Klo auf halber Treppe, Eva trinkt Malzkaffee und stellt fest, dass man dafür gar keine Untertasse braucht. In diesem Moment wird ihr klar, was die Strophe des Nazilieds bedeutet, das sie oft zusammen singen: „Wir sind nicht Bauer, Bürger, Arbeitsmann, haut die Schranken doch zusammen, Kameraden.“ Eva ist jetzt Teil einer Jugendbewegung, Klassenschranken werden überwunden, religiöse auch.
Den Juden freilich ist nicht zu trauen. Eines Tages, die Küchenmaschine ist kaputt, begleitet Eva ihre Mutter in ein Geschäft, das einem Juden gehört. Als der bemerkt, dass die Mutter sich kein neues Gerät leisten kann, sich aber nicht so recht traut, das zu gestehen, sucht er mit großem Aufwand eine Schraube zur Reparatur der alten Küchenmaschine. „Eins muss man den Juden lassen. Raffiniert sind sie“, sagt der Vater später. Als ein angeheirateter jüdischer Verwandter Deutschland verlässt, nimmt man es schulterzuckend hin: Die Juden haben ja eh keine Heimat.
Evas Leben in diesen Tagen ist eine permanente Vergewisserung der Heimat: Zu Fuß durch den Thüringer Wald, eine Fahrt ins deutsche Elsass, Lagerfeuer, Sonnenwendfeiern, die Wartburg bei Eisenach, das Goethe-Haus in Weimar.
Und Buchenwald, Ravensbrück, Birkenau? Von Lagern weiß Eva seit 1933, aber das Wort ist positiv besetzt. Sommer-, Ski- und Zeltlager. Es bedeutet einfach, dass die Deutschen sehr gut organisieren können, und deshalb gibt es natürlich auch Arbeitslager. Und die Roses, die jüdische Familie von nebenan, die sind doch nach England gegangen?
Ihr Bruder Günter fügt seinem Namen ein „h“ zu, das sieht germanischer aus. Am Wochenende nach dem 9. November 1938 steht er in der Küche, zusammen mit Eva und der Mutter. „Du bist doch nicht dabei gewesen?“ fragt die Mutter. „Doch“, sagt der Bruder kauend und murmelt etwas von einem alten Judenweib, wie es geschaut habe, als sie den Küchenschrank umgeworfen haben. „Günther!“, ruft die Mutter entsetzt, mehr sagt sie nicht.
Als Eva im März 1945 nach dem Bombenangriff auf Paderborn in die elterliche Wohnung kommt, sieht sie als erstes den umgestürzten Küchenschrank. Dann ist der Krieg vorbei, beide Brüder sind gefallen, und Eva würde gern die Briefe immer noch mit „Heil Hitler“ unterschreiben, weil das irgendwie immer gepasst hat. In den Wochenschauen zeigen die Allierten Bilder aus Konzentrationslagern. Eva sieht die Leichenberge von Bergen-Belsen. Zuschauer rufen, das sei alles Lüge, und verlassen den Saal. Eva bleibt sitzen.
Es beginnt der zweite Teil ihres Lebens; sie wird ihn darauf verwenden, den ersten Teil zu verstehen und auch gegen ihn anzuleben. Als Eva in den 50er Jahren in Hamburg unterrichtet, begegnet sie auf einem Spaziergang mit Schülerinnen singenden Bundeswehrsoldaten. Eine Schülerin findet das romantisch. Zu Hause sucht Eva Texte gegen den Krieg. Sie studiert Psychologie, sie recherchiert, was aus der Familie Rose geworden ist. Der Vater und die Kinder kamen nach Buchenwald, die Mutter wurde nach Warschau deportiert und dort getötet. Eva heiratet einen Mann, dessen Familie im KZ umgekommen ist. Von nun an ist sie Eva Sternheim-Peters. Dass ihre Ehe keine Zukunft hat, liegt auch daran, dass die Vergangenheit die beiden immer wieder trennt. An der FU gibt Eva Seminare zum Faschismus und hört, wie Studenten erzählen, dass ihre Eltern nur Mitläufer waren: Der Vater war doch im Schuldienst, man brauchte Lebensmittelkarten, man war gezwungen, in die NSDAP einzutreten
Sie schreibt ein Buch, in dem sie von ihrer Nazi- Begeisterung berichtet. Der Titel: „Habe ich denn allein gejubelt?“ Es dauert sieben Jahre, bis ein Verlag es in kleiner Auflage veröffentlicht.
2014 wendet sich Eva Sternheim-Peters mit ihrer Geschichte an verschiedene Zeitungen. Im Tagesspiegel erscheint Ende April 2015 eine Reportage über sie, in der steht, dass sie noch 100 Exemplare ihres Buchs zu Hause hat. Am Abend sind sie alle weg. In den folgenden Monaten gibt Eva Sternheim-Peters Interviews, sie macht Lesungen, und ihr Buch wird neu herausgebracht. „Viele haben mir erzählt, dass ihre Eltern mit ihnen nie über die Nazizeit gesprochen haben“, sagt sie. „Aber die Wahrheit ist eben schmerzhaft. Wenn ich die Lieder von damals heute singe, spüre ich die Faszination immer noch.“
An ihrem 95. Geburtstag im März 2020 will sie noch einmal eine Lesung machen, doch dazu kommt es nicht mehr. Am 13. April stirbt sie nach einer Corona-Infektion.
Seit den 80er Jahren hat Eva Sternheim-Peters geflüchtete Menschen in ihrer Wohnung aufgenommen. Durand, den Musikstudenten aus Tschad, der Sonette von Shakespeare zitieren konnte, Marie, die Ärztin aus Burkina Faso. Bis zuletzt lebte ein Mann aus Syrien bei ihr. Mit ihm hat sie kurz vor ihrem Tod das Konzentrationslager Sachsenhausen besucht. Verena Friederike Hasel