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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Elke Jürgens (* am 11. September 1938)

„Nein, am Apparat ist nicht Herr Jürgens, der hat eine hellere Stimme.“ Anrufer mag sie hin und wieder verstört haben. Als Lehrerin war ihre markante Stimme nützlich; es fiel ihr leicht, sich Gehör zu verschaffen. Doch es genügt nicht, gut vernehmbar sprechen zu können, es bedarf auch des Mutes, sich zu Wort zu melden. Das musste Elke lernen.
Sie wurde 1938 in Kiel in den Erfolgstaumel der Nazis hineingeboren. Beide Eltern schwärmten für den Führer, der Vater zog siegesgewiss in den Krieg, war SS-Sturmbannführer an vielen Fronten. Auch an Orten, deren Namen wegen grausamer Kriegsverbrechen Bekanntheit erlangten. Vor Moskau ist er gefallen. Für seine Frau blieb er ein Held, ein sanfter, mitfühlender Mensch, zu Grausamkeiten gar nicht fähig. Mit den Verbrechen der Nazis hatten die beiden nichts zu tun; und ob das alles überhaupt stimmte, was die Siegermächte so behaupteten - Elkes Mutter wollte es nicht glauben.
Auch wenn es alles andere als angenehm war, machte Elke es sich zur Lebensaufgabe, ihre Wurzeln zu ergründen. Bis in die Lutherzeit verfolgte sie den Familienstammbaum zurück. Viele Pastoren fand sie darin. Warum waren ihre Eltern angesichts ihres protestantischen Erbes so anfällig für Nationalismus und Rassismus? Wie war es möglich, dass sie sich so verblenden ließen? Auf ihrem Geburtsschein bezeichneten sich die Eltern als „deutschgläubig“, was auch immer das bedeuten sollte. Elke wurde Religionslehrerin und verband in ihrem Unterricht die Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte mit Einsichten aus der Befreiungstheologie und der sich gerade neu entwickelnden feministischen Theologie. Sie begriff Dinge, sie zog die Konsequenzen, und sie wollte anderen beim Begreifen helfen.
Ihre Kindheit und Jugend hatte Elke in Niedersachsen verbracht, in der tiefsten Provinz mit all ihren Schrecknissen. Als sie mit 17 schwanger wurde, war das eine Katastrophe und gehörte versteckt. Erst einmal wurde sie in ein Heim für gefallene Mädchen abgeschoben und war schwer verstört. Prostituierte, Missbrauchsopfer, Alkoholabhängige, eine Welt, die sie nicht kannte, und in der sie sich nicht zurechtfand. Ihr Großvater half ihr heraus. Schließlich durfte sie sogar Willi, den Vater des Kindes, heiraten. Selbst noch mit 20 benötigten sie die elterliche Erlaubnis zur Ehe. Es blieb schwierig: Die beiden befanden sich noch in der Ausbildung, als sie mit dem Kleinkind einen Haushalt gründeten, und das alles in den engen Grenzen der 50er-Jahre-Kleinstadt. 1967 zogen sie nach Berlin um, eine Befreiung! „Als ich da ankam“, erinnerte sich Elke später, „war ich doppelt so alt wie heute, im Kopf sowieso aber selbst in meiner Kleidung.“
Den Aufbruch der Achtundsechziger verfolgte sie zwar eher vom Straßenrand aus, aber letztlich half er ihr bei ihrer ganz persönlichen Befreiung. Willi genoss das Kulturangebot und die Freiheit der Großstadt und machte Karriere. Sie absolvierte die Ausbildung zur Religionslehrerin und begann, sich für die „Dritte Welt“ zu engagieren, wie es damals noch hieß. Beide entwickelten sich - wenn auch in verschiedene Richtungen. Anfang der 80er Jahre einigten sie sich auf die Scheidung.
Eine Reise ihrer Tochter nach Tansania und die Bekanntschaft mit Uli Sonn, einem Nestor der Weltladenbewegung, wurden wichtig für Elkes zweite Lebenshälfte. Sie engagierte sich zuerst in einem Weltladen in Steglitz und dann einige Jahre im Weltladen an der Gedächtniskirche. Als es ihr dort zu kommerziell wurde, zog sie nach Kreuzberg in die Emmauskirche. Dort verkaufte sie nicht nur die fair gehandelten Produkte, sondern sie informierte auch über Produktion und Warenströme. Und sie engagierte sich in der Obdachlosenarbeit.
Unten ansetzen, nicht abheben, das war ihr Motto. Als die vielen Geflüchteten nach Berlin kamen, und die Behörden heillos überfordert waren, gab sie auf eigene Initiative Deutschkurse für Frauen. Dann kamen die staatlichen Programme, und Elke begann Eyad zu begleiten, einen Flüchtling aus Syrien. Er wuchs ihr immer mehr ans Herz und wurde bald zu einem Teil der Familie.
Ihren Geburtstag am 11. September assoziierte sie nicht erst seit 2001 mit einem schlimmen Weltereignis. Am 11. September 1973 war Salvador Allende unter Mitwirkung der CIA ermordet worden. Seither gab es neben dem Glas Schnaps auf Elke zu ihrem Geburtstag immer auch einen Toast auf Allende, den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten von Chile.
Zur großen Feier ihres 80. Geburtstags gab es manch kluge Anmerkung darüber, wie sich Elke Jürgens zeitlebens gegen die dunklen Bewegungen des Weltgeschehens entgegenzustellen suchte. Und trotz ihres stolzen Alters lag eine gewisse Aufbruchstimmung über dieser Feier. Sie war ja noch so kraftvoll, kein Grund also, schon über das Ende nachzusinnen. Wenige Monate später kam die Krebsdiagnose. Ihr Entschluss: Leben, so lange und so intensiv wie möglich, ohne Therapie, die das Leben etwas verlängern, aber die Lebensqualität rauben würde. So starb sie im Hospiz, umsorgt von Freunden und Familie. Jörg Machel