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Kai Sender
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Schwer genug, seine eigenen Erwartungen zu erfüllen, da kann man sich nicht noch um die Erwartungen anderer kümmern

Nachruf auf Michael Frentzel (Geb. 1946)
Ja, er hatte sich seinen Sohn anders vorgestellt. Wie, hätte der bekannte Journalist des RIAS Heinz Frentzel wohl auch nicht sagen können, aber anders. Geistiger vielleicht. Wirkte dieser Junge nicht irgendwie bäuerisch, naiv? Heinz Frentzel zählte die Bauern nicht zur Kernträgerschaft der abendländischen Bildung. Michael ist ein kleines Kind, wird die Mutter dem Vater erklärt haben, kleine Kinder sehen fast immer bäuerisch aus, also eher rundlich, zumindest haben sie keine scharfen Asketengesichter. Egal wie, das Auge des Vaters ruhte nie mit Wärme, mit Wohlwollen auf diesem Sohn.
Man sagt, dass Gott die Menschen annimmt, wie sie sind. Eltern aber sind die legitimen Stellvertreter Gottes auf Erden, was besonders wichtig ist für den Fall, dass er gar nicht existiert. Eltern sollten jedem Erdneuling versichern: Du bist angenommen!
Eben diese Botschaft entnahm Michael Frentzel nie dem väterlichen Verhalten. Die 14 Monate ältere Schwester Barbara und die 14 Monate jüngere Brigitte hatten es besser, außerdem waren sie Mädchen, ihre Beweislast war geringer. Obwohl Barbara schon beinahe unanständig schlau war. Der Satz „Nimm dir ein Beispiel an deiner großen Schwester!“ verweist gewöhnlich auf Fleiß und Folgsamkeit, die typischen Mädchentugenden. Diese Schwester sollte dem Bruder auch noch intellektuell überlegen sein! Der Junge prüfte seine Möglichkeiten. Er könnte versuchen, dem Vater zu gefallen. Aber wäre das nicht die Reaktionsweise von Sklaven? Wer sich ein Beispiel nimmt an seiner großen Schwester, ist verloren. Ohne je eine Zeile Nietzsche gelesen zu haben, folgte Michael Frentzel schon in früher Kindheit statt seiner großen Schwester dem Philosophen nach: Werde, der du bist! Seine besondere Herausforderung gewann dieses Programm durch den Umstand, dass sein noch junger Vater im Krieg Kommandant eines Panzerzugs in Serbien gewesen war und die Familie auf irgendeine Weise für den Spezialfall eines Panzerzugs hielt.
Michael hingegen wusste, dass es schon schwer genug ist, seine eigenen Erwartungen zu erfüllen, da kann man sich nicht noch um die Erwartungen anderer kümmern. Nicht nur sein Vater, auch das West-Berliner Schulsystem der 50er Jahre waren auf kleine Nietzscheaner nicht vorbereitet. Was Nietzsche „die Unschuld des Werdens“ nannte, nannten die Lehrer „pädagogische Unzugänglichkeit" oder gleich „nicht erziehbar“. Mit Rücksicht auf die Familie, insbesondere auf den Namen des Vaters, baten die Schulen die Eltern, das wilde Kind von ihrer BiIdungseinrichtung zu nehmen, bevor sie selbst es fortschicken mussten. Die Schule optimiert das Mittelmaß, wusste der missliche Schüler, er zählte sich nicht zur Zielgruppe.
Ich hab's gewusst. Aus dem Jungen wird nie was! Der Vater musste den Satz nicht einmal mehr aussprechen. Es gibt nicht bloß stationäre Mauern, die alle Menschen meinen. Es gibt auch mobile, die nur zwischen zwei Menschen stehen und überall sind, wo sie sich begegnen.
Wer seinem eigenen Stern folgt, muss natürlich im Zweifelsfall mehr wissen als andere, das war Michael Frentzel klar. Vielleicht deshalb saß schon der Elfjährige am Strand von Sankt Peter-Ording mit einer überaus eigenwilligen Lektüre. Alle Kinder ringsum lagen auf dem Bauch und blätterten in bunten Heften oder in Jugendbüchern. Michael Frentzel aber lag nicht, er saß mit gekreuzten Beinen und studierte den Tagesspiegel, von der ersten bis zur letzten Seite. Es war eine Kinderlandverschickung. Berliner Jungen und Mädchen sollten mal etwas anderes atmen als Berliner Luft. Michael würde dieses erste Mal Nordsee nie vergessen und immer wieder kommen, fast jedes Jahr, bis zuletzt.
Und so lange die Nordsee Michael Frentzel an ihrem Strand beobachten konnte, also mehr als ein halbes Jahrhundert lang, hat sie ihn nicht einen einzigen Roman oder ein buntes Heft lesen sehen. Michael Frentzel hat nie verstanden, wie die Menschen erfundenen Geschichten den Vorzug geben vor denen, die die Meistererzählerin, das Leben, selber schreibt. Also Sachbücher, politische Biografien, den Tagesspiegel und den „Spiegel“ natürlich.
Der „Spiegel“ kam immer montags. Und immer montags, wenn „die freie Stimme der freien Welt“, der Ausnahmejournalist Heinz Frentzel nach Hause kam, war der „Spiegel“ weg. Vorsichtshalber war Michael meist auch gleich weg. Alle Mitglieder des Hauses Frentzel gingen leicht geduckt, der allmontägliche Spiegelkrach hatte begonnen, und jeder wusste, wie er ausgeht: Bevor Michael das Magazin nicht von Anfang bis Ende gelesen hatte, würde es nicht mehr auftauchen. Man muss Prioritäten setzen. Dafür nahm er jede Sanktion hin. Der frühere Panzerzugkommandant Heinz Frentzel würde es in seinem eigenen Haus niemals weiter als bis zum Zweitleser des „Spiegel“ bringen.
Trotz dieser Demütigung nötigte der politische Bildungseifer des Sohnes seinem Vater Anerkennung ab. Und als John F. Kennedy Berlin besuchte und Heinz Frentzel ihn begleitete, durfte sein Sohn mitkommen. Diese Auszeichnung würde er nie vergessen, sie blieb singulär.
Leider war Michael Frentzel zu diesem Zeitpunkt schon von der „Schulfarm Scharfenberg“ im Tegeler See exkludiert worden, der allerletzten Chance für Kinder, die ihre letzte schon verspielt hatten. Es war wohl ein brennender Mülleimer. Der „Spiegel“-Leser wollte doch nur die Vermutung seiner Mitschüler entkräften: „Das traust du dich nicht.“
Das Leben liegt noch vor dir, pflegt man jungen Leuten zu sagen. Es liegt hinter dir, las er in den Augen des Vaters, der nicht vorhatte, das weitere Leben eines Taugenichts zu finanzieren. Michael Frentzels Mutter aber machte Pläne.
Die meisten misslangen. Für Menschen mit geringerem Schulabschluss sieht das Leben eher dienende Tätigkeiten vor, aber für dienende Tätigkeiten war der Selbsthervorbringer Michael Frentzel vollkommen unbegabt. Sollte er Männern ohne Geschmack oder mit dem falschen Geschmack Herrenoberbekleidung verkaufen, gar noch unter Observanz ihrer Ehefrauen? Dann hatte Liselotte Frentzel die entscheidende Idee: Steuerberaterfachgehilfe!
Michael Frentzel mochte Zahlen, und die Zahlen mochten ihn. Fast immer stellten sie sich in seinem Kopf sofort in der richtigen Reihenfolge auf, außerdem handelte es sich um einen der ältesten, ehrwürdigsten Berufe überhaupt, ohne den kein höheres Gemeinwesen existiert. Nehmen wir etwa die Ersterwähnung Berlins. Niemand hat es für nötig gehalten, die Gründung dieser Stadt zu dokumentieren. Ihre Existenz wurde beiläufig anlässlich eines Steuerstreits erwähnt, das war am 28. Oktober 1237. „Symeon, plebanus de Colonia“ stand da, „Symeon, Probst zu Cölln“, Zeuge des Steuerstreits. Somit stand am Beginn von Berlins überlieferter Geschichte ein Steuerberater. Von Journalisten dagegen, diesen Eintagsfliegen, würde noch jahrhundertelang kein Mensch etwas wissen. Michael Frentzels Ehrgeiz war geweckt.
Seinem Arbeitgeber machte er nie Illusionen. Von der noch fast unentdeckten Insel Bali rief er am Ende eines sehr langen Urlaubs in der Kanzlei an. Er könne jetzt noch nicht zurückkehren, er habe das Bali-Fieber, bleibe also da, und arbeite nachher für drei. Die Kanzlei wagte nicht zu widersprechen, sie hätte riskiert, einen ihrer besten Mitarbeiter zu verlieren.
Der RIAS-Journalist Heinz Frentzel sah sich bald einem ausnehmend gut gekleideten jungen Mann gegenüber, an dem längst nichts mehr rundlich war. Seit wann sind Versager wohlhabend und fahren einen Austin-Healey? Seit wann holen Versager ihr Abitur nach, schaffen die Prüfung zum Steuerberater im ersten Anlauf und eröffnen ihre eigene Kanzlei? Dieser würde einmal Architekten wie Norman Foster oder Daniel Libeskind beraten.
Diese Berufsgruppe war Michael Frentzel nah, vielleicht lag es an der Mischung von Fantasie und Präzision. Das ist nicht anders als beim Steuerberater. Kaum einer konnte so unterhaltsam über das Steuerrecht referieren wie Michael Frentzel, und sein Repertoire war groß. Es gab wenig Dinge auf Erden, die es dauerhaft schafften, sich seiner Kenntnis zu entziehen. Bald bestand der Unterschied zwischen ihm und seinem Vater vor allem darin, dass er genauso gut Journalist hätte werden können, der Vater aber nicht Steuerberater.
Und wie anders er lebte. Meine Familie muss Selbstbeschränkung lernen, hatte Heinz Frentzel geglaubt, weshalb sie trotz seines Verdienstes in der kleinstmöglichen Wohnung lebten. Michael Frentzel widmete sein Leben der Kunst der Selbstentschränkung.
Schon Geschmack ist eine Form der Selbstentschränkung. Er ist eine Form des Wissens, er ist die Kunst der Nuance. Das Leben ist viel zu kurz, um es nicht zu genießen. Viel zu kurz, um nicht liebevoll und nicht dankbar zu sein. Davon wusste der Vater fast nichts. Brigitte aber, die Frau an Michael Frenzels Seite, erfuhr es beinahe 40 Jahre lang.
Es war auf der Bergkirchweih zu Erlangen, ein Fest der etwas derberen Art. Vielleicht wusste er selbst nicht recht, was er dort verloren hatte. Er sah die junge Frau über den Rand seines Bierglases an. Eine Erlanger Architekturstudentin, wahrscheinlich ein Fall wie seine große Schwester. Und wer hatte je von einem weiblichen Architekten gehört? Doch sein Argwohn zerstob: Sie hatte zwar Abitur, aber dumm war sie nicht. Gegenüber dieser schönen, mädchenhaften Architekturstudentin mit dem messerscharfen Verstand wurde er ganz sanft. Sie verabredeten ihr Leben: Bloß keine konventionelle Familie, Eltern sind fast immer eine Enttäuschung für ihre Kinder. Dafür größtmögliche gemeinsame Freiheit, Abenteuer und Genuss. Noch nach Jahrzehnten konnte es geschehen, dass er seine Frau morgens mit einem Gedicht weckte.
Andere Paare machen vergleichbare Pläne, um sie irgendwann unter der Rubrik „Nicht dauerhaft zu verwirklichen“ abzulegen. Diese beiden nicht. Mut, Risiko- und Entbehrungsbereitschaft gehörten dazu. Entdecker buchen niemals Pauschalreisen. Michael und Brigitte fuhren in den überfüllten Eisenbahnen Indiens, oder Michael Frentzel hing mit Einheimischen außen an einem Überlandbus, während seine Frau drinnen saß, ein fremdes Kleinkind im Arm. Er konnte sich internationalen Stararchitekten ebenso verständlich machen wie den Fischern am Strand von Goa, als die noch nie einen Touristen gesehen hatten. Gepäck macht unflexibel, also reisten die Frentzels mit Kleinstkoffer. Unentbehrlich aber war darin, was andere zuerst ausgepackt hätten: der Morgenmantel. Denn das Leben ist eine Stilfrage, selbst noch dort, wo es fast schon zur Natur zurückgekehrt ist, also an einen Punkt, an dem die Evolution die Erschaffung des Steuerberaters noch lange nicht vorgesehen hat.
Michael Frentzel vertrat immer die Auffassung, dass der Mensch nur das tun sollte, was er wirklich kann. Er wusste, dass er nie so gut kochen würde, wie er essen wollte, also fing er gar nicht erst an. Seine Frau konnte es, und er fand immer neue Worte der Bewunderung. Fantasie und Präzision, auch hier. Er verbalisierte, was sie gekocht hatte, und seine Maßstäbe waren hoch, denn Michael Frentzel überprüfte in den Restaurants dieser Welt gewissenhaft, ob die Empfehlungen der Gourmet-Magazine zu Recht bestanden.
Das Aufhören liegt nicht im Wesen des Genusses, es lag nicht in dem seinen. Da ist zu viel Tod drin, sagte er seiner Schwester über Leonard Cohens letzte CD „You Want It Darker“. Überhaupt war dieser kanadische Aufhörer noch nie durch vorsätzliche Weltbejahung aufgefallen. Aber das „I'm leaving the table“ ging ihm nah.
Es war ein Freitag, kurz vor der nächsten Reise, als er ein starkes Unwohlsein spürte. Michael Frentzel hatte gerade beschlossen, nur noch sechs Tage in der Woche zu arbeiten. Und er hatte kurz zuvor seine Kanzlei übergeben. Die Ärzte diagnostizierten Hepatitis E. Weder er noch seine Frau hatten gewusst, dass es die überhaupt gab. Zur Existenzweise des Patienten, das wusste Michael Frentzel, besaß er kein Talent, von weitergehenden Entmächtigungen nicht zu reden. An einem Sonntag sagte er seiner Frau, vollkommen gefasst: „Heute Abend werde ich sterben.“ Er schloss die Augen, das Koma währte nur wenige Tage.
„I'm leaving the table.“ Am Tag nach seinem Tod stand im Tagesspiegel, dass das „Frantzen“ in Stockholm das höchstwahrscheinlich beste Restaurant der Welt ist. Für Augenblicke dachten die Menschen, denen er am nächsten war: Hätte er das gewusst, er wäre noch nicht vom Tisch aufgestanden. Erst im weltbesten Restaurant essen und dann gehen, das wäre seine Reihenfolge gewesen. Kerstin Decker
Jüdischer Friedhof an der Herbert-Baum-Straße in Berlin-Weißensee. Foto: Doris Spiekermann-Klaas