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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Shahrouz Rashid (* am 30. April 1960)

Natürlich war die Revolution eine ernste Sache, der Schah musste weg, die Arbeiter des Iran mussten befreit, die religiösen Eiferer besänftigt werden, Debatten über den richtigen Weg zum Kommunismus waren zu führen. Aber ein bisschen Freizeit gab es zwischendrin schon auch noch. Da konnte man Fußball spielen, in den Bergen wandern, Beschäftigungen, die immerhin auch den Körper für die kommenden Kämpfe stählten. Shahrouz war aber nie dabei. Während die Genossen kickten und kraxelten, hockte er zu Hause und las, und zwar nicht nur die kommunistischen Klassiker, sondern auch die schöne persische Literatur der vergangenen Jahrhunderte.
Er war Mitglied der marxistisch-leninistischen Umstürzlergruppe namens „Rahe Kargar“, „Weg der Arbeiter“, wenn auch alles andere als ein Mitglied der Arbeiterklasse (in ihrer Arbeiterferne unterschieden sich die iranischen K-Gruppen kein bisschen von jenen im fernen Westen). Die Revolution war für ihn aber keineswegs ein physischer, gewaltsamer Akt. Shahrouz mit einer Kalaschnikow in der Hand einen Palast stürmend? Schwer vorstellbar. Er war der Mann des Wortes, schon immer. Die revolutionären Schriften verschlang er allein schon wegen ihrer revolutionären Sprache.
In konspirativen Treffen, in denen es eigentlich um Abstimmungen der Untergrundaktivität gehen sollte, konnte es vorkommen, dass Shahrouz, vorausgesetzt sein Gegenüber war halbwegs belesen, diese in eine literarische Erörterung einbezog. Wer die Welt verändern will, sollte die Welt und ihre schönsten Beschreibungen erst mal zur Kenntnis nehmen.
Dabei war sein Hintergrund eher bildungsfern. Die Eltern waren Nomaden und lebten von der Viehzucht. Sie mussten nicht lesen und schreiben. Dass sie ihren ältesten Sohn in die Schule schickten, muss man ihnen hoch anrechnen. Einerseits. Andererseits bedeutete es, dass sie ihn, als er gerade sechs war, weggaben. Denn wo sie ihre Zelte aufschlugen, gab es keine Schule. Shahrouz kam zu einem Onkel in ein Dorf. Da fühlte er sich fremd, und so geschah es, dass die Bücher und die Sprache, in der sie geschrieben waren, seine neue Heimat wurden. In seiner Gegend, dem Nordwesten des Iran, sprach man Aserbaidschanisch. Die Sprache des Landes, der Schule und der Bücher aber war Persisch. Das war die erste Fremdsprache, die er zu lernen hatte. Im Gegensatz zur zweiten wuchs sie ihm ans Herz.
Mit elf kam Shahrouz in die nächste große Stadt ans Gymnasium. Auch da war er ein Einzelgänger. Er las und las und schrieb seine ersten Gedichte. Ein Stubenhocker, dem die Abenteuer, denen er in seiner Stube beiwohnte, weitaus abenteuerlicher erschienen als alles, was vor seiner Tür geschah.
Bis da draußen die Revolution ausbrach und selbst er einsehen musste, dass es sich lohnte hinauszutreten. Shahrouz war in der zwölften Klasse, als er beim „Weg der Arbeiter“ anheuerte. Für eine Prüfung war jetzt keine Zeit mehr. Und auch wenn er sich mehr für die Texte des Umsturzes als für die Praxis zu interessieren schien, begab er sich in große Gefahr. Nach dem Sturz des Schahs erkannten die linken, atheistischen Revolutionäre schnell, dass ihre Hoffnungen trogen. Es gab entschieden mehr Moscheen im Land als kommunistische Debattierzirkel. Nicht die Arbeiter oder ihre intellektuellen Vordenker kamen ans Ruder, sondern die Mullahs. Die machten keine halben Sachen. Wer nach der schiitischen Machtübernahme noch an einem weiteren Systemwechsel arbeitete, lebte gefährlich. Gegner des Regimes wurden verhaftet, ihre Häuser angezündet, Tausende wurden hingerichtet.
Vier Jahre konnte Shahrouz noch im Land bleiben. Er lebte in der Illegalität und hielt sich mit Fabrikjobs über Wasser. 1983 wurde es zu gefährlich. Das Geld für den Schlepper bekam er von seiner Familie, die er lange Jahre nicht wiedersehen sollte. Über die Türkei, wo er 40 Tage im Knast saß, und den DDR-Flughafen Berlin-Schönefeld gelangte er in den Westen.
So allein wie hier war er noch nie. Die Iraner, die er traf, kannte er nicht von früher, und mit Deutschen in Kontakt zu kommen, fiel ihm schwer. Deren Sprache, seine zweite Fremdsprache, lernte er schnell zu lesen. Mit dem Sprechen tat er sich schwerer. Zum Glück traf er Azar, Iranerin, textverliebt und schreibend wie er. Sie war mit einem Großteil ihrer Familie geflohen, Verwandte von ihr leben in Frankreich, Schweden und Amerika. Ihre Familie wurde auch seine.
Eine neue Heimat hat Shahrouz Rashid nicht mehr gefunden. Umso wichtiger blieb ihm die alte, vertraute, die Literatur. Er dichtete weiter seine Gedichte, melancholisch, schwermütig und bildreich, er übersetzte einige Bücher ins Persische. Aber abgesehen vom emigrantischen Pass wurde aus dem aserbaidschanischen Perser nie ein Deutscher. Auch nicht, als er nach Jahren die Hoffnung verlor, in den Iran zurückkehren zu können. Andere Exilanten wagten es irgendwann, Visa zu beantragen, um ihre Familien zu besuchen. Shahrouz tat das nicht. Er schrieb und veröffentlichte ohne Maulkorb - würden sie ihn ein- und wieder ausreisen lassen? Er traf seine Geschwister und seinen Vater einmal in Baku, Aserbaidschan. Und erfuhr dort, dass seine Mutter vor Kurzem gestorben war.
Und wovon lebte er in Deutschland? Selbst einfache Jobs waren nicht leicht zu finden. Shahrouz arbeitete in Restaurantküchen, er lernte, wie man Internetseiten gestaltet und verdiente damit ein kleines Geld, er lebte von der Unterstützung, die der Staat ihm gewährte. Er brachte anderen Persisch bei und kreatives Schreiben, doch für die Kurse nahm er so wenig Geld, dass es für nicht viel mehr als die Raummiete reichte.
Mit seiner Poesie galt er in der kleinen belesenen iranischen Gemeinschaft als ein Großer. Er hielt Vorträge, las die Gedichte vor, tat das auch in Schweden und in den USA. Doch damit war kein Geld zu verdienen; wenn kaum ein deutscher Dichter von seiner Dichtkunst leben kann, wie soll es ein emigrierter Iraner?
Shahrouz kleidete sich bunt. Freunde beschreiben ihn als zufriedenen Menschen. Ein Dichter, der Tee und Zigaretten braucht und in seiner Sprache lebt, wie viele oder wie wenige da draußen sie auch immer verstehen mögen. Von seinen Gedichten gibt es leider keine guten Übersetzungen. Das, was es gibt, klingt traurig. David Ensikat