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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Mit 15 geht er in den Osten. Er soll nachsehen, was der große Bruder tut

Nachruf auf Wolfgang Müller (Geb. 1941)
Am 16. Januar 1996 fand ein großes Begräbnis statt, ein Staatsakt beinahe. Zur Trauerfeier im Berliner Ensemble waren Hunderte erschienen, wer in der deutschen Literatur und im Theater einen Namen hatte, war da, im Hof des Theaters standen die schwarzen Autos der Politiker. Die Trauernden begaben sich im langen Zug zum Dorotheenstädtischen Friedhof, der Sarg wurde zu Grabe gelassen, man defilierte, man verneigte sich, warf Blumen. Wolfgang Müller stand eineinhalb Stunden in der Schlange, bis er seine dazulegen konnte. Vom Sarg war längst nichts mehr zu sehen. Der Mann, der da unten lag, war für keinen so wichtig gewesen wie für ihn. Aber hätte er sich nach vorne drängen sollen? Er war keiner, der sich nach vorne drängte, war das nie gewesen.

Als Wolfgang vier ist, kommt sein Vater aus dem Krieg. Wolfgang sieht nicht ein, dass das sein Vater sein soll. Er hält sich an der Hand seines großen Bruders Reimund fest. Reimund, der mit zweitem Namen Heiner heißt, zwölf Jahre älter ist, der alles weiß und alles kann – ist das denn nicht sein Vater? Reimund bringt ihm das Lesen und das Schreiben bei.

Als Wolfgang zehn ist, zieht die Familie in den Westen. Der Vater, Sozialdemokrat, muss vor den Kommunisten fliehen. Reimund bleibt im Osten, nennt sich nun Heiner und wird Schriftsteller. Die folgenden Jahre sind für Wolfgang keine leichten. Im schwäbisch engen Reutlingen ist er ein Flüchtlingskind, in der Schule setzt es Schläge, wenn er mit links schreibt.

Als er 15 ist, schicken seine Eltern ihn hinüber in den Osten. Wolfgang soll herausfinden, wie es seinem großen Bruder geht. Man hat gehört, dass er ein prekäres Künstlerleben führen und eine dubiose Frau geheiratet haben soll, Inge Schwenkner, inzwischen Müller, auch Schriftstellerin und vier Jahre älter als Heiner. Wolfgang fährt – und ist beeindruckt: Was für eine andere, freie, weite Welt, sein Bruder: ein Mann, der raucht und trinkt und über die großen Themen spricht, dann diese Frau, so schön, so erwachsen und so frei. Sie nimmt sich, was sie will. Sie will Wolfgang.

Nach einigen weiteren Besuchen weiß auch Wolfgang, was er will: Hier bleiben, bei dieser Frau, bei seinem Bruder. Der Junge aus dem Westen kann sein Abitur im Osten nicht zu Ende machen – wozu auch, das wahre, wilde Leben fragt nicht nach Abschlüssen. Wenn auch über die Wahrheit der Beziehung zwischen ihm und seines Bruders Frau kein Wort gewechselt wird, jedenfalls nicht zwischen ihm und seinem Bruder. Wolfgang beginnt eine Ausbildung zum Rinderzüchter.

Es sind die Jahre, in denen immer mehr Menschen den umgekehrten Weg gehen, fort aus dem Osten. So viele sind es, dass die DDR die Mauer baut. Jetzt sitzt auch Wolfgang fest. Und hegt Fluchtgedanken: Die Dreiecksbeziehung ist anstrengend, Inge Müller psychisch labil. Aber nicht in den Westen flieht er, sondern aufs Wasser. Er wird Heizer und dann Maschinist auf einem Dampfschiff. Er fährt drei Jahre lang die Oder hoch und runter.

Als Teil der „herrschenden Klasse“ hat er Zugang zu rationierten Lebensmitteln, während Heiner und Inge Müller ein karges Leben führen. Der kleine Bruder unterstützt die beiden. Im Juni 1966 nimmt sich Inge Müller das Leben, die Beziehung zwischen Wolfgang und Heiner liegt brach.

Als Wolfgang genug hat von der Schifferei, wird er Kesselwart im Gaswerk an der Dimitroffstraße, Prenzlauer Berg. Bei einem Unfall trägt er eine Kopfverletzung davon, und auch sonst missfällt ihm das proletarische Leben immer mehr, das frühe Aufstehen, die Anstrengung, die Müdigkeit am Abend. Wie Künstler leben, weiß er ja, viel angenehmer jedenfalls. Also wird er selber Künstler, legt jedoch Wert darauf, einer aus dem Volk zu sein, keiner von den Klugschwätzern. Er ist ein talentierter Geschichtenerzähler; doch anders als sein Bruder bedient er sich nicht in der Weltgeschichte. 1974 erscheint sein Buch „Flussgeschichten“, in dem er seine Erlebnisse auf dem Oderkahn verarbeitet.

In dieser Zeit lernt er auch Katja Lange kennen, die ungehorsame Tochter von Inge Lange, Mitglied des Politbüros der SED. Sie heiraten, Katja nennt sich nun Lange-Müller. Ihr prominenter Hintergrund sichert dem Paar die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit. Denn es herrscht Aufregung in ihren Kreisen, besonders seit dem November 1976, als Wolf Biermann ausgebürgert wird. Unterschriftenlisten machen die Runde, Petitionen gegen die Willkür. Wolfgang neigt ohnehin zu cholerischen Reaktionen, der Untertanengeist sitzt ihm nicht so tief im Blut wie denen, die im Osten aufgewachsen sind. Er läuft Gefahr, weggesperrt zu werden. Dem Stasi-Knast zieht er die Nervenheilanstalt vor. Mit Hilfe eines alten Schulfreundes von Heiner, der Psychiater ist, lässt er sich für ein paar Wochen einweisen.

Neben den politischen Kalamitäten regt ihn noch etwas ziemlich auf. Das Verhältnis zwischen seiner Frau und seinem Bruder erscheint ihm viel zu gut. Heiner interessiert sich sehr für Katja und auch für ihre Schreibversuche. Für den kleinen Bruder interessiert er sich nicht, auch nicht für das, was der geschrieben hat. Nach ein paar Jahren lassen sich Wolfgang und Katja scheiden.

Sie geht 1984 in den Westen – ein Schritt, der für Wolfgang kaum infrage kommt. Das Leben drüben wäre bestimmt nicht so bequem wie das im Osten. Er hat ein Talent, sich mit geringem Aufwand über Wasser zu halten. Später wird er sagen, dass er ein „Gebrauchsschreiber“ gewesen sei, der nur geschrieben habe, wenn es an Geld mangelte. Was pragmatisch klingt, entspringt vielleicht auch einer Resignation im Angesicht dessen, was der große Bruder tut und gilt. Es ist ja klar, dass er immerzu an dem gemessen wird. Es gibt diese Geschichte, da sitzt Wolfgang in einer Theaterkantine, ein Schauspieler kommt rein, sieht ihn und sagt das Schlimmste überhaupt: „Man muss auch noch was anderes tun, als nur Heiner Müllers Bruder sein.“ Wolfgang gerät außer sich.

Aus dem Schatten seines Bruders tritt er nicht. Er schreibt hin und wieder etwas fürs Fernsehen, macht viele Pläne, setzt wenige um. Hilfreich ist das Westgeld der Mutter.

Das Durchwursteln wird schwieriger, als es die DDR nicht mehr gibt. Ein Immobiliengeschäft geht schief, Wolfgang macht Schulden, Heiner hilft aus. Der Kontakt zwischen den Brüdern ist sporadisch. Im Juli 1995 besucht Wolfgang Heiner in dessen Kreuzberger Wohnung, Heiner muss dann zum Theater, Wolfgang fährt ihn hin. An einer roten Ampel stehen sie lange und sagen nichts, dann ringt sich Wolfgang durch, Heiner nach seiner Krebserkrankung zu fragen. Heiner sagt: „So selten wie wir uns sehen, könnte es jetzt das letzte Mal sein.“ Darauf Wolfgang: „Mir wär’s lieber, wenn du noch ein bisschen bleiben könntest. Aber wenn’s so ist, können wir nichts machen.“ Sie umarmen sich, dann wird es grün. Ein halbes Jahr später stirbt Heiner Müller. Wolfgang steht auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof vor einem Berg von Blumen.

Der große Bruder ist gestorben, tot ist er noch lange nicht. Viele Monate verbringt Wolfgang mit den Recherchen für ein Radiofeature über das frühe Leben seines Bruders, solange der noch Reimund hieß und zur Familie gehörte. Die letzten Sätze des Features spricht Wolfgang selbst. Es klingt wie eine Beschwörung. „Ich finde, einem jeden steht das Recht zu, wenn er gestorben ist, auch wirklich tot zu sein und damit unangreifbar. Heiner wollte in New York oder in den Slums von Sao Paulo von einer Müllkippe begraben sein. Wir haben ihn in ein offizielles Ehrengrab in Preußen gelegt. So wie ich Heiner, meinen großen Bruder, kannte, glaube ich nicht, dass er dort liegen bleiben wird. Nur das Gras des Vergessens, das jetzt schon auf ihm wächst, würde ihm gefallen.“

Seit 2002 lebt Wolfgang Müller in Strohkirchen, einem Dorf im Niemandsland, irgendwo zwischen Hamburg und Berlin. Für sich und seine Frau hat er ein Gehöft ausgebaut. Er beschäftigt sich mit der Tomatenzucht und mit der Herstellung von Apfelsaft. In der ehemaligen Dorfkneipe betreibt er eine Bibliothek und im Herbst eine Pilzberatung. Er versteht sich gut mit den Leuten hier, wenn sein Nachbar ein Wildschwein schlachtet, ist er gern dabei.

2010 entsteht ein kurzer Film über ihn, „Der unbekannte Bruder“. Wolfgang Müller macht darin einen zufriedenen Eindruck, ein etwas grummeliger Mann von 69 Jahren, der von sich sagt, dass er längst nicht mehr so aufbrausend sei wie früher, und dann noch das: „Im Großen und Ganzen bin ich einigermaßen sauber durchs Leben gekommen. Du bist nicht zum Schwein geworden, nicht zu einem, der sein Hemd nach den jeweiligen Winden hängt. Du bist allerdings auch keine große Nummer geworden, kein großes Licht. Aber das stört mich auch nicht.“ David Ensikat