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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Ordnung und Schönheit für ein Leben, das oft weder froh noch schön war

Nachruf auf Ursula Crênzien (Geb. 1927)
Sie brauchte die Gesellschaft. Eine Stimme in der Wohnung, die nicht die eigene ist. Mit jemandem reden, mehr als das gelegentliche „Hallo“ mit den Nachbarn. Und sie brauchte das Geld, denn ihre Rente lag nur wenig über dem Existenzminimum. Das, was sie am liebsten tat, konnte sie sich kaum mehr leisten: reisen. Wenn es ihr gelungen war, etwas zusammenzusparen, ging sie zum ZOB, dem Zentralen Omnibusbahnhof, fragte am Schalter, für welche Strecke es noch ein günstiges Ticket gab und fuhr einfach los. Irgendwo hin, am liebsten in eine Stadt, die sie noch nicht kannte. Dort blieb sie dann einen Tag oder zwei, schaute sich alles an und fuhr wieder zurück. Teilhaben, Abenteuer erleben, und seien sie noch so kurz und bescheiden.
Weil sie das Geld brauchte und die Gesellschaft, ließ sie tageweise Fremde bei sich wohnen. Ihr Schlafzimmer war das Gästezimmer, sie selbst schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer. Den Gästen bereitete sie das Frühstück, und immer freute sie sich über einen Plausch. Mal waren es Lastwagenfahrer, die zwischendurch ein richtiges Bett unterm Rücken spüren wollten. Mal waren es Berlinbesucher, die es persönlicher haben wollten als im Hotel.
Sauber und ordentlich war es natürlich bei ihr. Alles hatte seinen Platz, für was es keine Verwendung mehr gab, wurde fortgeräumt. Einmal im Jahr schaute sie alle Papiere durch und warf weg, was sie nicht mehr brauchte. Farbenfroh war ihre Welt, die Wände orange, die Gardinen gelb. Sie selber machte sich immer schick, trug „etwas Farbe auf die Fassade“, setzte sich einen Hut auf, zog sich einen Mantel an, auch wenn sie nur den Mülleimer runtertrug. Ordnung und Schönheit für ein Leben, das oft weder froh noch schön gewesen war.
Dreimal war sie verheiratet. Das erste Mal mit 16, der Mann hätte ihr Vater sein können. Um Liebe ging es da nicht. Es ging darum, sie aus dem Haus zu haben, einen Esser weniger. Und das, nachdem sie ihre Halbgeschwister mit großgezogen und kaum eine eigene Kindheit gehabt hatte. Vielleicht legte sich hier diese Spur in ihr Leben: Geben, großzügig sein und am Ende enttäuscht werden. Eine Ziehtochter, eine Freundin, immer wieder tauchten Menschen auf, derer sie sich annahm, denen sie Unterstützung, Lebenszeit und Geld gab, die sie aber ausnutzten und belasteten und am Ende keine Zeit mehr für sie hatten.
Für ihr Baby hatte sie keine Muttermilch, und Milchpulver gab es nicht, als der Krieg gerade vorbei war. Dünner und dünner wurde es. Sie konnte dabei zusehen, wie das Leben aus ihm entschwand, bis es starb. Ihr Mann kam aus dem Krieg nicht zurück. Sie war gerade 18.
In der Gastronomie arbeitete sie, viel und hart, lebte in der DDR, hatte einen langweiligen zweiten Ehemann, mehr berichtete sie nicht aus diesen Jahrzehnten. Der dritte Mann war ihre große Liebe. Es gibt ein Foto von der Hochzeit: zwei Menschen, denen man ihr Glück ansieht. Sie muss da schon an die 50 gewesen sein, er sieht aus wie Mitte 30. Er war Chorsänger und nahm sie auf jedes Konzert mit. Er hatte den Humor und sie die Zuversicht. Zusammen hatten sie Lust aufs Leben, bereisten die Sowjetrepubliken von der Krim bis an die Ostsee. Ein Glück, das nicht lange anhielt, 1992 starb er, zurück blieb Ursula mit ihren Erinnerungen und ein paar Fotoalben aus der glücklichsten Zeit ihres Lebens.
2010, eine Darmspiegelung schlug fehl, Ursula wurde zum Pflegefall und kam direkt vom Krankenhaus ins Heim. Da lag sie im Bett, hatte Schmerzen, ihr Zuhause verloren, ohne es nochmal gesehen zu haben. Und trotzdem kamen die Schwestern gerne zu ihr ins Zimmer, erzählten von ihren Sorgen, und Ursula verteilte ihre frohen Lebensratschläge.
Sieben Jahre lang versuchte sie, sich in Würde zu halten, trieb Gymnastik im Bett, las ein Buch nach dem anderen, ihr Zugang zur Welt.
Dann starb sie. Was von ihr blieb, kam in eine bescheidene Urne, die wurde in die Erde gelassen auf einer Wiese ohne Namensschild. Kein Hinweis mehr auf ihre Existenz. Sie wollte so gern neben ihrem Mann beerdigt werden, aber für derlei Sentimentalitäten hatte die gesetzliche Betreuerin keine Zeit. Ihre Halbgeschwister kamen nicht zur Beerdigung. Drei Menschen waren da, brachten Blumen und Erinnerungen, eine Schwester aus dem Heim, eine Dame in Grün, ehrenamtliche Besucherin von der Kirche, und eine Dame, die über Jahre immer wieder bei Ursula zu Gast gewesen war, und die für diesen Nachruf erzählt hat, was sie von der Frau wusste, von der sonst niemand mehr etwas weiß. Karl Grünberg