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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Hans-Georg Westphal (* am 25. September 1936)

Ein Kunde rauscht aus dem 25-Quadratmeter-Laden „GFK Technik - Farben, Kunststoffe“ in der Wilmersdorfer Blissestraße, stampft nach Hause, schmeißt seinen Rechner an und hackt seinen Zorn über den Ladeninhaber in ein Bewertungsportal: „Unfreundlich, beleidigend und unfachlich. Ich hatte eine klare Frage und Kaufabsicht und wurde abgewiesen und beleidigt. Wie kann man so nur ein Geschäft führen?!“
Ein anderer Kunde verlässt denselben Laden, dreht sich noch einmal auf der Schwelle um, winkt dem Inhaber zu, klappt zu Hause seinen Laptop auf, und tippt seine Zufriedenheit unter die Wut des ersten: „Ein Urgestein an Ladenbesitzer, er ist schon immer da, etwas schroff, aber ehrlich, ich wünsche dir noch lange Gesundheit.“ So geht es immer weiter: „Wir wurden als Kunden abgelehnt, weil keinerlei Beratung erwünscht ist. Nur Verkauf. Dazu extrem unfreundlich. Ein Wunder, wie sich so ein Laden hält.“ - „Super Fachgespräche und gute Auswahl. Ich habe meinen Händler des Vertrauens gefunden.“ - „Extrem unfreundlich und unprofessionell. Es gibt so viele andere Adressen, wo man das gleiche kaufen kann und besser beraten wird. Nie wieder!“ - „Mit Sicherheit ist das die Adresse in Berlin. Ja, der Laden scheint in der Zeit stehen geblieben zu sein und der Eigentümer ist gewöhnungsbedürftig. Wenn man sich aber darauf einlässt und ausreichend Zeit mitbringt, bekommt man viele, viele Tipps. Neben den bekannten Bootsbau-Marken bekommt man hier alternative Produkte, die erheblich günstiger sind. Der Beste überhaupt.“
Eine gewisse Kantigkeit muss Hans-Georg Westphal an den Tag gelegt haben. Wie er da sitzt, auf Fotos hinter der Verkaufstheke, hinter sich Regale mit Dosen und Flaschen, rechts und links Rollen mit Glasfaserfolie, Eimer auf dem Boden, gefüllt mit verschiedenen Kunststoffen, die Bootsbauer und Künstler brauchen. Sein Gesicht, fein gezeichnet, der Mund schmal, oft mit Zigarette, der Blick hinter der randlosen Brille mit bernhardschem Spott.
Er unterschied zwischen den Kunden mit den dummen und jenen mit den klugen Fragen. Die einen schmiss er raus: „Gehen Sie in einen Baumarkt!“ Mit den anderen führte er lange Fachgespräche. Zu den dummen Fragen zählte er solche, die man sich mit dem geringsten Aufwand an Verstandesleistung selbst beantworten konnte. Die klugen Fragen bildeten den Prozess des Nachdenkens ab. Ein Bildhauer etwa, der seine Skulpturen nicht aus Stein haut, wollte wissen, wie man einen bestimmten Kunststoff einfärbt, welche Pigmente in Kombination mit welchem Material lichtbeständig seien. Ein anderer wollte für ein Museum eine Plastik fertigen, die vom Publikum angefasst werden sollte. Woraus sollte sie bestehen? Dann legte Hans-Georg Westphal los, unterbreitete Vorschläge, überlegte neu. Ein Dialog entstand, ein Hin und Her des Wissens, ein Wissenszuwachs auf beiden Seiten, ein Gespräch weit über das zu verkaufende Produkt hinaus.
Eigentlich hatte Hans-Georg Westphal nicht das Geringste mit Kunst zu tun. Er war Händler, ursprünglich Volkswirtschaftsstudent. Während des Studiums entstand gemeinsam mit zwei Freunden diese Küchentischidee: Wir machen erst mal einen Laden auf und verkaufen dann das, was der erste Kunde verlangt. Der erste wollte Glühbirnen und Schrauben. Das Sortiment erweiterte sich, die beiden Freunde stiegen aus. Hans-Georg Westphal begann, mit Werkstoffen zu experimentieren, beschichtete Schwimmbecken, stellte fest, dass es kompliziert war, in Berlin die Werkstoffe zu finden, der Laden kam ins Laufen.
Und der Ladeninhaber entwickelte ein Verständnis für die Materialtüfteleien der Künstler im Besonderen und ein Kunstverständnis im Allgemeinen. „Glas, Faser, Kunststoff ist bei Weitem nicht alles, was er vertreibt. Lebensphilosophie, Tagesphilosophie und Gesellschaftskritik, und davon nicht zu wenig!“
Er wurde eingeladen. Duane Hanson zum Beispiel, einer der einflussreichsten amerikanischen Bildhauer, der lebensgroße Menschenfiguren aus Glasfaser und Polyester schuf, ihnen Perücken aufsetzte, sie anzog und Gegenstände in die Hände drückte, sodass Museumsbesucher, wenn sie ihnen versehentlich zu nahe kommen, höflich „Entschuldigung“ sagen. Duane Hanson kaufte bei Hans-Georg Westphal ein und sagte eines Tages: „Ich gebe eine Party, kommen Sie doch auch.“ Gut, er machte sich auf den Weg. Blieb am Eingang des Partyraumes stehen: buntes, zuckendes Licht, laute, wilde Musik, Menschen, dicht an dicht. Kein Einziger tanzte. Er wagte einige Schritte in die Menge, und erst in diesem Moment verstand er: Er war der einzige Gast. Duane Hanson hatte seine ganz und gar lebendig wirkenden, leblosen Gestalten aufgebaut.
Fünf Jahrzehnte lief der Laden. Drei Monate vor seinem Tod saß Hans- Georg Westphal noch darin, Zigarette zwischen den Lippen - „Nichtrauchen verboten!“ -, spöttischer Blick durch die randlose Brille, alterslos. Zwei Wochen vor seinem Tod saß er noch dort, doch jetzt sah man ihm an, dass etwas nicht stimmte. Als seine Tochter den Laden auflöste, kamen noch einmal die Stammkunden vorbei, ausschließlich Männer. Sie standen im Geschäft und weinten. Tatjana Wulfert
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Foto: Walter Sommer