Er war kein Skizzenblock-Typ, der lange grübelte. Ran ans Bild, die Uhr gestellt, und nach ein paar Stunden sollte es auch fertig sein
Nachruf auf Michael Lachmund. (Geb. 1941)
Sein Vater, ein Studienrat, war hilflos. Seine Mutter, eine Hausfrau, war untröstlich. Was sollte nur aus ihrem Jungen werden? Kein Interesse an der Schule. Noten, Leistungen, Zukunft, all das schien Michael egal zu sein. Ein Mittlerer war er, ältere Schwester, jüngerer Bruder, und beide waren anders, so strebsam, so ernst mit dem Leben beschäftigt. Michael nicht. Michael war lieber draußen, in jeder freien Minute stromerte er mit Freunden durch die Straßen, führte die Bande in neue Abenteuer rund um den Nollendorfplatz.
Ja, er führte, denn das war er auch: einer der sagt, wo es lang geht.
Rein in die Ruinen, hinab in dunkle Keller, hinauf auf Trümmerberge. Sie bewarfen sich mit Steinen, jagten immer tiefer in die zerstörte Häuserlandschaft. Einmal fand er eine Pistole, die gab er aber bei der Polizei ab. Ein anderes Mal fand er eine Leiche.
„Wir waren Straßenkinder“, sagte er später, und es klang stolz. Kam er zu spät nach Hause, gab es Prügel. War er frech, gab es Prügel. Vielleicht wusste sich der Vater in seiner Sorge nicht anders zu helfen. Er war im Krieg gewesen und dann in Kriegsgefangenschaft.
Michael war alles andere als doof. Lesen interessierte ihn. Also lernte er es, noch bevor er in die Schule kam. Malen mochte er auch, seine Bilder waren immer die besten, das mit dem Eisläufer mit wehendem Schal zum Beispiel. Sein Lehrer lobte Michael für die Farbgebung, die Komposition. Rechnen interessierte ihn nicht. Biologie, Chemie, Physik und all die anderen wichtigen Fächer auch nicht. Also lernte er dafür nicht. So einfach war das. Und so schwer zu begreifen für seinen Vater.
Mit 14 musste Michael dann mit Knickerbockern in die Friseurlehre. Sein erster und einziger Job in den ersten Monaten war das Haarewaschen, und seine Kundinnen waren alte Damen mit Warzen auf dem Kopf. Nichts für einen jungen Kerl wie ihn.
Mit Ach und Krach hat er noch den Realschulabschluss bestanden, danach scheiterte er als Trompeter. Dann kam die Elektrikerlehre. Seine Kollegen hänselten ihn, dafür warf er einen von ihnen in die Zementgrube, dann war Ruhe. Sein Ausbilder war erstaunt; hätte nicht gedacht, dass Michael durch die Matheprüfung kommen würde. Und nicht nur das. Er brachte die ganze Lehre zu Ende.
Zu Hause keine Reaktion. Bestanden, schön und gut, ist ja nur eine Lehre. Also machte Michael sich davon, heuerte auf einem Schiff an, raus in die weite Welt. Und wieder nichts: Als Bordelektriker bleibt man an Bord, wenn die anderen in die Häfen ausschwärmen. Der Bordelektriker hatte keine Zeit für Matrosenromantik.
Vielleicht war es genau das: Wissen, was es bedeutet zu scheitern, keinen Platz zu finden. Vielleicht war es das, was die Jugendlichen spürten, und warum sie ihm vertrauten. Im geschlossenen Heim, als er seine Fürsorger-Ausbildung gemacht hatte, war Michael es, der durchsetzte, mit all diesen kriminellen Jugendlichen, mit den harten Kerlen, Schlägern und Halbstarken, jeden Morgen joggen zu gehen. Nur er und sie durch den Park. „Mach“, sagten seine Vorgesetzten, „aber wenn einer fehlt, wenn was passiert, dann bist du schuld.“ Es passierte nichts.
Michael konnte erfassen, was sein Gegenüber fühlte, und konnte das im Gespräch auf den Punkt bringen. Da waren die Jugendlichen, da war der einsame Nachbar, mit dem niemand konnte, außer Michael. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaften, als er in Schulen ging und Projekte organisierte, inszenierte er mit rechten Jugendlichen ein Männerballett. Auf die Idee muss man erst mal kommen.
Mit 26 heiratete er seine erste Frau, Karin, eine Lehrerin. Nach ein paar Jahren trennten sie sich wieder, ohne Streit und in Freundschaft. Marianna, auch eine Lehrerin, lernte er kennen, da entwickelte er schon Konzepte für das „Pädagogische Zentrum“ in Berlin. Michael, der als Kind so wenig mit der Schule anfangen konnte, hatte es irgendwie mit der Schule. Er gab ein Seminar, und am Abschlussabend rettete er Marianna vor den Aufdringlichkeiten eines anderen Mannes.
Sie zogen zusammen, bauten aus, bauten um, richteten sich ein. Doch Michael war schon wieder im Aufbruch. Diesmal war es die Kunst, die ihn weitertrieb. Erst die Malerei, keine exakten Darstellungen, lieber vage Linien und Farbanordnungen. Er war kein Skizzenblock-Typ, der lange grübelte. Stattdessen: Ran ans Bild, die Uhr gestellt, und nach ein paar Stunden sollte es auch fertig sein.
Dann wurde es dreidimensional. Auf Müllkippen und in Ruinen suchte Michael nach verwertbaren Teilen. Aus alten Fahrrädern baute er eine Pyramide. Auf rostige Ölfassdeckel schweißte er Schrauben, Stangen und Federn, fertig waren die Totems, die er in einen Baum hängte. Meistens waren es Teile, die einst beweglich gewesen waren, die setzte er zu neuen, ganz anders beweglichen Kombinationen zusammen. Ausreichend Platz für Werkstatt, Material und Ideen fand er in Südfrankreich, ein altes Gehöft, das er ausbauen ließ. Da zog er hin, stöberte in der Gegend herum und verkaufte auf dem Trödel neu gemachtes Altes.
Günstig, dass seine Frau weiterhin ihr Lehrerinnengehalt verdiente. In den Ferien kam sie ihn besuchen, das war schön. Dann war's aber auch wieder genug. Michael konnte wirklich sehr bestimmend sein, da brauchte sie ihre Auszeiten.
Nach ein paar Jahren hatte er auch von Frankreich genug, kehrte heim und baute sich gleich wieder ein neues Domizil auf. Diesmal in einem Dorf in der Wustermark, südöstlich von Berlin. Da kam er an, wurde auch gleich Teil des Heimatvereins, lud die Nachbarn in sein Atelier ein, eröffnete eine Ausstellung nach der anderen. Seine Energie war ansteckend, die Wustermarker kamen gut mit ihm und seinen verrückten Skulpturen zurecht.
Als er dann im Krankenhaus lag mit Krebs in der Lunge, als sie ihm schon gesagt hatten, dass es keine Heilung mehr gäbe, organisierte Marianna einen Krankenwagen, der ihn noch einmal in die Wustermark zu seinen Skulpturen brachte. Und alle Nachbarn kamen, um sich zu verabschieden. Am 6. Oktober 2018 ist er gestorben. Karl Grünberg
Friedhof Biesdorf am Friedhofsweg in Berlin-Biesdorf. Foto: Doris Spiekermann-Klaas
Ja, er führte, denn das war er auch: einer der sagt, wo es lang geht.
Rein in die Ruinen, hinab in dunkle Keller, hinauf auf Trümmerberge. Sie bewarfen sich mit Steinen, jagten immer tiefer in die zerstörte Häuserlandschaft. Einmal fand er eine Pistole, die gab er aber bei der Polizei ab. Ein anderes Mal fand er eine Leiche.
„Wir waren Straßenkinder“, sagte er später, und es klang stolz. Kam er zu spät nach Hause, gab es Prügel. War er frech, gab es Prügel. Vielleicht wusste sich der Vater in seiner Sorge nicht anders zu helfen. Er war im Krieg gewesen und dann in Kriegsgefangenschaft.
Michael war alles andere als doof. Lesen interessierte ihn. Also lernte er es, noch bevor er in die Schule kam. Malen mochte er auch, seine Bilder waren immer die besten, das mit dem Eisläufer mit wehendem Schal zum Beispiel. Sein Lehrer lobte Michael für die Farbgebung, die Komposition. Rechnen interessierte ihn nicht. Biologie, Chemie, Physik und all die anderen wichtigen Fächer auch nicht. Also lernte er dafür nicht. So einfach war das. Und so schwer zu begreifen für seinen Vater.
Mit 14 musste Michael dann mit Knickerbockern in die Friseurlehre. Sein erster und einziger Job in den ersten Monaten war das Haarewaschen, und seine Kundinnen waren alte Damen mit Warzen auf dem Kopf. Nichts für einen jungen Kerl wie ihn.
Mit Ach und Krach hat er noch den Realschulabschluss bestanden, danach scheiterte er als Trompeter. Dann kam die Elektrikerlehre. Seine Kollegen hänselten ihn, dafür warf er einen von ihnen in die Zementgrube, dann war Ruhe. Sein Ausbilder war erstaunt; hätte nicht gedacht, dass Michael durch die Matheprüfung kommen würde. Und nicht nur das. Er brachte die ganze Lehre zu Ende.
Zu Hause keine Reaktion. Bestanden, schön und gut, ist ja nur eine Lehre. Also machte Michael sich davon, heuerte auf einem Schiff an, raus in die weite Welt. Und wieder nichts: Als Bordelektriker bleibt man an Bord, wenn die anderen in die Häfen ausschwärmen. Der Bordelektriker hatte keine Zeit für Matrosenromantik.
Vielleicht war es genau das: Wissen, was es bedeutet zu scheitern, keinen Platz zu finden. Vielleicht war es das, was die Jugendlichen spürten, und warum sie ihm vertrauten. Im geschlossenen Heim, als er seine Fürsorger-Ausbildung gemacht hatte, war Michael es, der durchsetzte, mit all diesen kriminellen Jugendlichen, mit den harten Kerlen, Schlägern und Halbstarken, jeden Morgen joggen zu gehen. Nur er und sie durch den Park. „Mach“, sagten seine Vorgesetzten, „aber wenn einer fehlt, wenn was passiert, dann bist du schuld.“ Es passierte nichts.
Michael konnte erfassen, was sein Gegenüber fühlte, und konnte das im Gespräch auf den Punkt bringen. Da waren die Jugendlichen, da war der einsame Nachbar, mit dem niemand konnte, außer Michael. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaften, als er in Schulen ging und Projekte organisierte, inszenierte er mit rechten Jugendlichen ein Männerballett. Auf die Idee muss man erst mal kommen.
Mit 26 heiratete er seine erste Frau, Karin, eine Lehrerin. Nach ein paar Jahren trennten sie sich wieder, ohne Streit und in Freundschaft. Marianna, auch eine Lehrerin, lernte er kennen, da entwickelte er schon Konzepte für das „Pädagogische Zentrum“ in Berlin. Michael, der als Kind so wenig mit der Schule anfangen konnte, hatte es irgendwie mit der Schule. Er gab ein Seminar, und am Abschlussabend rettete er Marianna vor den Aufdringlichkeiten eines anderen Mannes.
Sie zogen zusammen, bauten aus, bauten um, richteten sich ein. Doch Michael war schon wieder im Aufbruch. Diesmal war es die Kunst, die ihn weitertrieb. Erst die Malerei, keine exakten Darstellungen, lieber vage Linien und Farbanordnungen. Er war kein Skizzenblock-Typ, der lange grübelte. Stattdessen: Ran ans Bild, die Uhr gestellt, und nach ein paar Stunden sollte es auch fertig sein.
Dann wurde es dreidimensional. Auf Müllkippen und in Ruinen suchte Michael nach verwertbaren Teilen. Aus alten Fahrrädern baute er eine Pyramide. Auf rostige Ölfassdeckel schweißte er Schrauben, Stangen und Federn, fertig waren die Totems, die er in einen Baum hängte. Meistens waren es Teile, die einst beweglich gewesen waren, die setzte er zu neuen, ganz anders beweglichen Kombinationen zusammen. Ausreichend Platz für Werkstatt, Material und Ideen fand er in Südfrankreich, ein altes Gehöft, das er ausbauen ließ. Da zog er hin, stöberte in der Gegend herum und verkaufte auf dem Trödel neu gemachtes Altes.
Günstig, dass seine Frau weiterhin ihr Lehrerinnengehalt verdiente. In den Ferien kam sie ihn besuchen, das war schön. Dann war's aber auch wieder genug. Michael konnte wirklich sehr bestimmend sein, da brauchte sie ihre Auszeiten.
Nach ein paar Jahren hatte er auch von Frankreich genug, kehrte heim und baute sich gleich wieder ein neues Domizil auf. Diesmal in einem Dorf in der Wustermark, südöstlich von Berlin. Da kam er an, wurde auch gleich Teil des Heimatvereins, lud die Nachbarn in sein Atelier ein, eröffnete eine Ausstellung nach der anderen. Seine Energie war ansteckend, die Wustermarker kamen gut mit ihm und seinen verrückten Skulpturen zurecht.
Als er dann im Krankenhaus lag mit Krebs in der Lunge, als sie ihm schon gesagt hatten, dass es keine Heilung mehr gäbe, organisierte Marianna einen Krankenwagen, der ihn noch einmal in die Wustermark zu seinen Skulpturen brachte. Und alle Nachbarn kamen, um sich zu verabschieden. Am 6. Oktober 2018 ist er gestorben. Karl Grünberg
Friedhof Biesdorf am Friedhofsweg in Berlin-Biesdorf. Foto: Doris Spiekermann-Klaas