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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Typisch Inge: Ging den Kindern das Rad kaputt, flickte sie den Reifen. Fehlte Brennholz, hackte sie welches

Nachruf auf Ingeborg Austilat. (Geb. 1925)
Sie lebte drei Leben. Eins als Mädchen, auf sich gestellt. Eins als Hausfrau, abhängig vom Mann. Eins in Freiheit, bis zum Ende. Drei Leben, keine Übergänge, von heute auf morgen alles auf Anfang. Es begann in Neukölln.
Inge war vier Jahre alt, da starb die Mutter. Der Vater, ein Schneider, zog sie und die ältere Schwester Eva allein groß. Sie machte die Ausbildung zur Kontoristin bei Wertheim am Leipziger Platz, damals das größte Kaufhaus Berlins, größer als das KaDeWe. Mann, war das gigantisch, sie erzählte lange von den Dimensionen.
Harry baggerte um Eva, im Frühjahr 1941 war das. Aber Harry wurde Soldat, und von einem Soldaten wollte Eva nix. Sie schickte Inge zum Treffpunkt am U-Bahnhof, die war damals noch 15. Inge und Harry verliebten sich, oder so ähnlich, sie kannten sich ja nur ein paar Tage, Harry war 19 und musste in den Krieg. Auch Inges Vater wurde eingezogen. Blieb ihr nur die Eva, zwei Mädchen allein in Berlin, sie wohnten inzwischen in der Gneisenaustraße. Eine Bombe nahm ihnen das Wohnhaus, eine andere traf Wertheim. Als Kreuzberg brannte, weinte Inge. Eva sagte: „Was weinste denn, wir haben doch uns!“
Der Angriff auf Russland, später Italien. Was Harry im Krieg erlebte, davon erfuhr Inge wenig. Schön waren die Tage, wenn er kurz nach Berlin durfte. Aber auch seltsam. Auf einmal war da ein Mann in ihrem Leben. Brutto kannten sie sich drei Jahre, netto drei Wochen, als sie 1944 heirateten. Typische Kriegsheirat. Er bekam vier Tage Heimaturlaub, für das Erinnerungsfoto trug er die helle Sommeruniform aus dem Italien-Krieg. Sie erinnerte sich nach Jahren vor allem an eines: Während der Fotograf noch knipste, wurde der Voralarm ausgelöst.
Warten auf Harry, der in Italien in Gefangenschaft geriet. Totaler Krieg 1945, sie musste in die Produktion, Montage am Flughafen Tempelhof. Die Russen im Anmarsch, da traf Inge einen Ingenieur. Der sagte: Sei nicht blöd, ich bring uns hier raus, dich und mich, Harry wird nicht wiederkommen. Ingeborg sagte Nein. Die Russen kamen und Inge versteckte sich unter Kohlebergen. Sie hörte die laut surrenden Dynamolampen der Soldaten oft beängstigend nah, gefunden hat sie nie einer.
Weihnachten 1946. Plötzlich stand Harry da - und aus Inge, dem Mädchen, das sich so durchzuschlagen gewusst hatte, allein und unabhängig, wurde Inge, die Ehefrau.
Der erste Sohn, Michael, starb im Blockadewinter 1948/49 im Krankenhaus. Erstickte, während der Strom ausfiel. Polizisten überbrachten Inge die Nachricht vom Tod. Drinnen trauerte sie, draußen sperrte die Sowjetunion die Wege nach West-Berlin, flogen die Rosinenbomber. Schon 1950 bekam sie ihr zweites Kind, Stephan. Eine Wohnung fand die junge Familie nicht, sie lebten bei den Schwiegereltern, die ein Auge hatten auf sie. Erst als 1956 das dritte Kind auf dem Weg war, Andreas, zogen sie aus. Inge war da schon 31 Jahre alt.
Während Inges Schwester Eva ungebunden blieb, mal einen Piloten zum Freund hatte und mal nach Amerika oder Australien reiste, blieb Inge zu Hause und umsorgte die Söhne. Warm war es dort. Typisch Inge: Zuerst kamen die Kinder, dann sie selbst. Sie war praktischer veranlagt als Harry. Ging den Kindern das Fahrrad kaputt, flickte Inge den Reifen. Fehlte Brennholz, hackte sie welches. Geld verdiente sie keines mehr, sie war jetzt abhängig von Harry. Das würde funktionieren, dachte Inge, wenn alles immer so blieb, wie es war.
Über den Krieg redeten weder Inge noch Harry groß, gemeinsam sahen sie die Samstagabendshows, reisten nach Dänemark und einmal mit dem Flieger nach Gran Canaria. Sündhaft teuer war das, aber auch eine einmalige Sache.
Was dann geschah, begründete Harry später gegenüber seinem Sohn Andreas damit, dass er seine ganze Jugend verpasst habe. Dass er nachholen wollte, was man ihm genommen hatte. „Aber Mutti hatte doch auch keine Jugend“, protestierte Andreas. Harry ging nicht darauf ein. Er verliebte sich neu, sie war jünger als Inge, 1971 ließen Harry und Inge sich scheiden. Sie wollte das erst nicht, schließlich sah sie ein, dass es so nicht weiterging.
46 Jahre alt, geschieden, arbeitslos. Die Ausbildung zur Kontoristin bei Wertheim war inzwischen wertlos geworden. Das Nichts, vor dem Inge stand, war ein großes Nichts. Und was machte sie draus? Schloss eine Ausbildung zur Buchhalterin ab, bewarb sich bei einer Steuerberatungsfirma und wurde dort zur Seele des Betriebs. Bilder von Firmenfeiern zeigen sie lachend inmitten ihrer neuen Kollegen. Privat zog sie um, in eine Zweizimmerwohnung nach Lichtenrade mit Blick über die Mauer nach Brandenburg. Eines Tages klingelte das Telefon. Ein Mann aus Stuttgart, Ingenieur. Ob sie ihn erkenne? Er sei der Mann von damals, Flughafen Tempelhof, die Russen, der sie rausbringen wollte aus der Stadt. Er sei noch immer alleinstehend und würde sich freuen, wenn sie nach Stuttgart führe zu ihm. Tat sie, wohnte eine Woche bei ihm im großen Haus - und beschloss, dass das nicht ihr Leben sei. Ging zurück nach Berlin und sprach nicht mehr darüber.
Stattdessen traf sie im Aufzug ihres Zehngeschossers einen anderen Kerl. Der sagte: „Ich heiße Keller und wohne unterm Dach.“ Inge verliebte sich in diesen Keller, Heinz mit Vornamen, gemeinsam tanzten sie, gärtnerten vor ihrer Laube und machten mit bei der Bürgerinitiative zum Erhalt des Lichtenrader Volksparks. Ob sie mit ihm zusammenziehen wolle?, fragte Heinz Keller. Das nicht, nie mehr, sagte Inge. Sie blieben ein Paar mit zwei Wohnungen.
Ab 20 Jahren Zugehörigkeit zahlte Inges Betrieb eine kleine Rente. Inge arbeitete bis sie 67 war und bekam diese. Bei der Hochzeit ihres jüngsten Sohnes sagte der Vater der Braut: „Inge, du hast jetzt eine neue Tochter.“ Und Inge sagte: „Ja, mit Inhalt!“ Sie war so leidenschaftlich Oma, wie sie Mutter gewesen war. Sie fuhr Fahrrad, noch in ihren Achtzigern, auch wenn es regnete, dann eben einhändig und links in der Hand der Schirm. Wie Mary Poppins, dachten die Kinder.
Am Ende vergaß Inge, wo der Haustürschlüssel lag. Manchmal lief sie in die Brandenburger Weite und fand nicht heim, dann mussten die Kinder sie suchen. Eine Herz-OP verlief zwar gut, aber die Narkose machte ihr zu schaffen. Ihre kleine Wohnung, die musste sie nun aufgeben. Sie wurde schwächer, im Heim sagten die Pfleger, sie müsste längst tot sein, aber Inge hielt durch, vier Jahre lang. Sie starb mit 93 Jahren, eine Frau, deren Leben so typisch für das 20. Jahrhundert gewesen war. Marius Buhl
St. Thomas-Kirchhof in der Hermannstraße in Berlin-Neukölln.Foto: Doris Spiekermann-Klaas