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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Christoph André (* am 24. August 1963)

Er musste sich ein Buch nur an den Kopf halten und wusste, was drin steht, so beschrieb es mal seine Frau. Als gierte der Mann, der sich gern mit seinem Doktortitel anreden ließ, unaufhörlich nach Worten und Wissen. Nach irgendwas, das sein Gehirn verarbeiten und lernen konnte. Am liebsten kompliziert!
Das Monumentalwerk „Zettels Traum“ von Arno Schmidt war ein Sinnbild dafür. Wer begreift so was Sperriges? Nennt es Vergnügen? Lag Christoph André nicht im Hemd auf dem Sofa und las, brachte er sich bei, wie man Software programmiert, Gitarre spielt oder Klavier. Sein Können zeigte er hin und wieder der Familie, auch mal auf der Bühne, aber einen Lebemann machte die Musik nicht aus ihm. Kein einziges Mal in seinem Leben war er betrunken. Kontrollverlust war ihm zuwider. Wozu in der lauten Kneipe sitzen, wenn man im Stillen denken kann?
Nur er durfte als Kind zum strengen Opa, weil er so brav war. Auch seiner Schwester war er von den drei Brüdern der liebste. Sperrten die anderen beiden sie aus Spaß ein, war Christoph ihr Befreier. Jahre später holte er sie von Partys ab und fuhr ganz behutsam in die Kurven, damit ihr nicht übel wurde.
Und dann dieser Urlaub auf Korsika! Seine Mutter verstand es erst nicht. Wieso ist Christophs Koffer so schwer? Sie blickte hinein. Zwischen ein paar Unterhosen lagen Bücher, nichts als Bücher. Während alle anderen barfuß in der Sonne lagen, saß der Teenager auf dem Bett und verlor sich in Geschichten. Die Jalousien hatte er runtergelassen, damit die Welt draußen nicht so stört. Wer hätte damals gedacht, dass es in seinem Leben eine noch größere Liebe geben würde?
Gina war Floristin. Sie kannten sich, weil er nach der Schule hin und wieder im Geschäft seiner Eltern aushalf, das Floristikbedarf verkaufte, und so belieferte er auch Gina. Erst mochten sie sich nicht. Er fand sie zickig. Sie dachte, er sei ein verwöhnter Unternehmersohn. Irgendwann lud sie ihn trotzdem zu ihrem Geburtstag ein
Er war der Intellektuelle, sie die Praktische. Wo er gerne schwieg, sprach sie umso lieber. Sie kaufte gerne ein. Er musste dazu überredet werden. Klar blieb es da nicht aus, dass auch mal ein Streit aufkam. 1987 bekamen sie Janina, später, nach der Hochzeit, einen Jungen. Hatte Janina mit ihrer Mutter mal Streit, sagte Christoph: „Deine Mutter ist eine ganz, ganz tolle Frau!“ Wie sich ihre Eltern ansahen. Wie Christoph seine Gina vergötterte. Der Tochter war immer klar: Papa hat mich sehr lieb. Aber sie noch einen Tacken mehr.
Wird die Rente reichen? Manchmal war ihr Vater besorgt. Er lebte sparsam, doch die Gedanken verschwanden nie ganz. Christoph hatte Biochemie studiert, bekam nur Einsen, promovierte. Nach ein paar Jahren an der Uni führte ihn der Zufall aber doch zum Lehrerberuf. Eine Freundin fragte, ob er ihrer Schwester Nachhilfe geben könnte. Und weil ihm das Erklären so leichtfiel, brachte er immer mehr Menschen Mathe bei, Physik und Chemie, Französisch und Latein. Manchen half er nach der Schule noch eben durchs Studium.
Nebenbei arbeitete Christoph freiberuflich bei einer Firma, die Messgeräte für Labore herstellte, programmierte Maschinen. Als er das Angebot für eine feste Stelle bekam, zögerte er erst. Es wäre weniger Geld, aber der Sicherheitsgedanke wog schwerer. Zehn Jahre ein fester Vertrag. Das tat seinem sensiblen Gemüt gut.
Dann brach das Jahr 2019 an. Seine Beine schmerzten zuerst. Christoph bekam Fieber, schwitzte stark, verlor 25 Kilo Gewicht, schaffte es nur noch kriechend ins Bad. So elend war es ihm noch nie gegangen. Zweimal nahm man ihn im Krankenhaus nicht ernst. Grippezeit. Er solle mal richtig gut essen und trinken! Gina schimpfte: Dem rutscht gleich die Hose vom Hintern! Die hat vor Kurzem noch gepasst! Sie nahmen ihm Blut ab, und von da an ging alles schnell.
Acht Tage nach der ersten Fahrt zur Notaufnahme wusste Christoph: Es hat das Non-Hodgkin-Lymphom, eine bösartige Erkrankung des Lymphgewebes. Und er tat etwas Unerhörtes: Er las nichts darüber.
Ach, wären sie damals doch nach Grönland gefahren. Kein ganzes Jahr blieb ihm. Die Krankheit ließ ihm diesen einen Sommer, ein paar Wochen zu Hause, bevor sie neu ausbrach, unerbittlicher als zuvor. Das Lymphom wucherte in seinem Blut, Knochenmark, im Gehirn.
Nach und nach verließ ihn der Verstand.
Sag mal, hast du hier auch mal was Sinnvolles gemacht?, fragte er Janina im Krankenhaus. Hast du mal Drachen steigen lassen? Wieso bekommt sie hier kein Bett? Wo schläft sie überhaupt? Die wirren Momente wurden mit den Monaten mehr. Manchmal musste die Tochter über seine Unsinnssätze laut lachen. Dann weinte sie. Er verstand nicht, warum.
Im November wusste Christoph nicht mehr, in welchem Land er lebt. Auch nicht, in welchem Zimmer. Er sei zu Hause, meinte er im Hospiz. Gina, seine Frau, sah er noch immer mit diesem Lächeln an. Er krallte sich ans Bett, als wollte er nicht gehen.
Mitte Dezember wurde Christoph mit seiner grauen Mütze beerdigt. Vor der Krankheit hatte er sie schon beim leisesten Luftzug getragen, um den Kopf zu schützen. Während der Chemotherapie nahm er sie kaum noch ab.
Über ihm erinnert eine Stele mit Büchern an sein Wesen.
Er war so klug, so fürsorglich, erzählten sie sich auf der Beerdigung. Und Janina erfuhr, dass ihr Vater Kurzgeschichten geschrieben hatte. Eine handelt von einem Mann, der im Sterben liegt und nur noch einen Wunsch hat. Noch einmal „Zettels Traum“ lesen. Marie Rövekamp