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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Jens Wegmarshaus (* am 2. März 1961)

Beim ersten Mal musste er die Haare stutzen, da hatte er gar keine Wahl. Das war bei der Armee. Beim zweiten Mal gab es keine Dienstvorschrift, die die Haarlänge definierte. Umso mehr wunderten sich seine Freunde: Jens mit brav geordneter Frisur, noch dazu mit einer unglaublich langweiligen Brille? Ausgerechnet jetzt, da doch die große Freiheit angebrochen ist? Es war das Frühjahr 1991, das Land frisch vereint, die DDR eine piefige und peinliche Vergangenheit. Konnte jetzt nicht endlich jeder ganz er selbst sein?
23 Jahre früher spielte sich die folgende Szene ab. Kurz vor seiner Einschulung kam ein Paket von der Westverwandtschaft, darin ein pikfeines Hemd und eine Fliege. Seine Eltern waren ebenso entschieden, dass er beides anzuziehen hatte, wie er, dass er derart verkleidet auf keinen Fall das Haus verlassen würde. Damals setzten seine Eltern sich noch durch, alle Proteste halfen nichts. Mit Hemd und Fliege tobte Jens weiter, fiel die Treppe im Haus hinunter und blutete am Kopf. Man kann schon sagen, dass er einen starken Willen hatte.
Er kam dann auf eine Russisch-Schule. Die war den besten Schülern vorbehalten, den systemtreuesten sowieso. Entsprechend groß war die Aufregung, als einer dieser Schüler kritische Parolen ausgestoßen hatte. Dass er von der Schule fliegen würde, war ausgemacht, es sollte aber noch in allen Klassen über den Beschluss abgestimmt werden. Die allgemeine Zustimmung bekräftigte die Weisheit des Beschlusses - so funktionierte Demokratie damals. Jens, 14 Jahre alt, enthielt sich der Stimme, was ebenso ein Skandal war wie ein Nein. Und dann noch sein Hinweis auf die Uno: Da dürften sich ganze Länder der Stimme enthalten. Dem Lehrkörper war klar: Diesem Jungkader, ist neben Renitenz auch Größenwahn zu attestieren. Dass er nicht wie der andere sofort von der Schule flog, verdankte er seinem Vater. Der war Funktionär. Doch seine Intervention genügte nur für den Zehnklassenabschluss.
Das Abitur durfte Jens nicht machen; er sollte sich erstmal in der Produktion bewähren. Wurde Zimmermann, trank auf dem Bau genügend Bier und beeindruckte die Freunde aus der Lehre mit Platten aus dem Westen, Pink Floyd, Deep Purple, denn sein Vater war auch Reisekader. Er versorgte seinen ungehorsamen Sohn nicht nur mit Westmusik, sondern auch mit Büchern, die es in der DDR nicht zu kaufen gab.
Es gibt ein Schwarzweißfoto, da sitzt Jens mit Freunden, langen Haaren, John-Lennon-Brille und Bierflasche in der Hand vorm Zelt, auf das sie das Coverbild von Pink Floyd, „The Wall“, riesenhaft vergrößert, übertragen hatten. Die Mauer auf der Zeltwand: Das waren diese kleinen Mutwilligkeiten, bescheidene Akte der Selbstbehauptung, die große Folgen hätten haben können, aber nicht haben mussten. Jens war bei aller Aufmüpfigkeit geschickt genug, bei sich zu bleiben, ohne noch einmal wirklich heftig anzuecken. War ja nicht grundsätzlich gegen das System, eher einer von denen, die die Grenzen ausloteten, die es verbessern wollten, um irgendwann zu merken, dass das nicht ging.
Er meldete sich zum dreijährigen Armeedienst, Voraussetzung für Studium und Weiterkommen, und nutzte die eigentlich verlorenen Jahre fürs Abitur. Pendelte zwischen Wacheinheit und Volkshochschule, versicherte sich seiner selbst mit einer auffällig kleinen Brille mit getönten Gläsern, heimlichem Abhören der Musik des Klassenfeindes und exzessiver Lektüre von Büchern, die die Genossen Offiziere entweder nicht verstanden oder für gefährlich gehalten hätten.
Wie er zu seinem Studienwunsch kam, ausgerechnet Jura, um dann Staatsanwalt zu werden, lässt sich nicht rekonstruieren. Folgte er da wirklich seinem Vater, dem er einerseits die Platten und die Bücher verdankte, mit dem er sich andererseits oft und heftig über Staat, Partei und Sozialismus stritt? Womöglich war es wirklich etwas von dem Größenwahn, vor dem die Lehrer schon gewarnt hatten: Ich mach' das alles besser. Jens jedenfalls begann das Studium in Jena, wo kurz zuvor ein paar kritische Professoren des Fachbereichs diszipliniert worden waren, er trat der Staatspartei bei - eine Selbstverständlichkeit für angehende Staatsdiener. Und er suchte wiederum nach Möglichkeiten, sich in seiner Selbstachtung zu behaupten. Dazu gehörten nicht unwesentlich die Haare, die er wieder wachsen ließ und seine spezielle Brille; damit allein konnte man an dieser Fakultät sehr auffallen. In Diskussionen tat er das auch, belesen, klug und wortgewandt. Als aus der Sowjetunion ein frischer Wind hinüberwehte, kam es auf einmal zu Debatten, in denen solche Qualitäten gefragt waren.
Umso komplizierter zu ermessen, wo die neuen Grenzen lagen. Gemeinsam mit einem Studienfreund schrieb Jens im November 1987 einen Brief ans „Neue Deutschland“. Darin protestierten sie gegen den Verriss eines antistalinistischen Films aus der UdSSR. Was sich heute eher brav und vorsichtig liest, war damals eine gewagte Sache, für angehende Staatsanwälte allemal. Eine Antwort bekamen sie nicht - und auch keine Probleme. Eine Kommilitonin, die in ihrer „Glasnost“-Ausdeutung etwas weiter ging und ihre Kritik lauter äußerte, durfte zunächst nicht Staatsanwältin werden. Sie sagt heute: „Jens war ja genauso kritisch, aber er war vorsichtiger. Oder sagen wir: geschickter.“
Im Herbst 1989 bewährte er sich an ganz praktischer Stelle. Er war seit einem Jahr Staatsanwalt in Köpenick, betraut mit Eigentums- und Verkehrsangelegenheiten. Am Abend des 7. Oktober hatte er es auf einmal mit ganz anderen Fällen zu tun. Er sollte festgenommenen Demonstranten den Haftbefehl ausstellen. Er konnte kein Gesetz finden, gegen das die Leute verstoßen hatten und ließ sie alle laufen. Auch das war, in dieser Situation, ein mutiger Akt. Auch diesmal wieder ohne Folgen für ihn, denn in den kommenden Wochen hatten seine Vorgesetzten mehr damit zu tun, sich selbst zu rechtfertigen, als einen Abweichler zu disziplinieren.
So lange es die DDR noch gab, knapp ein Jahr, blieb er im Dienst und wurde, weil jung und bislang nicht mit politischen Dingen befasst, jetzt genau mit solchen betraut. Er sollte geheime Dienststellen der Stasi aufspüren und befasste sich in der „Arbeitsgruppe Regierungskriminalität“ mit den Verfehlungen von Joachim Herrmann, dem SED-Politbürokraten, der die Medien auf Linie gehalten hatte.
Mit dem Anschluss des Landes an die Bundesrepublik und der Auflösung des alten Justizsystems, verlor Jens seine Arbeit. Er lebte inzwischen in Familie, hatte zwei Kinder und musste Geld verdienen. Er putzte Fenster. Und bewarb sich um eine Stelle in der bundesdeutschen Staatsanwaltschaft.
In Ost-Berlin gab es mehr als 200 Staatsanwälte. Sechs von ihnen wurden übernommen. Gewiss waren unter den Abgelehnten etliche, die Dreck am Stecken hatten. Aber ist tatsächlich anzunehmen, dass alle anderen schlechter geeignet gewesen wären als die Kollegen aus dem Westen, die jetzt großartige Aufstiegschancen hatten?
Jens lernte, dass das Maß an Herrschsucht, Untertanengeist und Anpassungsbereitschaft im neuen Staatswesen nicht wesentlich geringer war als im alten. Warum er es lernen durfte? Er war einer von den sechs Übernommenen. Er war in seinem DDR-Dienst weder mit der Stasi, noch mit dem Militär verbandelt gewesen, er war jung und klug und selbstbewusst. Und: er hatte sich die Haare abgesäbelt und eine brave Brille aufgesetzt! Sein Zugeständnis an die neue Welt, die eine freiere sein mochte, die es aber erst einmal kennenzulernen galt.
Nun ging es nicht darum, ein neues Jura-Studium zu absolvieren, im Strafrecht ähnelten sich die Systeme. Vor allem aber im Prozess- und im Zivilrecht mussten die Neuwestdeutschen viel dazulernen. Die ersten Jahre waren hart; die sechs dienten auf Bewährung unter einem Westchef, der Untergebene, besonders Frauen, gern ihren minderen Status spüren ließ. Jens hatte als einziger Mann einen etwas besseren Stand, zumal er weitaus selbstbewusster auftrat, als es dem Klischee von der verhuschten Ostnase entsprach. Man merkte, dass er ein paar Bücher mehr als die Kommentare zum Strafgesetz gelesen hatte. Als der Chef ihm einen Karriereschritt in Richtung Oberstaatsanwalt in Aussicht stellte und Jens das ablehnte, war die Welt aber wieder im Lot: Die zweifelhafte Herkunft hatte auch an diesem Undankbaren ihre Spuren hinterlassen.
So sicher Jens sich war, dass seine Berufsaussichten in der DDR, hätte es sie länger gegeben, keine rosigen gewesen wären, so klar war, dass er auch im bundesdeutschen Justizsystem keine große Laufbahn machen würde. Er hatte keine Lust auf Bürokratie und Ränkespiele, er wusste, dass er für jede Leitersprosse ein Stück Souveränität aufzugeben hätte.
Er ließ wieder sein Haupt- und Barthaar wachsen und erwarb sich auch im Strafgericht zu Moabit einen Ruf als Ausnahmeerscheinung. Denn er war nicht nur von auffälliger Freundlichkeit gegenüber jedermann und jederfrau, ganz gleich, ob sie gehobenen oder niederen Dienst versahen. Er galt auch bald unter den Kollegen vor Gericht, ob Richter, Schöffen oder Rechtsanwälten, als ein besonders fairer und versierter Fachmann im Jugendstrafrecht mit einer ausgesprochen willkommenen Begabung: Der Staatsanwalt hielt Plädoyers wie nur ganz wenig andere das können. Immer frei, immer mit dem Blick zum Angeklagten, manchmal auch zum Richter und zu den Schöffen. Was er sagte, kündete von einem großen Interesse an den Jugendlichen, an ihren Beweggründen und an ihren Chancen auf ein anderes, besseres Leben. Das war ja auch der Grund dafür, dass Jens sich dem Jugendstrafrecht verschrieben hatte: Da geht es letztlich nicht nur um die Zahl der Knastjahre, um Sühne und Strafe. Da wird über Menschen verhandelt, die noch unfertig sind, über die Hoffnung auf Veränderung. Entsprechend variabel sind Staatsanwalt und Richter bei der Zumessung von Bewährungs- und Erziehungsangeboten.
Jens wusste um seine Wirkung, der Gerichtssaal war seine Bühne - ein weiterer Grund, nicht in der Hierarchie noch oben zu steigen, denn da werden die Auftritte seltener. Und die Zeit wird knapper für den Rest des Lebens. Und dieser Rest war ihm so wichtig, den füllte er so gewissenhaft aus, dass das Wort Rest eigentlich ganz falsch ist. Fangen wir mit den Familiendingen an. Er hatte einen Sohn und eine Tochter aus seiner frühen langen Beziehung, einen Sohn aus einer kurzen danach und einen Stiefsohn aus der letzten. Die in eine Ehe gemündet war - eine Festlegung, die eigentlich nicht so richtig zu ihm passte, die er aber offensichtlich nie bereute, denn er verkündete seiner Frau Doro hin und wieder, sie gern nochmal zu ehelichen, wenn das denn ginge. Nicht nur seine Kinder waren ihm unendlich wichtig, auch die Freunde, die er über die Jahre gesammelt hatte. Selbst denen aus der Zimmermannszeit hielt er die Treue.
Die Frauen hatten es nicht ganz leicht mit ihm, sie wussten schließlich um seine Attraktivität. Über Jahre unternahm er mit seinen Staatsanwaltskolleginnen aus dem Osten die obligatorische Wochenendfahrt mit Kindern und ohne Partner. Da war er der einzige Mann, und seine jeweilige Lebensgefährtin hegte daheim die schlimmsten Fantasien. Sollte nur keine versuchen, ihn von so einer Fahrt abzuhalten.
Was Kulturelles anbelangte, so absolvierte er ein Pensum, das einen besessenen Pensionär ohne Familie stolz machen würde. Allein im Jahr 2016 waren es 30 Kinobesuche, 24 Theater-, Tanz,- und Opernabende, 12 Fußballspiele (Union!), 19 Rockkonzerte und 17 Bücher von vorn bis hinten. Seine eigenen Auftritte im Laientheater kamen noch dazu.
Warum das so präzise überliefert ist? Er führte Buch. Notierte alle Namen, Titel und Begleitungen, vermerkte die jeweilige Anzahl, als gelte es, eine Wette zu gewinnen. Eine Wette mit dem Schicksal: Wann immer Du meine Zeit für beendet erklärst, ich habe sie genutzt. Ich habe mich behauptet. Ich hab' ein Leben!
Am Freitag, dem 7. Februar, ging es ihm schlecht. Ein Krankenwagen holte ihn vom Gericht ins Krankenhaus. Am Samstag ist er gestorben, ein Riss der Aorta. David Ensikat
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