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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Er wurde in die neue Sprache, Deutsch, hineingezwungen

Nachruf auf Hans Kretschmer. (Geb. 1949)
Er war drei, als er von Bremerhaven mit dem Schiff in Richtung Kanada aufbrach. Seine Eltern wollten ihr Glück dort suchen. Der Vater fand Arbeit in einer Goldmine und verdiente gut. Hans eroberte die neue Welt gemeinsam mit seinem zwei Jahre älteren Bruder. Da war ein gewisser Stress vorprogrammiert. Zwischen den großen Freunden seines Bruders musste Hans sich viel getrauen, durfte nicht jammern, musste mithalten. So landete er beim Mutsprung über einen Bach im Wasser und in einer großen Scherbe. Ein glücklicher Zufall fügte es, dass ein Spezialist für Handchirurgie Notdienst im Krankenhaus hatte und die schon verloren geglaubte Hand zusammenflicken konnte. Nach einigen weiteren Operationen war sie so intakt, dass Hans sogar wieder zeichnen konnte. Eine kleine Begebenheit, aber doch mehr als nur eine Anekdote: Hans hat sich etwas getraut in seinem Leben. Herausforderungen hat er nicht unbedingt gesucht, doch wenn sie ihm begegneten, hat er sie auch nicht gescheut.
Im Sommer sammelten die Jungen glitzerndes Gestein aus den Bächen in der Annahme, es sei Gold, so wie es der Vater in der Mine schürfte. Als sie ihren Fund in Dollar eintauschen wollten, ernteten sie freundliches Gelächter. Es war Katzengold, Pyrit, ein glänzendes wertloses Mineral, aber der kurze Traum vom großen Reichtum war grandios.
Im Winter bauten sich die Kinder Tunnel durch meterdicke Schneeberge und fühlten sich wie Forscher in der Arktis. Hans ist am Rand der Wildnis aufgewachsen, das Leben in der Natur war ein großes Abenteuer: seine goldenen Jahre.
Umso schlimmer muss es für ihn gewesen sein, als der Vater entschied, in die alte Heimat zurückzukehren. Hans war zwölf, seine Heimat Kanada, seine Sprache Englisch, ein wenig Französisch. Sein großer Bruder bekam in Deutschland immerhin einen Lehrer, der mit ihm sensibel umging, Hans hatte dieses Glück nicht. Er wurde in die neue Sprache hineingezwungen. Er litt, aber kaputtmachen ließ er sich nicht.
Womöglich wurde so sein Widerstandsgeist angestachelt. Er war derjenige unter den drei Geschwistern, der den 68er-Aufstand an den Familientisch brachte und manchen Kampf mit dem Vater ausfocht. Die Kleidung, die Haare, die Berufswahl; es gab wenig, worüber sie nicht stritten. Manches hat sich aufgelöst, ein Vorwurf blieb: Mit welchem Recht hatte der Vater über die Köpfe aller hinweg entschieden, wo sie leben mussten? Doch so dramatisch die Entscheidung für die Kinder war, als Erwachsene wussten sie die Bildungschancen zu schätzen, die sie in Kanada kaum gehabt hätten.
Mit 17 Jahren schon begann Hans mit dem Aikido. Wahrscheinlich eine seelenrettende Entscheidung. Er fand einen Lehrer, der ihn nicht nur sportlich förderte, sondern ihn auch in der Betrachtung der Welt prägte. Im Laufe von fünf Jahrzehnten wurde Hans selbst vom Schüler zum geschätzten Lehrer. Kurz vor seinem Tod wurde ihm noch der sechste Dan verliehen, so heißen im Aikido die Meistergrade. Die Urkunde konnte er nicht mehr in Empfang nehmen, sie lag bei der Trauerfeier neben seiner Urne.
Aikido wird zwar als Kampfsport bezeichnet, eigentlich handelt es sich aber um eine defensive Abwehrtechnik. Ziel ist es, einen Angriff abzuwehren, indem man die Angriffskraft umlenkt. Auf einen Gegenangriff wird bewusst verzichtet. Es geht um Selbstdisziplin, Durchhaltevermögen und Respekt vor dem Gegenüber. Eigenschaften, die das Weltbild von Hans Kretschmer auch jenseits des Sports bestimmten. Sein Anspruch an sich selbst war hoch. Manche beklagen allerdings, dass er auch in normalen Auseinandersetzungen schwer zu fassen war. Wer jedem Anwurf auszuweichen versteht, lässt das Gegenüber hilflos, manchmal sogar wütend zurück. Am Ende einer Auseinandersetzung mit ihm standen nicht Sieg oder Niederlage, sondern Ermattung.
Eine gewisse Zurückhaltung und eine gesunde Selbsteinschätzung, ohne die man beim Aikido scheitern würde, haben Hans auch im beruflichen Leben ausgezeichnet. Vom Technischen Zeichner hat er sich auf dem zweiten Bildungsweg bis zum Doktor der Physik hochgearbeitet. Dass er nicht zum genialen Physiker taugte, war ihm klar. Er war eher ein Mann der Praxis und des Austauschs. Bei Siemens baute er gemeinsam mit anderen das Labor für Reinraumtechnik auf, er liebte die Zusammenarbeit mit Chemikern, Maschinenbauern und Elektrotechnikern.
Fast wäre noch viel mehr aus seinem Ideenreichtum geworden. Mit Freunden tüftelte er an einem Ätzverfahren für die Entwicklung von Mikrochips, dessen Entwicklungspotential gewaltig schien. Es wurde aber nichts daraus, der große materielle Erfolg blieb aus. Allein für den Traum von der ganz großen Erfindung hat es sich gelohnt.
Seine Stellung bei Siemens war ihm sicher; so konnte er, wiederum gemeinsam mit anderen, die Aikido-Trainingsetage in der Steglitzer Rheinstraße aufbauen und betreiben. Noch drei Tage vor seinem Tod hat er dort Schüler in der Kunst des angriffslosen Kampfes unterrichtet. Jörg Machel
Dorotheenstädtisch-Friedrichswerderscher Friedhof an der Chausseestraße in Berlin-Mitte. Foto: Doris Spiekermann-Klaas